»Oder auch nicht so lange, falls es regnet«, fügte er mit jäher Gehässigkeit hinzu.
Aber nicht nur Martindale und seine Kollegen im Vorfeld von Whitehall lebten im Stande paradiesischer Unschuld, was die Realität von Smileys Welt betraf, auch jene, die dem Thron näher standen, fühlten sich von Smiley auf Distanz gehalten. Die Kreise um ihn wurden je näher, desto kleiner, und nur verflixt wenige drangen bis zum Mittelpunkt vor. Auch hinter dem braunen häßlichen Portal des Circus und seinen behelfsmäßigen, mit wachsamen Pförtnern bemannten Barrieren gab Smiley keine seiner gewohnten Abschirmungsmaßnahmen auf. Bei Tag wie bei Nacht blieb die, Tür zu seiner winzigen Bürosuite verschlossen, und seine einzige Gesellschaft bestand aus Peter Guillam und einem allgegenwärtigen finsterblickenden Faktotum namens Fawn, dem Mann, der sich mit Guillam den Job als Smileys Babysitter geteilt hatte, während sie Haydon ausräucherten. Manchmal verschwand Smiley nur mit einem Nicken durch den Hinterausgang, begleitet von Fawn, einem kleinen geschmeidigen Mann, während Guillam zurückbleiben mußte, um die Telefonanrufe entgegenzunehmen und in dringenden Fällen Smiley zu benachrichtigen. Die Mütter verglichen sein Benehmen mit den letzten Tagen Controls, der dank Haydon an gebrochenem Herzen in den Sielen gestorben war. Im Zug der Gesetzmäßigkeiten in einer geschlossenen Gesellschaft wurde der Hausjargon um ein neues Wort bereichert. Haydons Entlarvung hieß jetzt nur noch der Sündenfall, und die Geschichte des Circus zerfiel in die Zeiträume vor dem Sündenfall und danach. Der materielle Verfall des Gebäudes, das zu drei Viertel leer stand und seit dem Besuch der Frettchen eher einer Ruine glich, verlieh Smileys An- und Abwesenheiten etwas von Untergangsstimmung, die für alle, die damit leben mußten, symbolisch wurde. Was die Frettchen einreißen, wird nicht wieder aufgerichtet: und das gleiche galt vielleicht für Karla, dessen verstaubte Züge von dort, wo der meist unsichtbare Chef sie plaziert hatte, aus dem Dämmer seines spartanischen Büros nun auf sie herabblickte. Das wenige, was sie wüßten, war schauderhaft. Belangloses, wie zum Beispiel die Personalfrage, nahm erschreckende Dimensionen an. Smiley mußte aufgeflogene Agenten entlassen und aufgeflogene Residenturen auflösen; die des armen Tufty Thesinger in Hongkong war, da Hongkong ziemlich weit vom antisowjetischen Schauplatz entfernt liegt, eine der letzten, die daran glauben mußten. In der Umgebung Whitehalls, ein Gelände, das sie wie Smiley mit tiefem Mißtrauen betrachteten, hörten sie, daß Thesinger in bizarre und erbitterte Auseinandersetzungen über die Bedingungen einer Abfindung oder Neubestallung verwickelt sei. Es war anscheinend vorgekommen - und wiederum lieferte der arme Tufty Thesinger in Hongkong das nächstliegende Beispiel -, daß Bill Haydon mit voller Absicht die Überbewertung lahmliegender Residenten betrieben hatte, solcher, die zuverlässig keine eigene Initiative entwickeln würden. Sollten sie nun nach ihrem wirklichen Wert entlohnt werden oder nach dem künstlich hochgetriebenen, den Haydon ihnen zum Schaden der Sache verliehen hatte? In anderen Fällen wiederum hatte Haydon zu seiner eigenen Sicherheit Entlassungsgründe gedrechselt. Sollten solche Leute die volle Pension erhalten? Hatten sie Anspruch auf Wiedereinstellung? Ratlose junge Minister, die seit den Wahlen neu ins Amt gekommen waren, trafen tapfere und widersprüchliche Entscheidungen. Die Folge war, daß ein trauriger Zug von getäuschten Circus-Außenleuten, Männern und Frauen, von Smiley abgefertigt werden mußte und die Housekeepers angewiesen wurden, aus einschlägigen Gründen - und vielleicht auch um der Ästhetik willen - auf keinen Fall einen dieser Heimkehrer aus ausländischen Stützpunkten einen Fuß ins Innere des Hauptgebäudes setzen zu lassen. Auch duldete Smiley keinerlei Kontakt zwischen den Verdammten und den noch einmal Davongekommenen. Also eröffneten die Housekeepers, mit widerwilligem Einverständnis des Walisers Hammer, in einem gemieteten Haus in Bloomsbury eine Meldestelle, die sie als Sprachenschule tarnten (Besuch nur nach vorheriger Vereinbarung) und mit einem Quartett aus Beamten der Zahl- und Personalstelle bemannten. Aus dieser Einrichtung wurde alsbald die Bloomsbury Group, und man hörte, daß Smiley es sich nicht nehmen ließ, manchmal auf ein abgezwacktes Stündchen oder so hinüberzuhuschen und, wie bei einem Trauerbesuch, verschiedenen, ihm häufig unbekannten Gesichtern sein Beileid auszusprechen. Dann wieder, je nach Stimmung, sprach er kein Wort, sondern thronte nur geheimnisvoll und buddhagleich in einer Ecke des staubigen Vernehmungsraums. Was trieb ihn dorthin? Was suchte er? Wenn der Grund Zorn war, dann war es ein Zorn, der ihnen in jenen Tagen allen gemeinsam war. Sie konnten nach einem langen Tagewerk in der Rumpelkammer unterm Dach sitzen, scherzend und schwatzend; aber wenn jemand den Namen Karla oder seines Maulwurfs Haydon verlauten ließ, senkte sich eisiges Schweigen über den Raum, und nicht einmal die gerissene alte Connie Sachs, die Moskau-Tante Bann zu brechen. Sogar noch ergreifender waren in den Augen seiner Untergebenen Smileys Bemühungen, wenigstens einen Teil der Agentennetze aus dem Schiffbruch zu retten. Innerhalb eines Tages nach Haydons Festnahme waren alle neun Netze des Circus in Rußland und Osteuropa tot gewesen. Die Funkverbindung abgerissen, der Kurierverkehr eingestellt, und man durfte mit gutem Grund annehmen, daß etwaige echte Circus-Agenten, die. sich dort befunden hatten, über Nacht aufgerollt worden waren. Aber Smiley widersetzte sich leidenschaftlich dieser billigen Ansicht, genau wie er es nicht hinnehmen wollte, daß Karla und die Moskauer Zentrale im Verbund unschlagbar tüchtig seien, oder tadellos, oder logisch. Er entnervte Lacon, er entnervte die Vettern in ihren weitläufigen Anbauten am Grosvenor Square, er bestand darauf, daß die Funkfrequenzen der Agenten weiterhin abgehört würden, und trotz erbitterter Proteste des Foreign Office - Roddy Martindale wie immer an vorderster Stelle - ließ er durch die Auslandsdienste von BBC unverschlüsselte Meldungen ausstrahlen, wonach jeder lebende Agent, der sie zufällig hörte und das Codewort kannte, sich unverzüglich auf die Socken machen solle. Und, ganz allmählich und zu ihrem großen Erstaunen, trafen winzigkleine Lebenszeichen ein, wie verstümmelte Botschaften von einem anderen Stern.
Zuerst meldeten die Vettern in der Person ihres verdächtig offenherzigen Londoner Dienststellenleiters Martello vom Grosvenor Square, daß ein amerikanischer Fluchtkanal zwei britische Agenten durchschleuse, einen Mann und eine Frau. Sie würden zu dem alten Badeort Sochi am Schwarzen Meer gebracht, wo ein kleines Boot für den, wie Martellos schweigsame Leute es hartnäckig nannten, »Exfiltrationsauftrag« bereitlag. Der Beschreibung nach handelte es sich um die Tschurajews, Knotenpunkte des Netzes Contemplate, das für Georgien und die Ukraine zuständig war. Ohne die Genehmigung des Schatzamtes abzuwarten, holte Smiley einen gewissen Roy Bland aus der Versenkung hervor, einen stämmigen ex-marxistischen Dialektiker und zeitweiligen Außenagenten, der die Einsätze dieses Netzes geleitet hatte. Diesem Bland, den es beim Sündenfall ebenfalls erwischt hatte, vertraute er das russische Gespann de Silsky und Kaspar an, die auch eingemottet, auch zwei ehemalige Haydon-Proteges waren, damit sie zu dritt den Ankömmlingen Hilfestellung geben könnten. Sie saßen noch in ihrem Transportflugzeug der Royal Air Force, als die Meldung durchkam, daß das Paar beim Verlassen des Hafens erschossen worden sei. Der Exfiltrationsauftrag sei danebengegangen, sagten die Vettern. In aufrichtigem Mitgefühl telefonierte Martello Smiley die Nachricht persönlich durch. Er war nach seiner eigenen Ansicht ein freundlicher Mensch und wie Smiley ein Mann der alten Schule. Es war Nacht, und es regnete in Strömen.
»Nehmen Sie's bloß nicht so schwer, George«, ermahnte er ihn in seinem onkelhaften Tonfall. »Hören Sie? Die einen sind draußen, und die anderen sitzen am Schreibtisch, und Sie und ich müssen dafür sorgen, daß die Unterscheidung gewahrt bleibt. Sonst werden wir alle verrückt. Man kann sich nicht für jeden einzelnen umbringen. Das ist Feldherrnlos. Also denken Sie daran.« Peter Guillam, der, als der Anruf kam, dicht neben Smiley saß, schwor später, Smiley habe keine besondere Reaktion gezeigt: und Guillam kannte ihn gut. Dennoch war Smiley zehn Minuten später von allen unbemerkt verschwunden, und sein geräumiger Regenmantel hing nicht mehr am Haken. Er kam nach Einbruch derDämmerung zurück, naß bis auf die Haut, den Regenmantel trug er noch immer über dem Arm. Er zog sich um und setzte sich wieder an den Schreibtisch, aber als Guillam auf Zehenspitzen hereinkam und ihm unaufgefordert Tee brachte, sah er zu seiner größten Verlegenheit seinen Herrn stocksteif vor einem alten Band deutscher Lyrik sitzen, die geballten Fäuste auf der Tischplatte, und lautlos weinen.