»Murphy, Murphy«, unterbrach Martello ihn freundlich, »machen Sie's nicht so feierlich, ja, mein Lieber? Wir sind hier nicht im Ausbildungslager, okay? Gürtel lockern, ja, mein Sohn?«
»Sir, erstens: das Wetter«, sagte Murphy, völlig taub gegen Martellos Vorschlag. »April und Mai sind die Übergangsmonate, Sir, zwischen den Nordost-Monsunen und dem Einsetzen der Südwest-Monsune. Die Wetterverhältnisse von einem Tag zum anderen sind nicht vorherzusagen, aber es werden für die Fahrt keine extremen Bedingungen erwartet.« Er benutzte den Zeigestock, um eine Linie von Swatow südwärts zu den Fischgründen zu ziehen, dann von den Fischgründen nordwestlich über Hongkong und den Perlfluß aufwärts nach Kanton.
»Nebel zu erwarten?« fragte Martello.
»Nebel, herrscht um diese Jahreszeit üblicherweise, und die voraussichtliche Bewölkung ist sechs bis sieben Oktas, Sir.«
»Was zum Kuckuck ist ein Okta, Murphy?«
»Ein Okta ist ein Achtel der bedeckten Himmelsfläche, Sir. Die Oktas ersetzen die früheren Zehntel. Taifune im April wurden seit über fünfzig Jahren nicht registriert, und Navy Int. hält Taifune für unwahrscheinlich. Wind aus östlicher Richtung, neun bis zehn Knoten, aber eine Flotte, die unter Wind geht, muß sowohl mit Flauten wie mit Gegenwinden rechnen, Sir. Luftfeuchtigkeit um achtzig Prozent, Temperaturen von fünfzehn bis vierundzwanzig Grad Celsius. Meer ruhig mit geringer Dünung. Strömungen in der Gegend von Swatow zumeist nordöstlich durch die Formosa-Straße mit etwa drei Seemeilen pro Tag. Aber weiter westlich - auf dieser Seite, Sir - «.
»Also das weiß ich selber, Murphy«, warf Martello barsch ein. »Ich weiß, wo Westen ist, verdammt nochmal.« Dann grinste er zu Smiley hinüber, als wollte erjagen: »Diese neunmalklugen Grünschnäbel.«
Murphy war nicht zu erschüttern. »Wir haben dabei den Geschwindigkeitsfaktor sowie die Flottenbewegung an jedem Punkt ihrer Fahrt zu berücksichtigen, Sir.«
»Klar, klar.«
»Der Mond, Sir«, fuhr Murphy fort. »Angenommen, die Flotte hat Swatow in der Nacht vom Freitag, dem 25. April, verlassen, so würde das drei Tage vor Vollmond sein -«
»Warum wird das angenommen, Murphy?«
»Weil die Flotte zu dieser Zeit in Swatow auslief, Sir. Wir bekamen vor einer Stunde die Bestätigung von Navy Int., Sir. Dschunken-Kolonne gesichtet an östlichem Rand von Fischgrund C, bewegt sich langsam im Wind Richtung Westen, Sir. Eindeutige Identifizierung der Führungsdschunke bestätigt.« Knisternde Stille. Martello lief rot an.
»Sie sind ein cleverer Junge, Murphy«, sagte Martello in warnendem Ton. »Aber Sie hätten mir das ein wenig früher mitteilen sollen.«
»Ja, Sir. Ferner angenommen, daß die Dschunke mit Nelson Ko an Bord in der Nacht des 4. Mai in den Gewässern von Hongkong eintreffen soll, so wird der Mond im letzten Viertel stehen, Sir. Wenn wir auch hier von unserem Präzedenzfall ausgehen . . . «
»Das tun wir«, sagte Smiley fest. »Die Flucht wird die genaue Wiederholung von Drakes Reise im Jahr einundfünfzig sein.« Wiederum zog niemand seine Worte in Zweifel, wie Guillam feststellte. Warum nicht? Es war höchst verwirrend. » . . . dann erreicht unsere Dschunke die südlichste Außeninsel Po Toi morgen um zwanzig Uhr und trifft mit der Flotte droben am Perlfluß rechtzeitig zusammen, um am folgenden Tag zwischen zehn Uhr dreißig und zwölf Uhr im Hafen von Kanton einzulaufen, am 5. Mai, Sir.
Während Murphy weiterleierte, linste Guillam verstohlen zu Smiley hinüber und dachte, wie schon so oft, daß er ihn bis zum heutigen Tag nicht besser kenne als zur Zeit ihrer ersten Begegnung, damals in den dunklen Tagen des Kalten Kriegs in Europa. Wohin verschwand er zu den unmöglichsten Tageszeiten? Wollte er in Ruhe von Ann träumen? Von Karla? In welcher Gesellschaft hatte er sich bewegt, wenn er um vier Uhr morgens ins Hotel zurückkehrte? George wird doch nicht einen zweiten Frühling durchmachen, dachte er. Gestern Nacht um elf war ein Aufschrei aus London eingetroffen, und Guillam war hier heraufgetrabt, um ihn in Empfang zu nehmen. Westerby abgängig, hieß es. London fürchtete, Ko habe ihn ermordet oder, noch schlimmer, entführt und gefoltert, und somit würde das Unternehmen platzen. Guillam hielt es für wahrscheinlicher, daß Jerry sich auf dem Weg nach London mit ein paar Flughostessen irgendwo ein Nest gebaut hatte, aber der Dringlichkeitsvermerk ließ ihm keine Wahl, er mußte Smiley wecken und ihm Mitteilung machen. Er rief in Smileys Hotelzimmer an und erhielt keine Antwort, also machte er sich auf und hämmerte an Smileys Tür, und schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als das Schloß zu knacken, denn jetzt hatte die Panik von Guillam Besitz ergriffen: er glaubte, Smiley sei krank geworden. Aber Smileys Zimmer war leer, das Bett unberührt, und als Guillam ein bißchen herumstöberte, entdeckte er fasziniert, daß der alte Außenmann sich die Mühe gemacht hatte, falsche Monogramme in seine Hemden zu nähen. Das war aber auch' alles, was er entdeckte. Er setzte sich also in Smileys Sessel, döste ein und erwachte erst um vier Uhr durch ein winziges Geräusch. Er schlug die Augen auf und sah Smiley, der sich über ihn beugte und ihn aus zwanzig Zentimeter Entfernung anlinste. Wie er so lautlos ins Zimmer gelangt war, wußte Gott allein. »Gordon?« fragte Smiley leise. »Was kann ich für Sie tun?«, denn sie kannten sich natürlich rein beruflich und mußten annehmen, daß die Zimmer mit Wanzen versehen waren. Deshalb sagte Guillam auch nichts, sondern überreichte Smiley nur den Umschlag mit Connies Botschaft, die er las, nochmals las und dann verbrannte. Guillam war beeindruckt, wie ernst er die Meldung nahm. Ungeachtet der frühen Morgenstunde bestand er darauf, sofort zum Konsulat zu gehen und alles Nötige zu veranlassen, also ging Guillam mit ihm und trug sein Gepäck. »Lehrreicher Abend?« fragte Guillam leichthin, als sie die kurze Strecke hügelan marschierten.
»Oh, in etwa, vielen Dank, in etwa«, erwiderte Smiley, ehe er wieder einmal verschwand, und das war alles, was Guillam oder irgend jemand sonst über seine nächtlichen oder sonstigen Wanderungen aus ihm herausbringen konnte. Während Guillam über all das nachdachte, hatte Smiley mit harten Daten zum anhängigen Unternehmen aufgewartet, und zwar auf eine Weise, die keinerlei Rückfragen duldete.
»Äh, George, wir können uns darauf verlassen, wie?« hatte Martello bei Smileys ersten Angaben gefragt. »Wie? Ja, ja, das können Sie.«
»Großartig. Großartige Leistung, George. Ich bewundere Sie«, sagte Martello herzlich nach einer weiteren ratlosen Pause, und danach nahmen sie es, wie es kam, sie hatten keine andere Wahl. Denn niemand, nicht einmal Martello, wagte Smileys Autorität anzuzweifeln.
»Das macht wie viele Fischtage, Murphy?« fragte Martello jetzt. »Die Flotte wird sieben Tage lang gefischt haben und hoffnungsfroh mit vollen Behältern nach Kanton kommen, Sir.«
»Paßt das, George?«
»Ja, o ja, nichts hinzuzufügen, vielen Dank.« Martello fragte, um welche Zeit die Flotte die Fischgründe verlassen müßte, damit Nelsons Dschunke morgen abend rechtzeitig zum Rendezvous käme.
»Ich habe elf Uhr morgen vormittag angesetzt«, sagte Smiley, ohne von seinen Notizen aufzublicken, »Ich auch«, sagte Murphy.
»Diese Ausreißerdschunke, Murphy«, sagte Martello mit einem weiteren ehrfurchtsvollen Blick auf Smiley. »Ja, Sir«, sagte Murphy.
»Kann sie sich so ohne weiteres von der Meute lösen? Unter welcher Legende würde sie in die Gewässer von Hongkong einlaufen?«