Jerry konnte sitzen, aber nur, wenn er sich vorbeugte. Er hielt beide Hände vor sich hin und die Ellbogen in die Leisten gepreßt. Der Schmerz flutete durch seinen ganzen Körper wie ein Gift, das sich von einem zentralen Punkt ausbreitet. Lizzie beobachtete ihn von der Tür her. Fawn lauerte auf einen weiteren Anlaß, ihn zu schlagen. Sam Collins saß auf der anderen Seite des Zimmers in einem Lehnstuhl und hatte die Beine übergeschlagen. Smiley hatte Jerry einen strammen Brandy eingegossen, beugte sich über ihn und drückte ihm das Glas in die Hand. »Was tun Sie hier, Jerry?« sagte Smiley. »Ich verstehe das nicht.«
»Flirten«, sagte Jerry und schloß die Augen, als eine neue Woge des Schmerzes über ihm zusammenschlug. »Habe eine unprogrammgemäße Zuneigung zu unserer Gastgeberin gefaßt. Tut mir leid.«
»Sie haben da etwas Gefährliches getan, Jerry«, tadelte Smiley. »Sie hätten das ganze Unternehmen vereiteln können. Wenn es nun Ko gewesen wäre! Die Folgen wären nicht auszudenken.«
»Das glaube ich Ihnen gern.« Er trank einen Schluck Brandy. »Luke ist tot. Liegt in meiner Wohnung mit zerschossenem Schädel.«
»Wer ist Luke?« fragte Smiley, der vergessen hatte, daß er ihm einmal bei Craw begegnet war.
»Niemand. Nur ein Freund.« Er trank nochmals. »Amerikanischer Journalist: Säufer. Kein Verlust für die Menschheit.« Smiley warf einen Blick zu Sam Collins hinüber, aber Sam zuckte die Achseln.
»Niemand, den wir kennen«, sagte er.
»Läuten Sie trotzdem an«, sagte Smiley.
Sam nahm das tragbare Telefon und ging damit aus dem Zimmer.
Er kannte sich in der Wohnung aus.
»Ihr habt sie wohl erpreßt, wie?« sagte Jerry und wies mit dem Kopf auf Lizzie. »Ungefähr das einzige auf der Welt, was ihr bisher noch nicht angetan wurde, soviel ich weiß.« Er rief zu ihr hinüber: »Wie geht's immer, altes Haus? Bitte um Verzeihung wegen der Balgerei. Wir haben doch nichts kaputtgemacht, wie?«
»Nein«, sagte sie.
»Haben Ihnen die Daumenschrauben angesetzt wegen Ihrer gottlosen Vergangenheit, wie? Zuckerbrot und Peitsche? Haben versprochen, daß alles vergeben und vergessen ist? Dummes Mädel, Lizzie. In diesem Spiel darf man keine Vergangenheit haben. Und auch keine Zukunft. Verboten!« Er wandte sich wieder Smiley zu:
»Mehr war nicht dran, George. Keine Philosophie im Spiel. Lizzie hat mir's einfach angetan.«
Er kippte den Kopf zurück und studierte Smileys Gesicht durch die halbgeschlossenen Lider. Und mit der Klarsichtigkeit, die der Schmerz zuweilen bewirkt, begriff er, daß er durch sein Tun auch Smileys Existenz in Gefahr gebracht hatte.
»Keine Angst«, sagte er freundlich. »Wird Ihnen nicht passieren, soviel steht fest.«
»Jerry« sagte Smiley.
» Yessir«, sagte Jerry und tat, als wolle er im Sitzen strammstehen. »Jerry, Sie verstehen nicht, was vorgeht. Wie sehr Sie alles durcheinanderbringen können. Milliarden Dollar und Tausende von Menschen könnten nicht einen Bruchteil dessen erobern, was wir bei diesem einzigen Unternehmen zu gewinnen haben. Ein Heerführer würde sich schief lachen bei dem Gedanken an ein so winziges Opfer für sein so enormes Resultat.«
»Verlangen Sie bloß nicht von mir, daß ich Ihnen aus der Klemme helfe, alter Junge«, sagte Jerry und blickte wieder zu Smileys Gesicht auf. »Sie sind die Eule, erinnern Sie sich? Nicht ich.«
Sam Collins kam zurück. Smiley blickte ihn fragend an.
»Zu den anderen gehört er auch nicht«, sagte Sam.
»Sie hatten es auf mich abgesehen«, sagte Jerry. »Statt dessen haben sie Luke erwischt. Er ist ein Riesenkamel. Oder war es vielmehr.«
»Und er ist in Ihrer Wohnung?« fragte Smiley. »Tot. Erschossen. Und in Ihrer Wohnung?«
»Schon eine ganze Weile.«
Smiley zu Collins: »Wir werden die Spuren verwischen müssen, Sam. Wir können uns keinen Skandal leisten.«
»Dann geh ich jetzt wieder zu ihnen zurück«, sagte Collins.
»Und erkundigen Sie sich nach den Flügen«, rief Smiley ihm nach.
»Zwei Plätze, Erster Klasse.«
Collins nickte.
»Kann den Burschen um die Welt nicht leiden«, gestand Jerry. »Noch nie gekonnt. Muß das Schnurrbärtchen sein.« Er deutete mit dem Daumen auf Lizzie. »Was weiß sie denn, worauf Sie gar so scharf sind, George? Ko flüstert ihr nicht seine teuersten Geheimnisse ins Ohr. Sie ist ein Rundauge.« Er wandte sich zu Lizzie um. »Oder?« Sie schüttelte den Kopf.
»Und wenn, dann könnte sie sich's nicht merken«, fuhr er fort. »In diesem Punkt ist sie unheimlich blöd. Wahrscheinlich hat sie überhaupt nie von Nelson gehört.« Wieder wandte er sich an sie. »Heh. Wer ist Nelson. Los, wer ist er? Kos toter kleiner Sohn, wie? Stimmt. Hat sein Schiff nach ihm getauft, ja? Und sein Hoppepferdchen.« Er drehte sich wieder zu Smiley um. »Haben Sie's jetzt gesehen? Blöd. Lassen Sie Lizzie aus dem Spiel, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf.«
Collins war mit einem Zettel zurückgekehrt, auf dem die Abflugzeiten standen. Smiley las stirnrunzelnd. »Wir müssen Sie sofort nach Hause schicken, Jerry«, sagte er. »Guillam wartet unten mit einem Wagen. Fawn kommt auch mit.«
»Ich möchte nur schnell mal kotzen, wenn's möglich wäre.« Jerry griff nach Smileys Arm, um sich an ihm aufzurichten, und Fawn sprang sofort vorwärts, aber Smiley beorderte ihn zurück. »Abstand halten, widerlicher Gnom«, knurrte Jerry und streckte warnend einen Finger aus. »Ein Streich genügt. Der nächste wird nicht so einfach sein.«
Er schleppte sich gebückt dahin, die Hände in die Leisten gepreßt. Vor dem Mädchen blieb er stehen.
»Haben sie hier oben Palaver abgehalten, Ko und seine reizenden Knaben, altes Haus? Hat Ko seine Freunde auf ein Plauderstündchen hier heraufgebracht?«
»Manchmal.«
»Und Sie sorgten für genügend Mikrophone, wie eine brave kleine Hausfrau? Haben die Guten hereingelassen, die Lampe gehalten? Klar haben Sie das.« Sie nickte.
»Genügt immer noch nicht«, nörgelte er, während er zum Badezimmer humpelte. »Beantwortet immer noch nicht meine Frage. Muß noch mehr dahinterstecken. Viel mehr.« Im Badezimmer hielt er das Gesicht unters kalte Wasser, trank einen Schluck und übergab sich prompt. Auf dem Rückweg hielt er wieder nach Lizzie Ausschau. Sie war im Wohnzimmer, und so, wie man sich manchmal bei großer Nervenanspannung irgendeine banale Beschäftigung sucht, sortierte sie die Schallplatten und steckte jede in die dazugehörige Plattentasche. In einer entfernten Ecke hielten Smiley und Collins leise Kriegsrat. In nächster Nähe wartete Fawn an der Tür.
»Bye, altes Haus«, sagte er zu ihr. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie herum, bis die grauen Augen direkt in die seinen blickten.
»Goodbye«, sagte sie und küßte ihn, nicht ausgesprochen leidenschaftlich, aber immerhin intensiver, als sie die Kellner küßte.
»Ich war eine Art Requisit zur Tatvorbereitung«, erklärte er ihr. »Tut mir leid. Sonst tut mir nichts leid. Und passen Sie auch auf diesen Schuft Ko auf. Denn wenn's die dort nicht fertigbringen, ihn umzulegen, dann tu's vielleicht ich.« Er berührte die Spuren an ihrem Kinn, dann schlurfte er zur Tür, wo Fawn stand, und drehte sich nochmals um, um sich von Smiley zu verabschieden, der wieder allein war. Collins war zum Telefonieren weggeschickt worden. Smiley stand in einer Haltung da, die Jerry so vertraut an ihm war, die kurzen Arme leicht angehoben, den Kopf ein bißchen zurückgebeugt und im Gesicht einen halb schuldbewußten, halb fragenden Ausdruck, als hätte er gerade seinen Regenschirm in der U-Bahn vergessen. Lizzie hatte sich von den beiden Männern abgewandt und sortierte immer noch automatisch ihre Schallplatten. »Also, Grüße an Ann«, sagte Jerry. »Danke.«