Lizzie saß auf dem Bett und wartete auf ihn, als er zurückkam, und sie sah schrecklich aus.
»Tu das nicht nochmal«, warnte sie und hängte sich bei ihm ein, als sie sich auf den Weg machten, um ein Boot und ein Frühstück zu suchen. »Verschwinde bloß nicht nochmal, ohne mir ein Wort zu sagen.«
In Hongkong gab es zunächst an diesem Tag überhaupt keine Boote. Die großen Fährschiffe, die den Ausflugsverkehr zu den Inseln besorgten, konnte Jerry nicht in Betracht ziehen. Er wußte, daß der Rocker sie dort dingfest machen ließe. Er wollte auch nicht hinunter zu den Buchten und Erkundigungen einziehen. Es war zu verdächtig. Er rief bei den im Telefonbuch aufgeführten Wassertaxis an, aber was dort vorhanden war, war entweder bereits weg oder zu klein für die Fahrt. Dann fiel ihm Luigi Tan ein, der Makler für alles, der im Auslandskorrespondenten-Club einen sagenhaften Ruf genoß: Luigi konnte alles beschaffen, von einer koreanischen Tanzgruppe bis zum verbilligten Flugbillett, und das schneller als irgendein anderer Makler in der Stadt. Sie fuhren mit einem Taxi zur anderen Seite von Wanchai, wo Luigi hauste, dann gingen sie zu Fuß. Es war acht Uhr morgens, aber der heiße Nebel hatte sich nicht verzogen. Die unbeleuchteten Transparente hingen schlaff wie ermattete Liebespaare über den schmalen Gassen: Happy Boy, Lucky Place, Americana. Der Duft aus übervollen Lebensmittelläden mischte sich mit dem Gestank von Benzin und Ruß. Durch schmale Mauerlücken erblickten sie manchmal einen Kanal. »Jeder kann Ihnen sagen, wo ich zu finden bin«, rühmte sich Luigi Tan immer. »Fragen Sie nur nach dem Großen mit dem einen Bein.«
Sie fanden ihn hinter seinem Ladentisch. Luigi war gerade groß genug, um drüberwegzusehen, ein winziger wendiger Halb-Portugiese, der sich früher seinen Lebensunterhalt als Boxer in den schmuddeligen Jahrmarktbuden von Macao verdient hatte. Die Ladenfront war sechs Fuß breit. Das Warenangebot reichte von neuen Motorrädern zu Relikten aus der Kolonialzeit, die er als Antiquitäten bezeichnete: vergilbte Lichtbilder von behüteten Damen in Schildpattrahmen, eine ramponierte Schiffskiste, das Logbuch eines Opiumclippers. Luigi kannte Jerry bereits, aber Lizzie gefiel ihm bedeutend besser, und er bestand darauf, daß sie voranging, so daß er ihr Hinterteil bewundern konnte, als er seine Gäste unter einer Wäscheleine hindurch zu einer Hütte im Hof führte. An der Tür klebte ein Schild mit der Aufschrift »Privat«. Das Innere wies drei Stühle und ein Telefon auf dem Fußboden auf. Luigi kauerte sich nieder, bis er wie eine Kugel aufgerollt war, und sprach chinesisch ins Telefon und englisch Richtung Lizzie. Er sei Großvater, sagte er, aber sehr viril, und habe vier Söhne, alle wohlgeraten. Sogar der Sohn Nummer vier sei schon selbständig.
Alle gute Fahrer, gute Arbeiter und gute Ehemänner. Außerdem, sagte er zu Lizzie, habe er einen Mercedes, komplett mit Stereo. »Vielleicht nehme ich Sie einmal auf eine Fahrt mit«, sagte er. Jerry überlegte, ob sie begriffen habe, daß er ihr die Ehe anbot oder doch etwas kaum Geringeres. Und, ja, Luigi glaubte, er habe auch ein Boot. Nach zwei Telefonanrufen wußte er, daß er ein Boot hatte, das er nur an seine besten Freunde auslieh, zu einem rein symbolischen Preis. Er gab Lizzie sein Täschchen mit Kreditkarten, damit sie nachzähle, wie viele Karten darin seien, dann seine Brieftasche, damit sie die Familienfotos bewundern konnte. Eines zeigte einen Hummer, den der Sohn Nummer vier kürzlich an seinem Hochzeitstag gefangen hatte - der Sohn war allerdings nicht zu sehen.
»Po Toi ganz schlecht«, sagte Luigi Tan, der noch immer am Telefon hing, zu Lizzie. »Sehr schmutzig. Rauhe See, lausiges Fest, schlechtes Essen. Warum wollen Sie dorthin?«
Wegen Tin Hau natürlich, sagte Jerry geduldig an ihrer Stelle.
Wegen des berühmten Tempels und wegen des Fests.
Luigi Tan wandte sich auch weiterhin ausschließlich an Lizzie.
»Gehen Sie nach Lantau«, riet er. »Lantau gute Insel. Nettes Essen, guten Fisch, nette Leute. Ich sage Ihnen, Sie gehen nach Lantau, essen bei Charlie, Charlie mein Freund.«
»Po Toi«, sagte Jerry energisch.
»Po Toi riesige Menge Geld.«
»Wir haben eine riesige Menge Geld«, sagte Lizzie mit reizendem Lächeln, und Luigi Tan blickte sie wiederum lange sinnend an und musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Vielleicht fahre ich mit Ihnen«, sagte er zu ihr.
»Nein«, sagte Jerry.
Luigi fuhr die beiden nach Causeway Bay und begleitete sie auf dem Sampan. Das Boot war vierzehn Fuß lang, ein Motorboot, nichts Besonderes, aber Jerry hielt es für tüchtig, und Luigi sagte, es habe einen tiefen Kiel. Ein Junge lungerte im Heck und ließ einen Fuß ins Wasser baumeln.
»Mein Neffe«, sagte Luigi stolz und zauste den Haarschopf des Jungen. »Er Mutter in Lantau. Er bringt Sie nach Lantau, essen bei Charlie, machen schönen Tag. Sie bezahlen später.«
»Alter Junge«, sagte Jerry geduldig. »Altes Haus. Wir wollen nicht nach Lantau. Wir wollen nach Po Toi-. Nur nach Po Toi. Po Toi oder gar nichts. Setzen Sie uns dort ab, und fahren Sie zurück.«
»Po Toi schlechtes Wetter, schlechtes Fest, schlechte Insel. Zu nah am Chinameer. Menge Kommis.«
»Po Toi oder gar nichts«, sagte Jerry.
»Boot zu klein«, sagte Luigi, wodurch er das Gesicht verloren hatte, und es bedurfte Lizzies ganzen Charmes, damit er es wiederfand.
Es dauerte eine weitere Stunde, bis die Jungens das Boot startbereit hatten, und inzwischen blieb Jerry und Lizzie nichts anderes übrig, als im Schutz der Überdachung einer offenen Kabine zu sitzen und in gemessenen Schlückchen Remy Martin zu trinken. Immer wieder versank der eine oder andere von ihnen in träumerisches Nachdenken. Lizzie schlug dabei die Arme eng um sich und wiegte langsam den Oberkörper. Jerry hingegen zerrte an der Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, und einmal riß er so heftig daran, daß Lizzie seinen Arm festhielt, und er lachte. Beinah lässig legte das Boot vom Hafen ab. »Bleib im Schatten«, befahl Jerry und legte zur Sicherheit den Arm um sie, um sie im dürftigen Schutz der offenen Kabine festzuhalten.
Der amerikanische Flugzeugträger hatte seine Gala abgestreift und lag grau und drohend, wie ein gezogenes Messer auf dem Wasser. Zuerst herrschte weiterhin stickige Windstille. An der Küste drängten Nebelschwaden gegen die grauen Hochhäuser, und braune Rauchsäulen zogen in einen weißen, ausdruckslosen Himmel. Auf dem flachen Wasser schwebte das Boot wie ein Ballon. Aber als sie die Wellenbrecher passiert hatten und Kurs nach Osten nahmen, schlugen die Wellen so heftig an die Bordwand, daß das ganze Boot krängte und krachte und sie sich einstemmen mußten, um nicht zu fallen. Der kleine Bug bäumte sich und ruckte wie ein schlechtes Pferd. Sie torkelten an Kränen und Lagerhäusern und Fabriken und den Trümmerfeldern zerwühlter Hänge vorüber. Sie liefen direkt vor den Wind, und Gischt sprühte von allen Seiten. Der Rudergänger lachte und krähte seinem Gehilfen etwas zu, und Jerry vermutete, daß sie über die verrückten Rundaugen Witze rissen, die sich einen stampfenden Bottich als Liebesnest ausgesucht hatten. Ein riesiger Tanker glitt an ihnen vorüber. Er schien stillzustehen. Braune Dschunken tanzten in seinem Kielwasser. Von den Werften her, wo ein Frachter eingedockt lag, blinkten ihnen die weißen Blitze der Schweißbrenner über das Wasser hinweg zu. Das Gelächter der Jungen beruhigte sich, und sie redeten jetzt vernünftig, denn nun waren sie auf offener See. Jerry blickte zurück und sah zwischen den schaukelnden Bordwänden von Transportschiffen die Insel langsam entschwinden, von der Wolkenbank waagerecht abgeschnitten wie ein Tafelberg. Wieder einmal hörte Hongkong auf zu existieren.