«Schwester Fidelma!»
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich nach dem Mann um, dem die vertraute, tiefe Stimme gehörte. Ein junger Mönch im schlichten, braunen Wollgewand mit der corona spinea, der römischen Tonsur auf dem Scheitel, löste sich aus einer Gruppe und winkte ihr freudig zu. Er war kräftig gebaut und sehr muskulös, so daß er eher an einen Krieger als einen Mönch erinnerte - ein gutaussehender Mann in ihrem Alter. Fidelma ertappte sich dabei, daß sie ihn mit einem breiten Lächeln begrüßte, und fragte sich im stillen, weshalb sie sich so freute, ihn wiederzusehen.
«Bruder Eadulf!»
Eadulf hatte sie auf der langen, anstrengenden Reise vom Königreich Northumbrien begleitet. Er war als Sekretär und Dolmetscher für Wighard, den zukünftigen Erzbischof von Canterbury, nach Rom gekommen. Während der Synode in Hildas Kloster Streoneshalh nahe der Küstenstadt Witebia hatten sie gemeinsam den geheimnisvollen Mord an Äbtissin Etain von Kildare aufklären können und waren dabei gute Freunde geworden. In ihren Kenntnissen und Fähigkeiten hatten sie einander wunderbar ergänzt, denn Eadulf war ein erblicher gerefa oder Friedensrichter am Hof des Thans von Seaxmund’s Ham gewesen, ehe er von einem irischen Mönch namens Fursa zum Glauben bekehrt und zur religiösen Erziehung nach Durrow in Irland gebracht worden war. Außerdem war Eadulf in der Heilkunde bewandert, denn er hatte vier Jahre lang das berühmte Kollegium der Medizin in Tuaim Brecain besucht. Anschließend hatte er zwei Jahre in Rom verbracht und sich entschieden, den Lehren Roms zu folgen; dann war er in sein Heimatland zurückgekehrt. An der Synode in Witebia hatte er teilgenommen, um Canterbury und Rom zu unterstützen, während Fidelma den Vertretern der keltischen Kirche beratend zur Seite gestanden hatte.
Einen Augenblick lang standen die beiden sich gegenüber und lächelten glücklich über ihr zufälliges Zusammentreffen auf den sonnenbeschienenen, weißen Marmorstufen des Lateranpalasts.
«Macht Eure Mission in Rom Fortschritte, Schwester Fidelma?» fragte Eadulf. «Habt Ihr den Heiligen Vater schon gesehen?»
Fidelma schüttelte den Kopf.
«Nein, bisher habe ich nur mit einem Bischof sprechen können, der sich nomenclator nennt, mein Anliegen prüft und anschließend darüber entscheidet, ob ich den Heiligen Vater damit behelligen darf. Offenbar schert es die vielen Federfuchser, mit denen sich der Bischof von Rom umgibt, nicht, daß ich vertrauliche Briefe Ultans von Armagh an den Heiligen Vater bringe.»
«Ihr klingt ziemlich erbost.»
Fidelma schnaubte ärgerlich. «Ich bin ein einfacher Mensch, Eadulf. Mir mißfallen der weltliche Pomp und die ganze Förmlichkeit.» Sie deutete auf die eindrucksvollen Gebäude ringsum. «Erinnert Ihr Euch an die Worte des Matthäus? Christus hat uns selbst ausdrücklich darauf hingewiesen: <Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen.> Diese weltlichen Schätze sind das reinste Gift für die Schlichtheit unseres Glaubens.»
In gespieltem Tadel schüttelte Bruder Eadulf den Kopf. Auch wenn sein Gesicht ernst blieb, konnte doch nichts das verschmitzte Funkeln in seinen Augen verbergen. Er wußte, daß Fidelma sehr belesen war und aus dem Stegreif die verschiedensten Stellen aus der Heiligen Schrift zitieren konnte, wenn es darum ging, ihren Standpunkt zu untermauern.
«Daß die Römer all diese Schätze bewahren, hat seinen Grund in ihrer ruhmreichen Geschichte und ihrer großen Vergangenheit. Es geht ihnen dabei nicht um Geld oder um Glaubensfragen», sprang er für die Römer in die Bresche. «Wenn die Kirche in dieser Welt bestehen will, um die Menschen auf die nächste vorzubereiten, darf sie sich dem Irdischen nicht verschließen, und dazu gehören nun einmal auch Pomp und Förmlichkeit.»
Fidelma widersprach ihm heftig. «Es verhält sich genau so, wie Matthäus sagte: <Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.> Wer in diesem feinen Palast wohnt und sich mit weltlichen Schätzen großtut, kann doch gar nicht anders, als den Mammon über Gott zu stellen.»
Bruder Eadulf sah sie erschrocken an.
«Ihr sprecht vom Palast des Heiligen Vaters. Nein, Fidelma, es gehört zum römischen ebenso wie zum christlichen Erbe, daß er in diesem herrlichen Palast residiert. Wo auch immer Ihr in Rom Euren Fuß hinsetzt, Ihr steht auf historischem Boden.»
Fidelma grinste spöttisch über seine Begeisterung. «Aber das gilt doch für die ganze Welt: Jedes Fleckchen Erde ist für irgend jemanden mit bedeutenden Erinnerungen verbunden. Ich habe auf dem armseligen, kahlen Berg namens Ben Edair gestanden, wo man den in der Schlacht zer-schundenen, blutigen Leichnam Oscars, des Sohnes Oisins, nach der schrecklichen Niederlage von Gabhra zu Grabe getragen hat. Ich habe den Steinhügel gesehen, den man über dem Grab Ai-dins, Oscars Witwe, errichtete, nachdem sie beim Anblick ihres toten Mannes vor Kummer gestorben war. Ein kleiner Hügel aus grauen Steinen kann von einer ebenso herzzerreißenden Geschichte künden wie der größte Marmorbau.»
«Aber schaut doch nur .» Mit einer ausholenden Handbewegung deutete Eadulf auf den riesigen Lateranpalast und die angrenzende St.-Johannes-Basilika. «Das ist das Herz des Christentums, seit mehr als dreihundert Jahren Heimstatt seiner weltlichen Führer. Jeder Mauerstein, jedes Mosaikstückchen birgt ein historisches Erbe.»
«Es sind prächtige, eindrucksvolle Bauten, das will ich nicht bestreiten.»
Angesichts ihres Mangels an Ehrfurcht schüttelte Eadulf den Kopf. «Schon als Kaiser Konstantin vor hundertfünfzig Jahren den Palast und seine Ländereien an Melchiades verschenkte, damit der Bischof von Rom darauf eine Kathedrale errichten konnte, war es ein geschichtsträchtiger Ort.»
Stumm ließ Fidelma den lebhaften Redeschwall des jungen Mönches über sich ergehen.
«Im alten Rom gehörte der Palast einer großen Patrizierfamilie, den Laterani. Zur Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Nero wurden Pläne geschmiedet, den Tyrannen zu ermorden. Caius Calpurnius Piso, ein reicher Römer, der damals Konsul und als großer Redner bei den Römern sehr beliebt war, führte die Verschwörer an. Aber sie wurden entdeckt, festgenommen und zum Tode verurteilt. Manche wurden hingerichtet, andere aus Achtung vor ihrem hohen Rang zum Selbstmord gezwungen. Zu ihnen gehörten Petronius Arbiter, der Verfasser des Satyricon, der Dichter Lucan und der Philosoph Seneca ebenso wie Caius Calpurnius Piso und Plautius Lateranus, der Besitzer des Palasts. Man nahm ihm sein Eigentum und sein Leben.»
Fidelma sah zu der reichverzierten Fassade des Lateranpalasts auf. «Ich sagte ja schon, es ist ein wunderschönes Gebäude», erwiderte sie mit sanfter Stimme, «aber trotzdem längst nicht so schön wie ein grünes Tal, ein majestätischer Berg oder eine sturmumtoste Klippe. Darin offenbart sich die wahre Schönheit, die Schönheit der Natur, unbeeinflußt von den vergänglichen Bauwerken des Menschen.»
Eadulf blickte sie traurig an. «Ich hätte Euch nicht für eine solche Philisterin gehalten, Schwester.»
Fidelma zog verärgert die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. «Ihr habt Eure zwei Jahre hier in Rom gut genutzt und Euch neues Wissen erschlossen. Aber in Eurer Lobpreisung der historischen Gemäuer vergaßt Ihr zu erwähnen, daß der ursprüngliche Lateranpalast zerstört wurde und Melchiades sein Schloß auf dessen Ruinen errichten ließ. Und Ihr vergaßt auch anzumerken, daß diese Anlage seitdem zweimal wieder aufgebaut werden mußte, vor allem, nachdem sie vor zweihundert Jahren von den Vandalen völlig verwüstet worden war. So steht es in Wirklichkeit mit der Tradition, von der Ihr so gerne sprecht. Alle noch so großen Monumente der Menschheit sind zur Vergänglichkeit verdammt.»