Das Dorf beruhigte sich, wartete auf den Abend, und Jerry saß in seinem Hornissenfeld, blickte aufs Meer und drehte den Büchersack so lange rundum, bis es nicht mehr ging und der Sack sich wieder zurückprallte.
Zuerst kam das Tal und darüber ragten im Halbkreis die fünf Hügel und über den Hügeln sah man das Meer, das um diese Tageszeit nur ein flacher brauner Fleck am Himmel war. Das Hornissenfeld, in dem er saß, war ein langer, von Steinen gesäumter Erdstreifen mit einer verfallenen Scheune an der einen Ecke, die ihnen zum Picknicken und Sonnenbaden Schutz gewährte, bis die Hornissen in der Wand nisteten. Sie hatte sie gesehen, als sie Wäsche aufhing, und war hineingerannt, um es Jerry zu sagen, und Jerry hatte ohne weiteres Nachdenken einen Eimer voll Mörtel bei Franco geholt und alle Schlupflöcher vermauert. Dann hatte er die Waise gerufen, damit sie sein Werk bewundern könne: der Mann an meiner Seite, er beschützt mich allerwege. In der Erinnerung sah er sie deutlich vor sich: wie sie zitternd neben ihm stand, die Arme um sich geschlagen, und auf den frischen Zement starrte, den wild rasenden Hornissen drinnen lauschte und »Jesus, Jesus« flüsterte, starr vor Entsetzen. Vielleicht wartet sie auf mich, dachte er.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem er sie kennengelernt hatte. Er erzählte sich diese Geschichte häufig, denn Jerry hatte selten in seinem Leben Glück bei Frauen gehabt, und wenn es dann einmal der Fall war, ließ er es gern auf der Zunge zergehen, wie er sich ausdrückte. Es war an einem Donnerstag.. Er hatte seine übliche Tour in die Stadt gemacht, um einzukaufen oder vielleicht auch nur um ein paar neue Gesichter zu sehen und eine Weile von seinem Roman wegzukommen; oder vielleicht nur um der schrillen Eintönigkeit dieser leeren Landschaft zu entfliehen, in der er sich immer wie inhaftiert vorkam, und wie in Einzelhaft noch dazu; vielleicht auch mit dem Hintergedanken, daß er sich eine Frau angeln könnte, was ihm zuweilen gelang, wenn er an der Bar des Touristenhotels herumlungerte. Er saß also lesend in der Trattoria am Stadtplatz - eine Karaffe Wein, einen Teller Schinken, Oliven -, als er plötzlich dieses magere langbeinige Kind erblickte, das rote Haar, das verdrossene Gesicht, ein braunes Kleid wie eine Mönchskutte und eine Schultertasche aus Teppichgewebe.
»Sieht nackt aus ohne Gitarre«, hatte er gedacht. Sie erinnerte ihn vage an seine Tochter Cat, die Abkürzung für Catherine, aber nur vage, denn er hatte Cat seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, seit dem Scheitern seiner ersten Ehe. Warum er sie nie mehr gesehen hatte, konnte er auch jetzt noch nicht genau sagen. Unter dem ersten Schock der Trennung sagte ihm ein wirres Gefühl der Ritterlichkeit, daß es für Cat besser sei, wenn sie ihn vergäße. »Am besten, sie schreibt mich ab. Läßt ihr Herz, wo alles übrige wohnt.« Als ihre Mutter wieder heiratete, schien solche Selbstverleugnung noch mehr angeraten. Aber manchmal hatte er große Sehnsucht nach ihr, und höchstwahrscheinlich war dies der Grund, warum das Mädchen, nachdem es ihm einmal aufgefallen war, ihn nicht wieder losließ. Ging Cat auch so herum, allein und wie gedopt vor Müdigkeit? Hatte Cat noch immer ihre Sommersprossen und das feste kleine Kinn? Später erzählte ihm das Mädchen, sie sei ausgerissen. Sie war als Gouvernante bei einer reichen Familie in Florenz gewesen. Die Mutter war zu sehr mit ihren Liebhabern beschäftigt, um sich um die Kinder zu kümmern, aber der Herr Papa hatte jede Menge Zeit für die Gouvernante. Sie hatte alles Bargeld genommen, das sie finden konnte, über die Mauer gesetzt, und da war sie nun: ohne Gepäck, die Polizei auf den Fersen und einen letzten schmierigen Geldschein, um sich noch einmal richtig sattzuessen vor der Katastrophe.
Am Stadtplatz war nicht viel los an jenem Tag - es war nie viel los -, und das Mädchen hatte sich kaum hingesetzt, als ihr auch schon so ziemlich jeder normal gebaute Mann der Stadt seine Aufmerksamkeiten zollte, angefangen beim Kellner, der »beautiful missus« säuselte, bis zu weit derberen Bemerkungen, deren genauer Sinn Jerry entging, die jedoch das allgemeine Gelächter auf sie zogen. Dann versuchte einer, sie in die Brust zu kneifen, worauf Jerry aufstand und zu ihrem Tisch hinüberging. Er war kein großer Held, er selbst hielt sich eher für das Gegenteil, aber im Moment gingen ihm eine Menge Gedanken im Kopf herum und es hätte genausogut Cat sein können, die da belästigt wurde. Sagen wir also: Ärger. Er ließ die eine Hand auf die Schulter des kleinen Kellners fallen, der ihr hatte zu nahe treten wollen, und die andere auf die Schulter des großen Burschen, der diese Mannestat mit Beifall belohnte, und er erklärte ihnen in schlechtem Italienisch, aber durchaus einleuchtend, daß sie jetzt Schluß machen müßten mit ihren Belästigungen und die beautiful missus in Ruhe essen lassen. Andernfalls würde er ihnen die dreckigen Hälse umdrehen. Die Atmosphäre war danach nicht allzu herzlich, und der Kleine schien es auf eine Keilerei anzulegen, denn seine Hand wanderte immer wieder zur hinteren Hosentasche und zerrte am Jackett, bis ihn ein letzter Blick auf Jerry eines Besseren belehrte. Jerry warf Geld auf den Tisch, nahm ihre Tasche auf, holte seinen Büchersack und führte sie, trug sie beinah, über den Platz zum Apoll. »Sind Sie Engländer?« fragte sie im Gehen. »Vom Scheitel bis zur Sohle, Ma'am!« schnaubte Jerry wütend, und in diesem Augenblick sah er sie zum erstenmal lächeln. Ein Lächeln, das entschieden einige Mühe wert war: das knochige Gesichtchen strahlte unter dem Schmutz zu einem breiten, ansteckenden Gassenbubengrinsen auf.
Nachdem Jerry nun ein wenig Dampf abgelassen hatte, fütterte er sie, und mit zunehmender Beruhigung begann er, die Geschichte weiter auszuspinnen, denn nach so vielen Wochen im luftleeren Raum war es nur natürlich, daß er etwas bieten wollte. Er erklärte, er sei abgehalfterter Zeitungsreporter und schreibe jetzt einen Roman, es sei sein erster Versuch, er erfülle sich damit einen alten Traum und er habe einen rasch dahinschmelzenden Haufen Geld von einem Blatt gekriegt, das ihn im Überfluß bezahlte, was ein Witz sei, denn er sei sein ganzes Leben lang überflüssig gewesen. »Art goldener Händedruck«, sagte er. Einen Teil habe er für das Haus angelegt, habe eine Weile gefaulenzt, und jetzt sei nur noch wenig von dem goldenen Segen übrig. Hier lächelte sie zum zweitenmal. Ermutigt kam er auf die Einsamkeit des schöpferischen Menschen zu sprechen. »Mein Gott, nicht zu glauben, wieviel Mühe es kostet, bis man's wirklich, ich meine wirklich rausgeschwitzt hat, fast wie . . . «
»Ehefrauen?«, fiel sie ihm ins Wort. Im ersten Moment hatte er angenommen, sie beziehe sich auf den Roman. Dann sah er ihre wartenden argwöhnischen Augen und antwortete vorsichtig: »Keine aktiven«, als wären Ehefrauen Vulkane, was sie in Jerrys Leben auch gewesen waren. Als sie nach dem Mittagessen leicht angesäuselt über den leeren Platz zockelten, wo die Sonne ihnen direkt auf die Köpfe knallte, gab sie ihre einzige Absichtserklärung von sich:
»Alles, was ich besitze, ist in dieser Tasche, capito?« sagte sie. Es war die Schultertasche aus Teppichstoff. »Und dabei will ich auch bleiben. Soll mir also keiner irgendwas geben, was ich nicht tragen kann. Capito?«
Als sie die Bushaltestelle erreichten, blieb sie auch stehen, und als der Bus kam, stieg sie hinter ihm ein und ließ Jerry ihre Fahrkarte bezahlen, und als sie im Dorf ausstiegen, kletterte sie mit ihm den Hügel hinauf, Jerry trug seinen Büchersack und das Mädchen die Schultertasche, und damit hatte sich's. Drei Nächte und den größten Teil der Tage verschlief sie, in der vierten Nacht kam sie zu ihm. Er war sowenig auf sie gefaßt, daß er wie immer seine Schlafzimmertür verschlossen hatte: er war ein bißchen eigen mit Türen und Fenstern, zumal bei Nacht. So daß sie an die Tür hämmern und schreien mußte: »Ich will in deine verdammte Falle, Herrgottnochmal!«, bis er endlich aufmachte.
»Lüg mich bloß nie an«, warnte sie ihn, als sie in sein Bett kletterte, als feierten sie ein Fest im Schlafsaal. »Kein Gefasel, keine Lügen. Capito?«