Zufrieden darüber, daß es ihm schließlich doch noch gelungen war, das Ende des Gesprächs zu bestimmen, beugte er sich vor und läutete mit einer kleinen silbernen Glocke.
Wieder streckte er die linke Hand aus, und wieder griff Fidelma zu seinem Ärger einfach danach und neigte den Kopf, anstatt seinen Ring zu küssen, wie es in Rom Sitte war.
Ohne ein weiteres Wort wandte die hochgewachsene Schwester sich um und ging quer durch den Saal zu der Tür, die Bruder Donus ihr aufhielt.
II
ERLEICHTERT TRAT SCHWESTER FIDEL-
ma durch die mit reichen Schnitzereien verzierten Eichentüren in die große Haupthalle des Lateran-palasts, wo in den letzten dreihundertfünfzig Jahren alle römischen Bischöfe gekrönt worden waren. Die Halle war zweifellos prachtvoll und in höchstem Maße beeindruckend. Hohe Marmorsäulen reckten sich himmelwärts einer gewölbten Decke entgegen, der Boden wirkte wie ein endloser Teppich aus winzigen Mosaiksteinen, die Wände waren mit bunten Wandteppichen geschmückt, und die gewölbten Baldachine bestanden aus polierter, gedunkelter Eiche. Dieser Palast hätte jedem weltlichen Prinzen zur Ehre gereicht.
An allen Eingängen standen custodes in schneidigen Uniformen mit polierten Rüstungen und federgeschmückten Helmen, die kurzen Schwerter vor der Brust - eine eindrucksvolle Zurschaustellung weltlicher Macht. Gleichzeitig herrschte in der Halle ein unübersichtliches Gewimmel. Zahllose Geistliche liefen in geheimnisvoller Mission hin und her. In ihren schlichten Gewändern bildeten sie einen seltsamen Gegensatz zu den vielen Potentaten und Würdenträgern aus aller Herren Länder.
Schwester Fidelma hielt kurz inne, um dieses Treiben noch einmal auf sich wirken zu lassen. Sie hatte etliche Stunden in der lärmenden Menge warten müssen, ehe Bruder Donus sie zu Bischof Gelasius gerufen hatte. Hier kamen die Völker der Welt zusammen. Verglichen mit diesem Glanz wirkte der Königshof in Tara, Sitz des Hochkönigs über die fünf irischen Königreiche, armselig und rückständig. Aber, so dachte Fidelma, während sie sich ihren Weg durch die vielen Gruppen plaudernder Menschen bahnte, die ruhige Würde Taras inmitten der lieblichen Landschaft der königlichen Provinz Midhe war ihr trotz alledem lieber als diese kalte Pracht.
In diesem Augenblick wurde sie in dem Gedränge von einer jungen Nonne angerempelt.
«Oh, Verzeihung ...»
Die Nonne hob den Kopf und lächelte Fidelma strahlend an. «Schwester Fidelma! Seit unserer Ankunft in Rom habe ich Euch nicht mehr gesehen.»
Die junge sächsische Nonne war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und auffallend hager. Sie hatte leicht melancholische Züge, dünnes Haar von unscheinbarer Farbe und dunkelbraune Augen, in denen wenig Ausdruck lag. Im Gegensatz zu ihrem schmächtigen Körperbau wirkten ihre Hände stark und sehnig und schwielig wie die einer Magd. Es hatte Fidelma nicht überrascht zu hören, daß Schwester Eafa auf einem Bauernhof gearbeitet hatte, ehe sie sich für das Klosterleben entschied. Fidelma sah sie lächelnd an. Auf der Überfahrt von Massilia nach Ostia hatte sie viel Zeit mit Schwester Eafa verbracht. Sie gehörte zu einer kleinen Gruppe von Pilgern aus dem Königreich Kent, die Wighard von Canterbury zur Bischofsweihe nach Rom begleiteten. Fidelma hatte Mitleid mit der jungen Nonne. Eafa war ein einfaches, ein wenig langweiliges, aber sehr umgängliches Mädchen, das sich manchmal selbst vor dem eigenen Schatten fürchtete. Ihre ganze Körperhaltung, die leicht gebeugten Schultern und die ins Gesicht gezogene Haube wiesen darauf hin, daß sie am liebsten gar nicht wahrgenommen werden wollte.
«Seid mir gegrüßt, Schwester Eafa. Wie geht es Euch?»
Die junge Nonne verzog das Gesicht. «Oh, ich freue mich schon darauf, wieder nach Kent zurückzukehren. In Rom zu sein, wo Petrus, ein Weggefährte Christi, den Märtyrertod starb, ist ein wahrhaft bewegendes Erlebnis. Und doch ...» Sie sah verlegen zu Boden. «Die Stadt ist nicht nach meinem Geschmack. Offen gesagt, Schwester, finde ich sie ziemlich furchterregend. Es gibt einfach zu viele Menschen hier, zu viele Fremde. Am liebsten wäre ich wieder zu Hause.»
«Ich teile Euren Wunsch, Schwester.» Fidelma hatte Verständnis für diesen Wunsch. Wie Eafa war auch sie eher an ein ruhiges, ländliches Leben gewöhnt.
Ein ängstlicher Ausdruck huschte über Schwester Eafas unscheinbare Züge, als sie über Fidelmas Schulter hinweg in die große Halle blickte.
«Da kommt Äbtissin Wulfrun. Ich muß sofort zu ihr. Nachdem wir heute morgen am Grab der Heiligen Helena, der Mutter Constantins, waren, soll ich sie jetzt zum Oratorium der vierzig Märtyrer begleiten. Überall, wo wir hingehen, erkennen uns die Leute sofort als Pilger und versuchen, uns heilige Reliquien und Andenken zu verkaufen. Sie sind so hartnäckig wie Bettler, die sich einfach nicht abweisen lassen. Seht Euch das einmal an, Schwester.»
Sie zeigte auf eine kleine, billige Kupferbrosche, mit der sie ihre Kopfbedeckung befestigt hatte. In das Kupfer war ein Stück farbiges Glas eingelassen.
«Man hat mir gesagt, das Glas enthalte einige Haare der Heiligen Helena, und mir zwei sestertiae dafür abgenommen . Ich kenne mich mit diesen römischen Münzen nicht aus. Meint Ihr, daß ich zuviel bezahlt habe?»
Fidelma sah sich die Brosche etwas genauer an. Mit etwas Mühe konnte sie in dem Glas einige Haare erkennen.
«Wenn das Haar wirklich von der Heiligen Helena stammt, ist diese Brosche ihr Geld sicherlich wert, aber ...» Sie zuckte mit den Achseln.
Die junge sächsische Nonne ließ zerknirscht den Kopf hängen.
«Bezweifelt Ihr, daß das Haar echt ist?»
«Es gibt unzählige Pilger in Rom, und wie Ihr bereits gesagt habt, genug Leute, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, ihnen allen möglichen Tand als heilige Reliquien zu verkaufen.»
Fidelma hatte das Gefühl, daß Eafa gern noch länger mit ihr gesprochen hätte. Doch die junge Nonne aus Kent blickte erneut in die Menschenmenge und verzog entschuldigend das Gesicht. «Ich muß gehen. Äbtissin Wulfrun hat mich gesehen.»
Mit diesen Worten wandte sie sich um und eilte durch die Menge auf eine hakennasige Frau in geistlichen Gewändern zu, die sie bereits mit strenger, mißbilligender Miene erwartete. Wieder verspürte Fidelma Mitleid mit ihrer jüngeren Glaubensschwester. Eafa hatte sich in Begleitung von Äbtissin Wulfrun auf diese Pilgerreise begeben. Sie kamen beide aus der Abtei von Sheppey. Allerdings war Wulfrun, wie die junge sächsische Nonne Fidelma anvertraut hatte, eine Prinzessin und die Schwester Seaxburghs, der Königin von Kent, woran sie ihre Mitmenschen bei jeder Gelegenheit erinnerte.
Wahrscheinlich war dies auch der Grund dafür, warum Fidelma sich während der Überfahrt von Massilia nach Ostia mit dem jungen Mädchen angefreundet hatte, denn Wulfrun behandelte Eafa kaum besser als eine Sklavin. Und doch schien Fidelmas Freundlichkeit die junge Nonne anfangs mehr zu ängstigen als die Einsamkeit. Sie benahm sich anderen gegenüber zurückhaltend und beschwerte sich nie über die herrische Art ihrer Äbtissin. Ein seltsames Mädchen, dachte Fidelma, schüchtern, nicht unliebenswürdig, aber stumm wie ein Fisch. Über den Lärm der Menge hinweg hörte Fidelma deutlich Äbtissin Wulfruns durchdringende Stimme, mit der sie Eafa befahl, ihr Gepäck zu tragen. In gebieterischer Haltung drängte sich die Äbtissin durch die Masse auf die Tore des Palasts zu - sie erinnerte Fidelma an ein Kriegsschiff, das sich seinen Weg durch stürmische Gewässer bahnt, die schmächtige, ängstliche Eafa wie ein Rettungsboot im Schlepptau.
Schwester Fidelma sah ihnen nach, bis sie in der Menge verschwunden waren, dann trat sie mit einem leisen Seufzer durch die Tore nach draußen auf die sonnenbeschienenen Marmorstufen. Die plötzliche Wärme, mit der die römische Sonne sie umfing, ließ sie innehalten und nach Atem ringen. Vom kühlen Inneren des großen Palasts nach draußen zu kommen ähnelte einem kalt-heißen Wechselbad. Sie blinzelte und holte tief Luft.