Ein Telefon klingelte. Murphy nahm den Anruf entgegen und gab die Botschaft an den schweigenden Raum weiter: »Funktelefon vom Flugzeugträger, Sir. Navy Int. meldet die Dschunken genau nach Zeitplan, Sir. Südwind günstig und auf der ganzen Strecke gute Fänge. Sir, ich glaube, Nelson fährt gar nicht mit ihnen. Ich sehe auch nicht ein, warum er das tun sollte.«
Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich jäh Murphy zu, den man noch nie eine eigene Meinung hatte äußern hören.
»Was zum Teufel soll denn das heißen, Murphy?« fragte Martello baß erstaunt. »Waren Sie vielleicht auch beim Wahrsager, mein Junge?«
»Sir, ich war heute morgen drunten auf dem Schiff, und die Leute dort haben eine Menge Unterlagen. Sie können sich nicht vorstellen, warum jemand, der in Schanghai lebt, jemals von Swatow aus starten sollte. Sie würden es ganz anders machen, Sir. Zuerst per Flugzeug oder Bahn nach Kanton und von dort mit dem Bus zum Beispiel nach Waichow. Sie sagen, das sei bedeutend sicherer, Sir.«
. »Die Dschunkenfischer sind Nelsons Leute«, sagte Smiley, als die Köpfe wieder zu ihm herumschwangen. »Sie sind sein Clan. Er macht lieber mit ihnen die Seereise, auch wenn es ein Risiko ist. Er vertraut ihnen.« Er wandte sich an Guillam. »Wir machen folgendes«, sagte er. »Sagen Sie Rockhurst, er soll eine Beschreibung von Westerby und dem Mädchen zusammen in Umlauf setzen. Er hat den Wagen unter seinem Arbeitsnamen gemietet, sagen Sie? Hat seine Fluchtpapiere benutzt?«
»Ja.«
»Worrell?«
»Ja.«
»Die Polizei sucht demnach Mr. und Mrs. Worrell, britische Staatsangehörige. Keine Fotos, und sorgen Sie dafür, daß die Beschreibungen vage genug sind, um keinen Verdacht zu erregen. Marty.«
Martello war ganz Aufmerksamkeit.
»Ist Ko noch immer auf seiner Jacht?« fragte Smiley.
»Sitzt seelenruhig drinnen, zusammen mit Tiu, George.«
»Es wäre möglich, daß Westerby versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Sie haben einen statischen Observierungsposten am Kai. Schicken Sie noch mehr Männer hin. Sagen Sie ihnen, sie müssen auch im Hinterkopf Augen haben.«
»Wonach sollen sie Ausschau halten?«
»Anzeichen von Unruhe. Das gleiche gilt für die Observierung seines Hauses. Sagen Sie -« er versank einen Augenblick in Gedanken, aber Guillams Besorgnis war unbegründet, »- sagen Sie - können Sie eine technische Störung von Kos Privattelefon simulieren?«
Martello blickte Murphy an.
»Sir, wir verfügen nicht über die nötigen Vorrichtungen«, sagte Murphy, »aber ich nehme an, wir könnten . . . «
»Dann kappen Sie's«, sagte Smiley einfach. »Schneiden Sie das ganze Kabel durch, wenn nötig. Möglichst in der Nähe einer Straßenbaustelle.«
Martello erteilte seine Anweisungen, schritt dann leise durch den Raum und ließ sich an Smileys Seite nieder. »Äh, George, jetzt wegen morgen. Glauben Sie, wir sollten, äh, auch einiges an Hardware bereithalten?« Vom Schreibtisch aus, wo er mit Rockhurst telefonierte, verfolgte Guillam den Dialog mit gespannter Aufmerksamkeit. Desgleichen Sam Collins aus seiner Ecke. »Schließlich kann man nicht wissen, was Ihrem Westerby einfällt, George. Wir müssen für alle Eventualitäten gerüstet sein, nicht wahr?«
»Halten Sie auf jeden Fall alles bereit. Inzwischen wollen wir, wenn Sie nichts dagegen haben, unsere Einsatzpläne so belassen, wie sie sind. Und die Zuständigkeit bleibt bei mir.«
»Klar, George. Klar«, sagte Martello übertrieben eifrig und begab sich, wiederum auf Zehenspitzen, als wäre er in der Kirche, in sein eigenes Lager zurück.
»Was hat er gewollt?« fragte Collins flüsternd und kauerte sich neben Smiley nieder. »Zu welchem Zugeständnis will er Sie beschwatzen?«
»Lassen Sie das, Peter«, rügte Smiley, ebenfalls leise. Er war plötzlich sehr ärgerlich. »Ich will das nie wieder hören. Ich kann Ihre byzantinischen Ideen von einer Palastverschwörung nicht dulden. Diese Leute sind unsere Gastgeber und Verbündeten. Wir haben mit ihnen ein schriftliches Abkommen. Wir haben auch ohne solche Phantastereien schon genügend Sorgen und können auf, wenn ich ehrlich sein soll, paranoide Wahngespinste verzichten. Also bitte -«
»Ich muß Ihnen etwas sagen . . . « begann Guillam, aber Smiley ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Sehen Sie zu, daß Sie Craw erwischen. Suchen Sie ihn notfalls persönlich auf. Die Fahrt würde Ihnen vielleicht gut tun. Sagen Sie ihm, Westerby ist los. Er soll uns sofort Mitteilung machen, wenn er etwas von ihm hört. Er wird wissen, was zu tun ist.« Fawn, der noch immer die Sesselfront abschritt, sah dem abziehenden Guillam nach, und seine Fäuste kneteten ruhelos, was immer in ihnen verborgen sein mochte.
Auch bei Jerry war es jetzt drei Uhr früh, und die Madame hatte ihm einen Rasierapparat gebracht, aber kein frisches Hemd. Er hatte sich rasiert und gesäubert, so gut es ging, aber sein Körper schmerzte noch immer von Kopf bis zu den Zehen. Er trat an das Bett, auf dem Lizzie lag. Er versprach ihr, in ein paar Stunden wieder da zu sein, bezweifelte jedoch, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Mehr Zeitungen drucken hübsche Mädchen anstatt Politik, erinnerte er sich, und die Welt wird verdammt besser dransein, Mr. Westerby.
Er nahm pak-pais, da er wußte, daß auf sie die Polizei ein weniger scharfes Auge hatte. Zwischendurch ging er zu Fuß. Das Marschieren tat ihm gut und brachte auch den im Geiste durchgespielten Prozeß seiner Entscheidungsfindung wieder in Gang, der auf dem Diwan des Hotelzimmers plötzlich ins Stocken geraten war. Er brauchte Bewegung, um die Richtung zu finden. Er hielt auf die Deep Water Bay zu und wußte, daß er heißen Boden betreten würde. Seit seiner Fahnenflucht würden sie sich an diese Jacht heften wie die Blutegel. Er überlegte, wen sie angesetzt, was sie eingesetzt haben mochten. Wenn es die Vettern waren, so mußte er nach einem Überaufgebot an hardware und an Leuten Ausschau halten. Es fing an zu regnen, und er fürchtete, daß der Nebel sich langsam lichten würde. Während er lautlos bergab trabte, war der Mond bereits teilweise sichtbar geworden, und Jerry erkannte in seinem bleichen Licht die Maklerdschunken, die jetzt ächzend an ihrer Vertäuung zerrten. Südostwind, stellte er fest, auffrischend. Für einen statischen Beobachtungsposten würden sie eine hochgelegene Stelle wählen, dachte er, und auf dem Felsvorsprung zu seiner Rechten sah er tatsächlich, unter Bäumen halb versteckt, einen ramponierten Mercedes-Laster mit Antenne und chinesischen Wimpeln. Er wartete und blickte in den rollenden Nebel, bis ein Wagen mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern bergab daherkam und vorüberfuhr, und in der nächsten Sekunde raste er über die Straße, denn er wußte, daß sie ihn hinter den grellen Scheinwerfern, die direkt auf sie zuhielten, auch mit Hilfe sämtlicher Hardware der Welt nicht sehen konnten. Auf Seehöhe war die Sicht nahe Null, und er mußte sich zu dem wackeligen hölzernen Steg vorantasten, an den er sich von seiner früheren Erkundungstour erinnerte. Dann hatte er gefunden, was er suchte. Die gleiche zahnlose Alte saß in ihrem Sampan und grinste durch den Nebel zu ihm herauf.
»Ko«, flüsterte er. »Admiral Nelson. Ko«
Das Echo ihres Gegackers sprang über das Wasser.
»Po Toi!« kreischte sie. »Tin Hau! Po Toi!«
»Heute?«
»Heute.«
»Morgen?«
»Morgen!«
Er warf ihr ein paar Dollar zu, und ihr Lachen folgte ihm, als er davonschlich.
Ich habe recht, Lizzie hat recht, wir haben recht, dachte er. Ko besucht das Fest. Jerry hoffte zu Gott, Lizzie habe sich nicht vom Fleck gerührt. Sollte sie aufgewacht sein, dann wäre es ihr zuzutrauen, daß sie sich auf die Socken gemacht hat. Durch kräftiges Aufstampfen versuchte er, den Schmerz in Leisten und Rücken zu vertreiben. Mach es Zug um Zug, dachte er. Nichts Großes. Einfach so, wie's kommt. Der Nebel war wie ein Korridor, der in verschiedene Zimmer führt. Einmal begegnete er einem altersschwachen Wagen, der hart am Gehsteig entlangkroch, während der Fahrer seinem Schäferhund einen Auslauf verschaffte. Einmal zwei alten Männern in Unterhemden, die ihr Morgentraining absolvierten. In einem öffentlichen Park starrten ihn kleine Kinder aus einem Rhododendronbusch an, in dem sie zu wohnen schienen, denn sie hatten ihre Kleider über die Zweige drapiert und waren nackt wie die Flüchtlingskinder in Phnom Penh.