Nirgends ein Foto von Rupfensäcken voller Opium. Die Freistatt des Chefs, dachte Jerry. Old Sambo hatte deren mehrere gehabt: Mädchen, denen er Wohnungen hielt, einer sogar ein Haus, und die ihn doch nur ein paarmal im Jahr zu sehen kriegten. Aber immer dieser ganz besondere Raum mit dem Schreibtisch und den unbenutzten Telefonen und den Erinnerungsfotos, eine Ecke, die er buchstäblich aus dem Leben eines anderen Menschen herausgeschnitten hatte, ein Versteck vor seinen anderen Verstecken.
»Wo ist er?« fragte Jerry und mußte wieder an Luke denken.
»Drake?«
»Nein, der Weihnachtsmann.«
»Das möchte ich von Ihnen wissen.«
Er folgte ihr ins Schlafzimmer.
»Wissen Sie oft nicht, wo er ist?« fragte er.
Sie zog die Ohrringe ab und warf sie in eine Schmuckschatulle.
Dann die Brosche, die Halskette und die Armbänder.
»Er ruft mich von überall her an, bei Tag oder Nacht, ganz egal.
Dies ist das erste Mal, daß er nichts von sich hören läßt.«
»Können Sie ihn zu Hause anrufen?« fragte Jerry.
»Aber jederzeit«, erwiderte sie mit wildem Hohn. »Klar kann ich das. Erste Gattin und ich kommen blendend miteinander aus.
Wußten Sie das nicht?«
»Und im Büro?«
»Er geht nicht ins Büro.«
»Wie steht's mit Tiu?«
»Dieser Schuft von Tiu!«
»Warum?«
»Weil er ein Schwein ist«, fauchte sie und riß eine Schranktür auf. »Er könnte eine Botschaft von Ihnen übermitteln.«
»Wenn er Lust dazu hätte, was er nicht hat.«
»Warum nicht?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Sie zerrte einen Pullover und Jeans heraus und schleuderte sie aufs Bett. »Weil er mich nicht mag. Weil er mir nicht traut. Weil er nicht zuläßt, daß ein Rundauge seinen Hohen Herrn belästigt. Gehen Sie jetzt raus, solange ich mich umziehe.«
Er schlenderte also wieder in den Wohnraum, wo er mit dem Rücken zur Tür stehenblieb und das Rascheln von Seide auf Haut hörte.
»Ich war bei Ricardo«, sagte er. »Wir hatten einen umfassenden und sehr offenen Meinungsaustausch.«
Er mußte unbedingt wissen, ob sie davon erfahren hatte. Er mußte sie von Lukes Tod freisprechen können. Er wartete eine Weile, dann fuhr er fort:
»Charlie Marshall gab mir die Adresse, also bin ich bei ihm aufgetaucht, und wir haben ein bißchen geplaudert.«
»Großartig«, sagte sie. »Demnach gehören Sie jetzt zur Familie.«
»Von Mellon war auch die Rede. Angeblich haben Sie für ihn Rauschgift geschmuggelt.«
Sie schwieg. Als er sich zu ihr umdrehte, saß sie auf dem Bett und hielt den Kopf in den Händen. In Jeans und Pullover sah sie aus wie fünfzehn und wirkte um eine Handbreit kleiner als sonst. »Was wollen Sie denn eigentlich?« flüsterte sie endlich, so leise, als hätte sie sich selber die Frage gestellt. »Sie«, sagte er. »Für immer.«
Er wußte nicht, ob sie es gehört hatte, denn ihre Antwort bestand nur in einem langen Ausatmen und einem geflüsterten »Mein Gott«.
»Sind Sie mit Mellon befreundet?« fragte sie schließlich. »Nein.«
»Schade. Er braucht einen Freund wie Sie.«
»Weiß Arpego, wo Ko ist?«
Sie zuckte die Achseln.
»Wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?«
»Vor einer Woche.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat verschiedene Erledigungen.«
»Welche Erledigungen?«
»Hören Sie um Himmels willen mit der Fragerei auf! Die ganze verdammte Welt stellt Fragen, also müssen Sie sich unbedingt anschließen, wie?«
Er starrte sie an, und ihre Augen loderten vor Zorn und Verzweiflung. Er öffnete die Tür zur Terrasse und trat hinaus. Ich brauche Instruktionen, dachte er erbittert. Bärentreiber von Sarratt, wo seid ihr, jetzt, da ich euch brauche? Bisher war ihm nicht aufgegangen, daß er auch den Lotsen verlor, als er das Seil durchschnitt.
Die Terrasse umlief die Wohnung auf drei Seiten. Der Nebel hatte sich vorübergehend verzogen. Dahinter lag der Peak, die Vorsprünge waren von goldenen Lichtern bekränzt. Ziehende Wolkenbänke bildeten rings um den Mond wechselnde Höhlungen. Der Hafen hatte seinen ganzen Staat angelegt, in der Mitte räkelte sich ein angestrahlter, aufgeputzter amerikanischer Flugzeugträger wie eine verwöhnte Dame inmitten einer Traube dienernder Jachten. Die auf dem Deck abgestellten Hubschrauber und kleinen Kampfflugzeuge erinnerten ihn an die Luftbasis in Thailand. Eine Formation hochseetüchtiger Dschunken zog in Richtung Kanton langsam vorüber. »Jerry?«
Sie stand unter der Tür und beobachtete ihn hinter einer Reihe von Bäumen, die in Kübeln gepflanzt waren. »Kommen Sie rein. Ich bin hungrig«, sagte sie. Es war eine Küche, in der niemand kochte oder aß, aber sie hatte eine bayrische Ecke mit Holzbänken, Berglandschaften und Aschenbechern mit der Aufschrift Carlsberg. Lizzie goß Kaffee aus der Maschine ein. Er stellte fest, daß sie, wenn sie vor etwas auf der Hut war, die Schultern vorschob und die Unterarme vor der Brust gekreuzt hielt, wie es auch die Waise immer getan hatte.
Sie zitterte. Sie muß schon die ganze Zeit gezittert haben, dachte er, seit er ihr die Pistole in den Rücken gedrückt hatte, und er wünschte, er hätte es nicht getan, denn langsam dämmerte ihm, daß ihr genauso schlimm zumute war wie ihm, vielleicht sogar erheblich schlimmer, und daß sie wirkten wie zwei Menschen nach einer Katastrophe, ein jeder lebte seine eigene Hölle: Er bereitete ihr einen Brandy mit Soda, für sich selber auch einen, und setzte sich ins Wohnzimmer, wo es wärmer war, und sah zu, wie sie dort kauerte und den Brandy trank und auf den Teppich starrte.
»Musik?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin auf eigene Rechnung hier«, sagte er. »Keinerlei Verbindung mit einer anderen Firma.« Sie reagierte nicht.
»Ich bin aus freien Stücken und ohne böse Absicht hier«, sagte er. »Nur, ein Freund von mir ist vor kprzen gestorben.« Er sah, daß sie nickte, aber nur aus Mitgefühl. Er war überzeugt, daß die Mitteilung ihr nichts sagte.
»Die Sache mit Ko nimmt üble Formen an«, sagte er. »Sie wird kein gutes Ende nehmen. Rauhe Burschen, mit denen Sie sich da eingelassen haben. Ko eingeschlossen. Objektiv gesehen ist er der Staatsfeind Nummer eins. Ich dachte mir, vielleicht möchten Sie aussteigen. Deshalb bin ich zurückgekommen. Sir Galahad persönlich. Weil ich einfach nicht dahinterkomme, was sich um Sie zusammenbraut. Mellon und so weiter. Vielleicht sollten wir's zusammen ausknobeln und sehen, worum's geht.« An dieser Stelle seiner nicht besonders lichtvollen Ausführungen klingelte das Telefon. Das heißt, es gab jenes gedämpfte Schnarren von sich, das angeblich die Nerven schont.