Als Geliebte glich sie einem Schmetterling: hätte Chinesin sein können, dachte er. Schwerelos, niemals in Ruhe, so schutzlos - es war zum Verzweifeln. Als die Leuchtkäfer flogen, knieten sie beide auf dem Fenstersims und beobachteten sie, und Jerry dachte an den Fernen Osten. Die Zikaden schrillten und die Frösche rülpsten und die Leuchtkäfer schwirrten unermüdlich rings um eine schwarze Kernzone, und die beiden knieten nackt eine Stunde und mehr, schauten und lauschten, während der heiße Mond in die Hügelkämme sank. Sie sprachen dabei niemals, trafen auch keine Entscheidungen, jedenfalls er nicht. Aber er schloß seine Tür jetzt nie mehr ab.
Die Musik und das Hämmern hatten aufgehört, dafür setzte lärmender Glockenklang ein, das Vesperläuten, wie er vermutete. Das Tal war niemals still, aber wegen des Taus hörte man die Glocken lauter. Er schlenderte hinüber zum angebundenen Ball, nestelte die Schnur von dem Eisenpfahl, dann mähte er mit seinem alten Wildlederstiefel das Gras ringsum und dachte an ihren geschmeidigen kleinen Körper, der bei jedem Schlag mitflog, und an die Mönchskutte, die sich im Wind blähte. »Guardian ist das große Wort«, hatten sie ihm gesagt. »Guardian bedeutet den Weg zurück«, hatten sie gesagt. Jerry verhielt noch eine Weile und blickte hinunter auf die blaue Ebene, wo der wirkliche Weg, kein bildlicher, glänzend und schnurgerade wie ein Kanal zur Stadt und zum Flugplatz führte. Jerry war keineswegs das, was er einen Denker genannt hätte. Das Gebrüll des Vaters hatte seine ganze Kindheit begleitet und ihn beizeiten gelehrt, was von großen Ideen und von großen Worten zu halten war. Vielleicht hatte das ihn zuerst mit dem Mädchen verbunden, dachte er. Darum ging es ihr: »Ich will nichts, was ich nicht tragen kann.«
Vielleicht. Vielleicht auch nichts Sie wird einen anderen finden. Sie finden immer einen anderen.
Es ist Zeit, dachte er. Geld verbraucht, Rorrjan Fehlanzeige, Mädchen zu jung: mach schon. Es ist Zeit. Zeit wofür?
Zeit! Zeit, daß sie sich einen jungen Bullen suchte, anstatt einen alten auszupowern. Zeit, daß die Wanderlust sich regte. Lager abbrechen. Die Kamele wecken. Weiter. Jerry hatte es weiß Gott schon ein paarmal getan. Das alte Zelt aufgeschlagen, eine Weile geblieben, weitergezogen: tut mir leid, altes Haus. Es ist ein Befehl, sagte er sich. Mein ist das Denken, spricht der Herr. Signal ertönt. Sprung auf, marsch, marsch. Keine Widerrede. Guardian.
Trotzdem, komisch, er hatte es kommen sehen, dachte er und starrte noch immer hinaus auf die dunstverhüllte Ebene. Keine großartige Ahnung oder dergleichen Humbug: einfach, ja, ein Gefühl, daß es Zeit sei. Fällig. Reif. Aber anstatt einer fröhlichen Aufwallung von Tatendrang überkam seinen ganzen Körper tiefe Lethargie. Er fühlte sich plötzlich zu müde, zu fett, zu schläfrig, um sich jemals wieder vom Fleck zu bewegen. Er hätte sich am liebsten hingelegt, wo er stand. Er hätte auf dem harten Gras schlafen können, bis sie ihn geweckt hätte oder bis die Nacht gekommen wäre.
Humbug, schalt er sich. Schierer Humbug. Er zog das Telegramm aus der Tasche, schritt energisch ins Haus und rief ihren Namen. »Heh! Altes Haus! Wo steckst du? Schlechte Nachrichten.« Er reichte ihr das Telegramm. »Aus der Traum«, sagte er und ging zum Fenster, damit er ihr nicht beim Lesen zusehen mußte. Er wartete, bis er das Papier flattern und auf dem Tisch landen hörte. Dann drehte er sich um, denn es erfolgte nichts weiter. Sie hatte nichts gesagt, aber sie hatte die Hände unter die Achselhöhlen geklemmt und ihre Körpersprache konnte manchmal ohrenbetäubend sein. Er sah die Finger blindlings herumfuchteln auf der Suche nach einem Halt.
»Geh doch auf eine Weile zu Beth rüber«, schlug er vor. »Beth nimmt dich sofort. Hat dich schrecklich gern. Bei Beth kannst du bleiben, so lang du willst.«
Sie blieb mit gekreuzten Armen stehen, bis er hinunterging, um sein Telegramm abzuschicken. Als er wiederkam, hatte sie seinen Anzug hergerichtet, den blauen, über den sie immer gelacht hatten - seine Gefängniskluft nannte sie ihn -, aber sie zitterte und ihr Gesicht sah weiß und krank aus, wie damals bei der Sache mit den Hornissen. Als er sie küssen wollte, war sie kalt wie Marmor, also gab er es auf. In der Nacht schliefen sie zusammen, und es war schlimmer als Alleinsein.
Am nächsten Mittag verkündete Mamma Stefano atemlos die Neuigkeit. Der adelige Schuljunge sei weggefahren, sagte sie. Er habe seinen Anzug angehabt. Er trug eine Reisetasche, seine Schreibmaschine und den Büchersack. Franco habe ihn mit dem Lieferwagen zum Flugplatz gebracht. Die Waise sei mitgefahren, aber nur bis an die Zufahrt zur autostrada. Als sie ausstieg, habe sie nicht einmal auf Wiedersehen gesagt: habe sich einfach an den Straßenrand gelagert wie der Abfall, der sie ja war. Nachdem sie sie abgesetzt hatten, sei der Schuljunge eine Weile ganz still und in sich gekehrt gewesen. Habe kaum auf Francos geschickte und gezielte Fragen geachtet und nur ständig an seiner graugelben Haarsträhne gezerrt, wie er es oft tat, wenn er sich langweilte oder nachdachte. Am Flugplatz hatten sie noch eine Stunde totzuschlagen, ehe sein Flug aufgerufen wurde, also tranken sie eine Flasche zusammen und spielten Domino, aber als Franco ihn mit dem Fahrpreis übers Ohr hauen wollte, habe der Schuljunge ungewöhnlichen Widerstand geleistet und endlich geschachert wie die wirklich Reichen.
Franco habe es ihr erzählt, sagte sie: ihr Busenfreund. Franco, der als Päderast verschrien war. Hatte sie ihn nicht immer verteidigt, den eleganten Franco, den Vater ihres schwachsinnigen Sohnes? Sie hatten ihre Meinungsverschiedenheiten gehabt - wer hätte die nicht? -, aber es möge doch einmal einer kommen und ihr, wenn er das könne, im ganzen Tal einen aufrechteren, fleißigeren, höflicheren, besser gekleideten Mann nennen als Franco, ihren Freund und Liebhaber! Der Schuljunge sei nach Hause gereist, um seine Erbschaft zu kassieren, sagte sie.
Mister George Smileys bestes Pferd
Nur George Smiley, sagte Roddy Martindale, ein feister Witzbold aus dem Foreign Office, konnte sich zum Kapitän eines havarierten Schiffes ernennen lassen. Nur Smiley, fügte er hinzu, konnte die Miseren einer solchen Ernennung noch verkomplizieren, indem er sich gleichzeitig von seiner schönen, wenn auch ein wenig unsteten Ehefrau trennte.
Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick paßte George Smiley für keine der beiden Rollen, wie Martindale sogleich feststellte. Er war kugelrund und in Kleinigkeiten hoffnungslos nachgiebig. Aus angeborener Schüchternheit wurde er gelegentlich bombastisch, und auf Männer von Martindales Temperament wirkte seine Bescheidenheit wie ein stetiger Vorwurf. Außerdem war er kurzsichtig, und wer ihn an jenen ersten Tagen nach dem Debakel sah, mit seinen runden Brillengläsern und im Beamtenzivil, wie er, begleitet von seinem schlanken, schweigsamen Schildknappen Peter Guillam, leise auf den besonders morastigen Pfaden des Whitehall-Dschungels dahinwatschelte; oder zu den unmöglichsten Tag- und Nachtstunden in seinem schäbigen Thronsaal auf der fünften Etage des edwardianischen Mausoleums am Cambridge Circus, das er jetzt leitete, über einen Stoß Akten gebeugt saß, der mochte dafürhalten, daß Smiley, und nicht der tote Haydon, der weiland russische Spion, den Beinamen »Maulwurf« verdiente. Nach diesen langen Arbeitsstunden in dem höhlenartigen und halb verlassenen Bau wurden die Säcke unter seinen Augen zu Geschwülsten, er lächelte selten, obwohl er keineswegs humorlos war, und manchmal schien ihm von der bloßen Mühe des Aufstehens der Atem zu stocken, stand er dann glücklich aufrecht, so verhielt er eine Weile mit leicht geöffnetem Mund und stieß ein leises schnarchendes »Ah« aus, ehe er sich in Bewegung setzte. Wenn er nach alter Angewohnheit seine Brille zerstreut mit dem breiten Krawattenende polierte, wirkte sein Gesicht so bestürzend nackt, daß eine sehr altgediente Sekretärin - eine der Damen, die im Hausjargon »die Mütter« hießen - mehr als einmal von einem kaum noch zu bändigenden Drang gepackt wurde, aus dem die Psychiater alles mögliche hergemacht hätten: aufzuspringen und ihn vor der unmöglichen Aufgabe zu beschützen, die er sich vorgenommen zu haben schien. »George Smiley mistet nicht nur den Stall aus«, bemerkte der obengenannte Roddy Martindale beim Lunch im Garrick, »er trägt auch noch sein Pferd selber durchs Ziel. Hah, hah.« Andere Gerüchte, hauptsächlich von Abteilungen verbreitet, die selbst an einer Übernahme der angeschlagenen Dienststelle interessiert waren, äußerten sich weniger respektvoll über seine Arbeit.