Ein Plumps ließ Guillam herumfahren. Fawn hatte wieder einmal seinen Kinositz gewechselt. Als Guillam ihn ansah, blähte Fawn die Nüstern zu einer unverschämten Grimasse. »Er ist übergeschnappt«, dachte Guillam schaudernd. Auch um Fawn sorgte Guillam sich jetzt ernstlich, wenn auch aus anderen Gründen. Vor zwei Tagen hatte Fawn in Guillams Anwesenheit einen widerlichen Zwischenfall verursacht. Smiley war wie üblich allein ausgegangen. Um die Zeit totzuschlagen, hatte Guillam einen Wagen gemietet und war mit Fawn zur chinesischen Grenze gefahren, wo Fawn über die geheimnisvollen Berge gekichert und geprustet hatte. Auf der Rückfahrt mußten sie an einer Verkehrsampel irgendwo auf dem Land stoppen, als ein junger Chinese auf einer Honda sich neben ihren. Wagen schob. Guillam saß am Steuer, Fawn neben ihm. Das Fenster auf Fawns Seite war heruntergedreht, er hatte die Jacke ausgezogen und den linken Arm auf den Rahmen gestützt, so daß er die neue goldene Armbanduhr bewundern konnte, die er sich in der Ladengalerie des Hilton gekauft hatte. Als sie anfuhren, ließ es sich der Chinesenjunge zu seinem Unglück einfallen, nach der Uhr zu grabschen, aber Fawn war viel zu schnell für ihn. Er packte seinerseits das Handgelenk des Jungen, hielt es fest und zog ihn, der sich vergebens loszureißen suchte, samt Honda neben dem Wagen her. Guillam war etwa fünfzig Yards gefahren, ehe er merkte, was vorging, dann hielt er sofort an, worauf Fawn nur gewartet hatte. Fawn sprang heraus, ehe Guillam ihn festhalten konnte, hob den Jungen aus dem Sattel der Honda, zerrte ihn an den Straßenrand und brach ihm beide Arme; dann kehrte er lächelnd zum Wagen zurück. Da Guillam Heidenangst vor einem Skandal hatte, fuhr er schleunigst weg, während der Junge schreiend zurückblieb und seine herabbaumelnden Arme anstarrte. Als sie in Hongkong ankamen, war Guillam fest entschlossen, Fawn unverzüglich bei George zu verklagen, aber zu Fawns Glück wurde es acht Uhr, ehe Smiley auftauchte, und Guillam vermutete, daß George inzwischen für den Moment genug habe. Wieder klingelte ein Telefon, diesmal das rote. Martello nahm den Anruf persönlich entgegen. Er lauschte eine Weile und brach dann in lautes Lachen aus.
»Sie haben ihn gefunden«, sagte er zu Smiley und hielt ihm den Hörer hin.
»Wen?«
Der Hörer schwebte zwischen ihnen.
»Ihren Mann, George. Ihren Weatherby.«
»Westerby« berichtigte Murphy, und Martello schleuderte ihm einen giftigen Blick zu.
»Sie haben ihn« sagte Martello.
»Wo ist er?«
»Wo war er, wollen Sie sagen! George, er hat sich in zwei Puffs droben am Mekong gründlich ausgetobt. Wenn unsere Leute nicht übertreiben, dann ist er die heißeste Nummer, seit Barnums Elefantenbaby anno 49 die Stadt verließ!«
»Und wo ist er jetzt, bitte?«
Martello drückte ihm den Hörer in die Hand. »Am besten lassen Sie sich die Meldung selber vorlesen, okay? Er soll den Fluß überquert haben oder so.« Er wandte sich zu Guillam um und zwinkerte. »In Vientiane soll's auch ein paar Plätzchen geben, wo er sich betätigen könnte«, sagte er und lachte lang und herzhaft, während Smiley geduldig dasaß, den Telefonhörer am Ohr.
Jerry suchte sich ein Taxi mit zwei Seitenspiegeln und setzte sich neben den Fahrer. In Kaulun mietete er bei der größten Firma, die er finden konnte, einen Wagen. Er zeigte den Fluchtpaß und den dazugehörigen Führerschein vor, weil er blitzschnell überlegt hatte, daß der falsche Name sicherer sein könnte, wenn auch nur für eine Stunde. Als er die Midlevels hinauffuhr war es dämmrig, es regnete noch immer, und um die Neonlampen, die den Abhang beleuchteten, schwebten riesige Monde. Er fuhr am amerikanischen Konsulat vorbei und zweimal an Star Heights, in der vagen Erwartung, Sam Collins zu sehen, und beim zweitenmal glaubte er mit Sicherheit, ihre Wohnung ausfindig gemacht zu haben. Das Licht brannte: ein eleganter italienischer Kunstleuchter, soviel man sah, hing hinter dem Panoramafenster, dreihundert Dollar Angabe. Auch das Mattglasfenster des Badezimmers war erleuchtet. Als er zum drittenmal vorbeikam, sah er sie, wie sie einen Umhang um die Schultern schlug, und sein Instinkt oder etwas an der Förmlichkeit ihrer Bewegung sagte ihm, daß sie sich auch heute für einen abendlichen Ausgang rüstete, aber diesmal war sie in großer Aufmachung.
Sooft er sich den Gedanken an Luke erlaubte, legte sich ein schwarzer Schleier über seine Augen, und er stellte sich vor, daß er etwas Edles, Sinnloses tun werde, zum Beispiel Lukes Angehörige in Kalifornien anrufen oder den Zwerg im Büro oder sogar, zu welchem Zweck auch immer, den Rocker. Später, dachte er. Später, so gelobte er sich, würde er Luke gebührend betrauern. Er glitt langsam die Auffahrt des Hauses hinauf bis zum Fahrstreifen vor dem Parkplatz. Der Parkplatz war dreireihig angelegt, und Jerry kurvte herum, bis er den roten Jaguar entdeckte. Er stand in einer sicheren Ecke, die durch eine Kette abgetrennt war, damit kein unvorsichtiger Nachbar dem funkelnden Lack zu nahe kommen könnte. Das Steuerrad war mit imitiertem Leopardenfell bezogen. Sie kann für den verdammten Wagen nicht genug tun. Sollte ein Kind kriegen, dachte er wütend, sich einen Hund kaufen oder Mäuse züchten. Um ein Haar hätte er die Kühlerhaube eingedrückt, aber eben nur um jenes bewußte Haar, das ihn öfter zurückgehalten hatte, als er wahrhaben wollte. Wenn sie den Jaguar nicht benutzt, dann schickt er ihr die Limousine, dachte er. Vielleicht sogar mit Tiu als Bordschützen. Oder er kommt persönlich. Oder sie putzt sich nur fürs abendliche Opferfest raus und geht überhaupt nicht weg. Er wünschte, es wäre Sonntag. Craw hatte ihm einmal gesagt, daß Drake Ko die Sonntage im Familienkreise verbringe und daß Lizzie sich den Tag allein vertreiben müsse. Aber es war nicht Sonntag, und er hatte auch nicht den guten alten Craw an seiner Seite, der ihm hätte sagen können, daß Ko geschäftlich verreist war, in Bangkok oder in Timbuktu.
Dankbar, daß der Regen sich in Nebel verwandelte, fuhr Jerry zurück zur Auffahrt und fand an der Einmündung einen schmalen Randstreifen, wo er den Wagen so dicht an der Barriere abstellte, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer sich eben noch vorbeidrücken konnten, wenn auch schimpfend. Er schrammte die Barriere, aber das war ihm egal. Von seinem Platz aus konnte er beobachten, wie die Leute den Häuserblock unter der gestreiften Markise betraten und verließen, die Autos von der Hauptstraße ab- oder in sie einbogen. Er empfand nicht das Bedürfnis, sich in acht zu nehmen. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Limousinen rauschten in beiden Richtungen an ihm vorbei, aber Kos Wagen war nicht darunter. Manchmal, wenn ein Wagen sich an ihm vorbeizwängte, verlangsamte der Fahrer und hupte oder fluchte, aber Jerry nahm keine Notiz davon. Alle paar Sekunden warf er einen Blick in die Spiegel, und einmal, als eine plumpe Gestalt, die Tiu hätte sein können, verstohlen hinter ihm herangewatschelt kam, entsicherte er sogar die Pistole in der Jackentasche, ehe er erkannte, daß der Mann weit weniger muskulös war als Tiu. Treibt vermutlich Spielschulden bei den pac-pai-Chauf teuren ein, dachte er, als die Gestalt an ihm vorbeiging. Er dachte daran, wie er mit Luke zusammen im Happy Valley war. Er dachte überhaupt daran, wie er mit Luke zusammen war. Er blickte noch immer in den Spiegel, als der rote Jaguar hinter ihm aus der Parkplatzausfahrt auftauchte. Die Fahrerin war allein, das Verdeck hochgeschlagen. Die eine Möglichkeit, an die er nicht gedacht hatte: daß sie mit dem Lift direkt zum Parkplatz fahren und dort einsteigen könnte, anstatt sich, wie damals, den Wagen vom Portier vor die Tür stellen zu lassen. Als er hinter ihr herfuhr, warf er einen Blick nach oben und sah, daß das Licht hinter ihren Fenstern noch immer brannte. War jemand in der Wohnung zurückgeblieben? Oder wollte sie gleich wieder heimkommen? Dann dachte er, sei bloß nicht überschlau, sie verschwendet einfach Strom.