«Gut. Ich hatte gehofft, Bruder Sebbi und vielleicht auch Abtissin Wulfrun und Schwester Eafa noch vor dem Abendessen befragen zu können. Doch ich fürchte, dazu ist es jetzt wohl zu spät.»
«Sollten wir nicht versuchen, mehr über diesen Ronan Ragallach herauszufinden?» meinte Eadulf. «Bisher haben wir uns vor allem mit Wighards Gefolge, aber kaum mit dem Mann befaßt, dem vorgeworfen wird, ihn getötet zu haben.»
«Da Ronan Ragallach aus seinem Gefängnis geflohen ist, wäre das wohl auch schlecht möglich», erwiderte Fidelma trocken.
«Mir geht es nicht darum, Ronan zu befragen», sagte Eadulf. «Ich dachte eher, es wäre an der Zeit, uns den Ort anzusehen, wo er gearbeitet hat, und mit den Leuten dort zu sprechen.»
Fidelma war klar, daß Eadulf vollkommen recht hatte. Diesen Gesichtspunkt hatte sie übersehen.
«Soweit ich weiß, bekleidete er eine untergeordnete Stellung im munera peregrinitatis - dem Amt für fremdländische Angelegenheiten», warf Licinius erklärend ein.
Fidelma machte sich im stillen Vorwürfe. Sie hätte Ronan Ragallachs Arbeitsplatz längst berücksichtigen müssen.
«Dann», sagte sie mit betont ruhiger Stimme, «sollten wir uns dieses Amt mal etwas genauer anschauen.»
In dem officium, das der superista ihnen zur Verfügung gestellt hatte, hielt Eadulf auf seinen Tontafeln die wichtigsten Punkte der Befragung von Abt Puttoc und Bruder Eanred fest. Bei ihrer Rückkehr in den Palast hatten sie erfahren, daß das munera peregrinitatis, in dem Ronan Ragallach als scriptor beschäftigt gewesen war, zur Zeit geschlossen war und der Vorsteher beim cena, dem Abendessen, weilte.
Zu ihrem Verdruß hörte Fidelma, daß man für sie im Refektorium des Palasts keine Abendmahlzeit vorgesehen hatte, und so wurde Furius Licini-us ausgeschickt, um ihnen etwas zu essen und zu trinken zu besorgen, während Fidelma und Eadulf in ihr officium gingen. Fidelma verstaute die Sachen, die sie aus Ronans Zimmer mitgebracht hatte. Dann setzte sie sich und legte zwei kleine Gegenstände vor sich auf den Tisch, um sie voller Neugier zu betrachten: das Stück Sackleinen von dem Splitter an Eanreds Zimmertür und das abgerissene Stück Papyrus aus Ronans Kammer.
«Was sind das für Sachen?» wollte Eadulf wissen.
«Ich wünschte, ich könnte es Euch sagen», erwiderte Fidelma. «Wahrscheinlich haben sie mit unseren Ermittlungen gar nichts zu tun.»
«Ach, das Sackleinen.» Eadulf verzog das Gesicht. «Und das andere?»
Fidelma sah ihn entschuldigend an. «Tut mir leid, ich habe vergessen, es zu erwähnen. Ein Stück Papyrus, das ich in Ronans Zimmer auf dem Boden gefunden habe. Ich kann mir keinen Reim darauf machen.»
Sie reichte es Eadulf.
«Es ist Schrift drauf», bemerkte er.
«Ja. Ziemlich seltsame Hieroglyphen», seufzte Fidelma. «Ich habe keine Ahnung, was das für Zeichen sind.»
Eadulf lächelte breit. «Da kann ich Euch weiterhelfen. Das ist die Schrift der Araber - der Anhänger des Propheten Mohammed.»
Erstaunt sah Fidelma ihn an. «Woher wißt Ihr das?» fragte sie. «Seid Ihr dieser Sprache etwa kundig?»
Eadulf grinste selbstzufrieden. «Das kann ich leider nicht behaupten. Aber ich habe die Schriftzeichen schon bei meinem früheren Aufenthalt in Rom gesehen. Sie sind unverwechselbar, und ihre Formen haben sich mir tief eingeprägt. Es könnte sich höchstens um eine andere Sprache handeln, die sich der gleichen Schriftzeichen bedient, meiner Meinung nach steckt jedoch die Sprache der Araber dahinter.»
Nachdenklich betrachtete Fidelma das Papyrusstück. «Wo könnten wir jemanden finden, der in der Lage wäre, diese Sprache zu entziffern?»
«Im munera peregrinitatis vielleicht?»
Fidelma bedachte ihn mit einem raschen Seitenblick. Erst jetzt dämmerte Eadulf, was er gesagt hatte.
«Das Amt, in dem unser Freund Ronan Ragal-lach gearbeitet hat», stellte er fest. Dann zuckte er die Achseln. «Aber ob das eine Rolle spielt.»
Es klopfte leise an die Tür.
Fidelma ließ Papyrus und Sackleinen in ihr mar-supium gleiten.
«Das werden wir noch sehen», sagte sie, dann rief sie laut: «Ja, bitte? Herein!»
Ein dünner, drahtiger Mann mit dunklem Haar und fahlem Gesicht trat ins Zimmer. Er schielte ein wenig auf einem Auge, so daß Fidelma unsicher war, wie sie ihn anschauen sollte. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, obwohl sie es zunächst nicht einordnen konnte.
Eadulf dagegen erkannte den Geistlichen sofort. «Bruder Sebbi!»
Der Mann lächelte. «Von den custodes hörte ich, daß Ihr mich sprechen wollt, und da ich gerade mit dem Abendessen fertig bin, fragte ich, wo ich Euch finden könnte.»
«Kommt und setzt Euch, Bruder Sebbi», forderte Fidelma ihn auf. «Ihr habt uns die Mühe erspart, nach Euch schicken zu lassen. Ich bin Fidelma ...»
«... von Kildare. Ich weiß. Ich war in Witebia, als Ihr und Bruder Eadulf den Mord von Äbtissin Etain aufklärtet.» Er hielt inne und sah betreten zu Boden. «Eine schlimme Sache. Sehr, sehr schlimm.»
«Dann wißt Ihr also, womit wir diesmal befaßt sind, Bruder Sebbi?» fragte Fidelma.
Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. «Im ganzen Lateranpalast wird kaum noch über etwas anderes gesprochen, Schwester. Bischof Gelasius hat Euch und Bruder Eadulf beauftragt, die Hintergründe von Wighards Tod aufzuklären, so wie König Oswiu Euch in Witebia gebeten hat, Äbtissin Etains Mörderin dingfest zu machen.»
«Wir wüßten gern, wo Ihr Euch zur Tatzeit aufgehalten habt», schaltete sich Eadulf ein.
Sebbis Grinsen wurde noch breiter. «Im Bett, wie jeder vernünftige Mensch.»
Fidelma betrachtete ihn mit ernster Miene.
«Und seid Ihr ein vernünftiger Mensch, Bruder Sebbi?»
Einen Augenblick lang wurde Sebbi ernst, dann kehrte sein Grinsen zurück. «Ich sehe, Ihr habt Sinn für Humor, Schwester. Ja, ich lag in meinem Bett und schlief. Ein Geräusch im Korridor hat mich geweckt. Ich ging hinaus und sah mehrere custodes vor Wighards Tür. Ich fragte, was los sei, und sie sagten es mir.»
«War sonst noch jemand da? Abt Puttoc zum Beispiel?»
Sebbi schüttelte den Kopf.
«Aber Euch hat das Geräusch geweckt?»
«Ja.»
«Es war also ziemlich laut?»
«Natürlich. Es wurde gerufen, und die Soldaten liefen hin und her.»
«Hat es Euch nicht überrascht, daß Abt Puttoc, der in dem Zimmer gleich neben Eurem cubiculum schlief, sich durch all dies in seinem Schlaf nicht stören ließ?»
Eadulf streifte Fidelma mit einem besorgten Seitenblick. Hegte sie Zweifel an Puttocs Aussage, bloß weil der Abt sie anmaßend behandelt hatte?
«Nein.» Sebbi beugte sich über den Tisch. «Der Abt ist dafür bekannt, daß er Abend für Abend einen Schlaftrunk nimmt, weil er an Schlaflosigkeit leidet. Er stopft sich mit Arzneien voll wie andere Menschen mit Lebensmitteln.»
«Wißt Ihr das nur vom Hörensagen, Sebbi, oder ist das eine Tatsache?» fragte Fidelma.
Sebbi machte eine wegwerfende Handbewegung. «Ich habe fünfzehn Jahre lang in Stang-grund unter Abt Puttoc gedient. Ich kenne ihn in-und auswendig. Fragt Eanred, seinen Diener. Es ist eine Tatsache. Eanred hat immer eine Tasche mit Arzneien dabei. Und jeden Abend muß er Puttoc ein Gebräu aus Maulbeerblättern, Schlüsselblume und Königskerze in seinen Wein mischen.»
Fidelma schaute Eadulf an. Der sächsische Bruder nickte. «Ein Schlaftrunk, wie er nicht selten zur Anwendung kommt.»
Sebbi fuhr fort: «Ohne seine Arzneien könnte Puttoc nicht leben. Das war auch der Grund, warum er Eanred gekauft hat. Nur Eanred ist in der Lage, das richtige Heilmittel für Puttocs Schlaflosigkeit anzumischen. Deshalb würde Puttoc auch nie ohne seinen Diener auf Reisen gehen.»