Das Telefon stand auf der anderen Seite des Zimmers auf einem vergoldeten Teewagen. Bei jedem Ton flammte ein Lämpchen auf, und die gerippten Glasregale warfen den Schein zurück. Lizzie blickte auf den Apparat, dann auf Jerry, und ihr Gesicht war plötzlich lebhaft und voll Hoffnung. Jerry sprang auf und schob den Wagen, dessen Räder im Flor des Teppichs nur mühsam rollten, zur ihr hinüber. Hinter ihm ringelte sich die Schnur, bis sie die Form einer Kinderkritzelei angenommen hatte. Sie hob rasch den Hörer ab und sagte »Worth«, in dem ein wenig barschen Tonfall, den Frauen annehmen, wenn sie allein leben. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, daß die Leitung angezapft war, aber er wußte nicht, wovor er sie warnen sollte: er gehörte nirgends mehr hin, weder auf die eine noch auf die andere Seite. Er wußte nicht, welches die Seiten waren, aber plötzlich war sein ganzes Denken wieder von Luke erfüllt, und der Jäger in ihm war hellwach.
Sie hielt den Hörer ans Ohr, aber sie hatte nichts mehr gesagt. Nur einmal ein »Ja«, als bestätige sie einen Befehl, und einmal sehr entschieden »nein«. Ihre Miene war ausdruckslos geworden, ihre Stimme verriet ihm nichts. Aber er spürte ihren Gehorsam und er spürte die Heimlichkeit, und Zorn flammte in ihm auf und überlagerte alles andere.
»Nein«, sagte sie ins Telefon. »Ich bin früher weggegangen.« Er kniete neben ihr und versuchte mitzuhören, aber sie preßte den Hörer fest an ihr Ohr.
Warum fragte sie ihn nicht, wo er sei? Warum fragte sie nicht, wann sie ihn wiedersehen würde? Ob es ihm gut gehe? Warum er nicht angerufen habe? Warum sah sie Jerry so an, ohne ein Anzeichen von Erleichterung?
Er legte die Hand auf ihre Wange, drehte ihr den Kopf herum und flüsterte ihr ins andere Ohr.
»Sagen Sie, daß sie ihn unbedingt sehen müssen. Daß Sie zu ihm kommen. Egal wohin.«
»Ja«, sagte sie wieder ins Telefon. »All right. Ja.«
»Sagen Sie's ihm! Sagen Sie, daß Sie ihn sehen müssen!«
»Ich muß dich sehen«, sagte sie schließlich. »Ich komme zu dir, egal wo du bist.«
Sie hielt noch immer den Hörer in der Hand. Sie zuckte die Achseln, eine fragende Bewegung, und ihre Augen waren noch immer auf Jerry gerichtet - nicht auf ihren Sir Galahad, sondern auf einen Teil jener feindlichen Welt, die sie von allen Seiten bedrängte.
»Ich liebe dich!« flüsterte er. »Sprechen Sie mir nach!«
»Ich liebe dich«, sagte sie kurz mit geschlossenen Augen, und legte auf, ehe er sie daran hindern konnte.
»Er kommt hierher«, sagte sie. »Der Teufel soll Sie holen.«
Jerry kniete noch immer neben ihr. Sie stand auf und entfernte sich von ihm.
»Weiß er es?« fragte Jerry.
»Ob er was weiß?«
»Daß ich hier bin?«
»Vielleicht.« Sie zündete sich eine Zigarette an.
»Wo ist er jetzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Wann kommt er?«
»Er sagt bald.«
»Ist er allein.«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Ist er bewaffnet?«
Sie stand auf der anderen Seite des Zimmers. Die gespannten grauen Augen hielten ihn noch immer in ihrem zornig-ängstlichen Blick fest. Aber Jerry kümmerte sich nicht um ihre Stimmung. Ein fieberhafter Tatendrang hatte alle anderen Gefühle hinweggefegt.
»Drake Ko. Der liebenswerte Mann, der Sie hier einlogiert hat. Ist er bewaffnet. Wird er mich abknallen? Hat er Tiu bei sich? Ich frage nur.«
»Im Bett ist er unbewaffnet, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.«
»Wo gehen Sie hin?«
»Ich dachte, die Herren wollen vielleicht unter sich sein.« Er führte sie zurück zum Sofa und setzte sie so hin, daß sie auf die Flügeltür am Ende des Zimmers blickte. Die Türfüllungen bestanden aus undurchsichtigem Glas, dahinter lagen die Diele und die Wohnungstür. Er öffnete beide Flügel, so daß sie freien Blick auf jeden Ankömmling hatte.
»Haben Sie bestimmte Regeln für das Aufmachen?« Sie begriff seine Frage nicht. »In der Tür ist ein Guckloch. Will er, daß Sie immer erst nachsehen, ehe Sie jemand einlassen?«
»Er ruft von unten über das Haustelefon an. Dann sperrt er mit seinem eigenen Schlüssel auf.«
Die Wohnungstür bestand aus furnierter Hartfaser, nicht sehr solide, aber solide genüg. In Sarratt sagten sie, wenn man einen einzelnen ahnungslosen Eindringling abpaßt, bloß nicht hinter die Tür stellen, sonst kommt man nie wieder raus. Jerry fand ausnahmsweise, daß sie recht, hätten. Nur, wenn er sich auf der offenen Seite hielte, so würde er eine ideale Zielscheibe für aggressive Charaktere bilden, und Jerry war keineswegs überzeugt, daß Ko ahnungslos oder allein sein würde. Er könnte vielleicht hinter dem Sofa warten, aber wenn es zu einer Schießerei käme, geriete das Mädchen womöglich in die Feuerlinie, und das wollte er auf keinen Fall. Ihre wiedergewonnene Passivität und ihr lethargisches Starren trugen nicht zu seiner Beruhigung bei. Sein Brandyglas stand neben dem ihren auf dem Tisch. Er stellte es ruhig hinter eine Vase mit künstlichen Orchideen, leerte den Aschenbecher und legte eine aufgeschlagene Nummer von Vogue vor ihr auf den Tisch. »Spielen Sie Platten, wenn Sie allein sind?«
»Manchmal.« Er wählte Ellington.. »Zu laut?«
»Lauter«, sagte sie. Argwöhnisch stellte er den Ton leiser und beobachtete sie. Da flötete das Haustelefon zweimal in der Diele. »Vorsicht«, warnte er sie und ging mit der Pistole in der Hand zur offenen Seite der Wohnungstür, in Zielscheiben-Position, einen Meter von der Tür entfernt, nah genug, um vorzuspringen, weit genug, um schießen und sich zu Boden werfen zu können, was er vorhatte, als er halb in die Hocke ging. Er hielt die Waffe in der linken Hand und nichts in der rechten, denn auf diese Entfernung würde er beidhändig treffen, doch falls er zuschlagen müßte, brauchte er die freie Rechte. Er erinnerte sich, wie Tiu die Finger gekrümmt hielt und ermahnte sich, nicht zu nahe heranzugehen. Alles, was er tun würde, aus gemessener Entfernung zu tun. Einen Tritt in die Leiste, aber sich danach nicht auf ihn werfen. Aus der Reichweite dieser Hände bleiben. »Sagen Sie >Komm rauf<«, befahl er.
»Komm rauf«, wiederholte Lizzie ins Telefon. Sie legte auf und hakte die Kette aus.
»Wenn er hereinkommt, lächeln sie in die Kamera. Nicht schreien.«
»Scheren Sie sich zum Teufel.«
Sein geschärftes Ohr hörte den Ruck, mit dem der Lift hielt und das klimpernde »Ping« der Glocke. Er hörte Schritte sich der Tür nähern, ein einziges Paar Füße, stetige Schritte, und er dachte an Drake Kos komische, leicht affenartige Gangart in Happy Valley, wie die Knie sich durch die graue Flanellhose abzeichneten. Ein Schlüssel glitt ins Schloß, eine Hand griff um die Türkante, der Rest folgte offenbar ohne böse Ahnung. Inzwischen hatte Jerry bereits sein ganzes Gewicht in den Sprung gelegt und den Körper, der keinen Widerstand leistete, gegen die Wand gedrückt. Eine Ansicht von Venedig fiel zu Boden, das Glas splitterte, er warf die Tür zu, alles auf einmal, er fand eine Kehle und preßte den Pistolenlauf direkt in das weiche Fleisch. Dann wurde die Tür ein zweitesmal von außen aufgesperrt, sehr schnell, alle Luft wich aus seinem Körper, seine Füße flogen nach oben, eine Welle wahnsinnigen Schmerzes brach aus seinen Nieren und schleuderte ihn auf den dicken Teppich, ein zweiter Schlag traf ihn in die Leisten, so daß er mit einem keuchenden Laut die Knie zum Kinn hochriß. Durch die strömenden Tränen sah er die kleine wütende Gestalt Fawns, des Babysitters, der über ihm stand und zu einem dritten Schlag ausholte, und das starre Grinsen Sam Collins', der gelassen über Fawns Schulter blickte, um festzustellen, wie groß der Schaden sei. Und unter der Tür stand noch immer, mit der Miene ernster Befürchtung, während er den Mantelkragen nach Jerrys grundlosem Angriff auf seine Person wieder in Ordnung brachte, die verdutzte Gestalt seines einstigen Führers und Mentors, Mr. George Smiley, der atemlos seine Bluthunde zurückpfiff.