Eadulf sah sie mißmutig und erstaunt an. «Also habt Ihr die Geschichte des Palasts längst gekannt?» fragte er vorwurfsvoll, ohne auf ihre Einwände einzugehen.
Fidelma zuckte die Achseln.
«Ich habe einen der Wärter in der Basilika gefragt. Aber da Ihr so darauf branntet, Euer Wissen anzubringen ...» Sie verzog das Gesicht, lächelte ihn entschuldigend an, da er gar so verdrießlich drein blickte, und legte ihm die Hand auf den Arm. Ein schalkhaftes Grinsen spielte um ihre Lippen.
«Kommt schon, Bruder Eadulf. Ich habe ja bloß gesagt, daß menschliche Kunstwerke vergänglich sind, vor allem im Vergleich mit dem sehr viel größeren Kunstwerk der Natur, das der Mensch mit seinen armseligen Bauten so oft seiner Schönheit beraubt. Erst vor kurzem habe ich mich gefragt, wie die sieben Hügel dieser bemerkenswerten Stadt wohl ausgesehen haben, ehe sie unter all den Gebäuden verschwunden sind.»
Doch der sächsische Mönch wirkte auch weiterhin verdrossen.
«Seid nicht böse, Eadulf», redete Fidelma reumütig auf ihn ein. Sie bedauerte zutiefst, ihn gekränkt zu haben. «Ich kann meine innerste Überzeugung nicht leugnen, aber ich bin für alles aufgeschlossen, was Ihr mir über Rom zu erzählen habt. Sicher gibt es in dieser Stadt noch sehr viel mehr zu entdecken, über das Ihr mich aufklären könnt. Kommt, gehen wir ein Stückchen. Zeigt mir, was immer Euch sehenswert erscheint.»
Damit ging sie die breiten Stufen hinunter und bahnte sich einen Weg durch die riesige Bettlerschar, die sich am unteren Ende der Treppe versammelt hatte und von den grimmig dreinblickenden custodes nur mühsam in Schach gehalten werden konnte. Blicke aus dunklen, eingesunkenen Augen in ausgemergelten Gesichtern folgten ihnen, magere, knochige Hände reckten sich ihnen flehend entgegen. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis Fidelma sich an diese Szene gewöhnt hatte, die sich tagtäglich auf dem Weg von ihrer Herberge zum prunkvollen Papstpalast abspielte.
«So etwas würdet Ihr in Irland niemals sehen», sagte sie mit einem Seitenblick auf die Bettler. «Unsere Gesetze schreiben uns vor, den Armen zu helfen, damit sie nicht betteln müssen und sich und ihre Familien mit dem Nötigsten versorgen können.»
Aus seiner Zeit in Irland wußte Eadulf, daß sie recht hatte. Die uralten, von der Brehon-Gerichts-barkeit überwachten Gesetze Irlands sorgten dafür, daß niemand wegen Krankheit ins Elend geriet und keiner Hungers sterben mußte. Für sie alle war gesorgt.
«Es ist traurig, daß Menschen trotz all dieses Wohlstands betteln müssen, vor allem, wenn die ganze Pracht einem Gott der Armen gilt», fuhr Fidelma fort. «Die Bischöfe und Kleriker in ihren Palästen sollten den Brief des Apostel Johannes lesen, in dem er sagt: <Wenn aber jemand in dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?> Kennt Ihr diese Stelle, Eadulf?»
Eadulf biß sich auf die Lippe und sah sich besorgt um. «Vorsicht, Fidelma», flüsterte er. «Am Ende bezichtigt man Euch noch des ketzerischen Pelagianis-mus.»
Fidelma schnaubte verächtlich. «Rom hält Pela-gius doch nicht deshalb für einen Ketzer, weil er sich von der Lehre Christi abgewandt hätte, sondern einzig und allein deshalb, weil er Rom kritisierte, das sich nicht an diese Lehre hielt. Ich habe lediglich aus dem ersten Brief des Johannes, Kapitel drei, Vers siebzehn zitiert. Wenn das Ketzerei ist, bin ich wahrhaftig eine Ketzerin, Eadulf.»
Sie griff in ihre Tasche, kramte eine Münze heraus und legte sie in die ausgestreckte Hand eines kleinen Jungen, der abseits von den anderen Bettlern stand und mit blinden Augen ins Leere starrte.
Die Hand schloß sich über der Münze, und ein kleines Lächeln huschte über das pockennarbige Kindergesicht.
«Do ut des», murmelte Fidelma die uralte Formel. «Ich gebe, damit du geben kannst.» Schweigend gingen sie und Eadulf weiter durch ein ärmliches Viertel am Fuße des Esquilin, des höchsten und ausladensten der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut war. Sie überquerten die Via Labicana und bogen in die breite Via Merulana ein. «<Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der von dir borgen will ...»> zitierte sie feierlich mit einem Seitenblick auf Eadulf, der mißbilligend zugeschaut hatte, wie sie dem bettelnden Jungen Geld gab.
«Pelagius?» fragte Eadulf.
«Das Evangelium des Matthäus», erwiderte Fidelma ernst. «Kapitel fünf, Vers zweiundvierzig.»
Eadulf stieß einen tiefen, besorgten Seufzer aus.
«Hier, mein guter sächsischer Freund», Fidelma blieb unvermittelt stehen und legte eine Hand auf Eadulfs Arm, «könnt Ihr erkennen, wie tief der Streit zwischen Rom und der Lehre Irlands und Britanniens geht!»
«Die sächsischen Königreiche haben sich zu der römischen Kirche bekannt, Fidelma. Ihr werdet mich nicht bekehren. Ich bin nur ein einfacher Mönch und kein Religionsgelehrter. Und wenn Oswiu von Northumbrien sich in Witebia entschieden hat, der Lehre Roms zu folgen, ist der Streit damit für mich beendet. Vergeßt nicht, daß ich der Sekretär und Dolmetscher des Erzbischofs von Canterbury bin.»
Fidelma sah ihn belustigt an. «Habt keine Angst, Eadulf. Ich bin bloß noch immer nicht davon überzeugt, daß Rom in allen Fragen recht hat. Aber um unserer Freundschaft willen wollen wir das Thema lieber ruhen lassen.»
Seite an Seite gingen sie schweigend die breite Straße hinunter. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten mußte Fidelma sich eingestehen, daß sie das Zusammensein mit Eadulf als äußerst angenehm empfand. Zwar machte es ihr Spaß, ihn ab und zu herauszufordern, und er ließ sich stets gutmütig auf einen Disput mit ihr ein, doch es herrschte zwischen ihnen keinerlei Feindseligkeit.
«Wie ich erfahren habe, ist Wighard vom Heiligen Vater wohlwollend empfangen worden», bemerkte Fidelma nach einer Weile.
Seit ihrer Ankunft vor einer Woche hatte sie Eadulf kaum zu Gesicht bekommen. Sie hatte gehört, daß man Wighard und sein Gefolge eingeladen hatte, als persönliche Gäste des Heiligen Vaters Vitalian im Lateranpalast zu wohnen. Fidelma nahm an, daß der Bischof von Rom über die Nachricht von Canterburys Sieg bei der Synode von Wi-tebia sehr erfreut gewesen war.
Fidelma hingegen war in einer kleinen Herberge in einer Seitenstraße der Via Merulana gleich neben dem von Papst Pius I. für die Heilige Pras-sede errichteten Oratorium untergekommen, deren rasch wechselnde Gästeschar hauptsächlich aus Pilgern bestand. Dem Haushalt standen ein gallischer Priester, ein Diakonus namens Arsenius, und seine Frau, die Diakonin Epiphania, vor. Die kinderlos gebliebenen älteren Eheleute waren wie Mutter und Vater für die fremden Besucher, viele von ihnen peregrinato pro Christo, die aus Irland kamen.
In ihrer ersten Woche hatte Fidelma von der berühmten Stadt kaum mehr gesehen als das bescheidene Haus von Arsenius und Epiphania, die Herrlichkeit des Lateranpalasts und die erschrek-kende Armut in den Straßen dazwischen.
«Der Heilige Vater hat uns äußerst wohlwollend aufgenommen», bestätigte Eadulf. «Man hat uns im Lateranpalast sehr ansprechende Quartiere zugeteilt, und wir wurden bereits zu einer Audienz empfangen. Morgen wird es einen förmlichen Austausch von Geschenken und ein großes Festbankett geben, und in vierzehn Tagen wird der Heilige Vater Wighard öffentlich zum Erzbischof von Can-terbury weihen.»
«Und anschließend reist Ihr zurück ins Königreich Kent?»
Eadulf nickte. «Und Ihr kehrt nach Irland zurück?» fragte er mit einem raschen Seitenblick.
Fidelma verzog das Gesicht. «Sobald ich Ultans Briefe überbracht und die Segnung für die Regularien meines Klosters bekommen habe. Ich bin schon viel zu lange von Irland fort.»
Eine Weile lang schritten sie stumm nebeneinander her. Trotz der harzig duftenden Zypressen, in deren Schatten zahllose Händler ihre Waren feilboten, war die Straße staubig und heiß. Da es sich um einen der wichtigsten Durchfahrtswege Roms handelte, riß der Verkehr niemals ab. Und doch konnte Fidelma bei all dem Lärm noch ganz deutlich das Zirpen der Grillen hören, die sich in der erdrückenden Hitze zu kühlen versuchten. Als plötzlich eine Wolke die Sonne verdunkelte, hörte das seltsame Geräusch schlagartig auf. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Fidelma seine Bedeutung ergründet hatte.