»Er sagt zu den Boys, sie sollen abschwirren, also schwirren sie ab. Er und Tiu führen ein langes ernstes Gespräch über das Thema der Woche, und mitten im Lunch fängt er an, englisch zu sprechen und sagt zu mir, Po Toi sei seine Insel. Hier sei er zum erstenmal gelandet, nachdem er China verlassen hatte. Die Bootsleute setzten ihn hier ab. >Meine Leute<, nennt er sie. Deshalb kommt er jedes Jahr zum Volksfest her und stiftet Geld für den Tempel, und deshalb mußten wir uns den verdammten Berg raufschinden zum Picknick. Dann sprechen sie wieder chinesisch, und ich habe der Eindruck, Tiu macht ihm Vorwürfe, weil er zu viel redet, aber Drake ist ganz aus dem Häuschen, aufgeregt wie ein kleiner Junge und will nicht hören. Dann steigen sie weiter hinauf.«
»Hinauf?«
»Hinauf zum Gipfel. >Die alten Wege sind die besten<, sagt er zu mir. >Wir sollten uns an das Bewährte halten<. Dann sein Baptistenmasche: >Halte am Guten fest, Liese. Das ist Gott gefällig.«
Jerry blickte hinauf in die Nebelbank über ihnen, und er hätte schwören können, das Knattern eines kleinen Flugzeugs zu hören, aber in diesem Augenblick war es ihm ziemlich egal, ob es so war oder nicht, denn er hatte die beiden Dinge, die ihm am Nötigsten waren. Er hatte das Mädchen bei sich, und er hatte die Information: Denn jetzt verstand er endlich genau, was das Mädchen Smiley und Sam Collins wert gewesen war und daß sie ihnen unwissentlich den Schlüssel zu Kos Absichten verraten hatte.
»Sie gingen also weiter zum Gipfel. Bist du mit ihnen gegangen?«
»Nein.«
»Hast du gesehen, wohin sie gingen?«
»Zum Gipfel. Sagte ich schon.«
»Und was taten die beiden auf dem Gipfel?«
»Dann schauten sie auf der anderen Seite hinunter. Redeten.
Deuteten. Redeten und deuteten wieder, und dann kommen sie wieder runter, und Drake ist noch viel aufgeregter, so, wie wenn er einen großen Coup gelandet hat und Erste Gattin ist nicht da, um ihm die Freude zu vermasseln. Tiu schaut finster drein, wie immer, wenn Drake zeigt, daß er mich gern mag. Drake will, daß wir noch bleiben und ein paar Cognacs trinken, also kehrt Tiu ärgerlich, nach Hongkong zurück. Drake wird zärtlich und beschließt, daß wir auf dem Schiff übernachten und am anderen Morgen zurückfahren, und das tun wir auch.« v »Wo hat das Boot geankert? Hier? In der Bucht?«
»Nein.«
»Wo?«
»Vor Lantau.«
»Ihr seid auf dem kürzesten Weg dorthin, wie?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir machten die Runde um die Insel.«
»Diese Insel?«
»Es gab da eine Stelle, die er sich im Dunkeln ansehen wollte. Einen Küstenstreifen auf der anderen Seite. Die'Boys mußte ihn mit Laternen ableuchten. >Dort landete ich im Jahr einundfünfzig<, sagte er. >Die Bootsleute fürchteten sich, in den Haupthafen einzulaufen. Sie fürchteten sich vor der Polizei und vor den Geistern und den Piraten und den Zöllnern. Sie sagen, die Inselbewohner würden ihnen die Hälse abschneiden.<«
»Und in der Nacht?« sagte Jerry leise. »Als ihr vor Lantau geankert habt?«
»Da erzählte er mir, er habe einen Bruder, den er sehr liebe.«
»Hat er dir das zum erstenmal erzählt?« Sie nickte.
»Und hat er auch gesagt, wo dieser Bruder jetzt ist?«
»Nein.«
»Aber du hast es gewußt?« Diesmal nickte sie nicht einmal.
Von drunten drang der Festlärm in Fetzen durch die Wolke herauf. Jerry zog Lizzie behutsam auf die Füße. »Verdammte Fragerei«, murmelte sie.
»Es ist fast vorüber«, versprach er. Er küßte sie, und sie ließ es zu, reagierte aber nicht.
»Wir wollen raufgehen und uns umsehen«, sagte er. Nach zehn Minuten schien die Sonne wieder, und über ihnen tat sich der blaue Himmel auf. Unter Lizzies Führung kletterten sie eilig über mehrere Vorgipfel hinweg bis zum Sattel. Die Geräusche aus der Bucht waren verstummt, nur kreisende Möwen erfüllten die kälter gewordene Luft mit ihrem Geschrei. Sie hatten den Kamm erreicht, der Weg wurde breiter, sie gingen nebeneinander. Noch ein paar Schritte, und der Wind stürzte sich mit einer Macht auf sie, daß sie atemlos zurücktaumelten. Sie standen an der Felsenkante und blickten hinunter in einen Abgrund. Direkt zu ihren Füßen fiel die Klippe senkrecht in die See ab, das Kap verschwand unter der schäumenden Brandung. Wolkenkissen zogen von Osten heran, und hinter ihnen war der Himmel schwarz. Etwa zweihundert Meter weiter unten lag eine kleine Bucht, die von den Brechern nicht überspült wurde. Fünfzig Yards davon entfernt brach ein Gewirr brauner, von weißen Schaumringen umzogener Felsen den Anprall der Wogen. »Ist es dort?« schrie er durch den Wind. »Ist er dort gelandet? An diesem Küstenstück?«
»Ja.«
»Und das hat er abgeleuchtet?«
»Ja.«
Er ließ sie stehen, wo sie stand, und kroch langsam, fast bis zum Boden gebückt die Felskante entlang, während der Wind ihm um die Ohren pfiff und sein Gesicht mit klebrigem Salzbeschlag überzog, und sein Magen schmerzte wie wahnsinnig, er vermutete einen Darmriß oder eine innere Blutung oder beides. An der eingezogensten Stelle, ehe die Klippe sich wieder scharf meerwärts wandte, blickte er nochmals hinunter, und jetzt glaubte er, einen schmalen Pfad ausmachen zu können, der stellenweise nur ein Felseneinschnitt war oder eine Grasfurche, und sich mühsam bis zur Bucht hinunterschlängelte. In der Bucht lag kein Sand, aber einige der Felsen sahen trocken aus. Jerry kehrte zu Lizzie zurück und führte sie von der Felskante weg. Der Wind legte sich. Sie hörten den Festlärm jetzt wieder viel lauter als vorher. Das Krachen von Feuerwerkskörpern veranstaltete einen Spielzeugkrieg.
»Es ist sein Bruder Nelson«, erklärte er. »Für den Fall, daß du es noch nicht erraten hast: Ko holt ihn aus China heraus. Heute ist die entscheidende Nacht. Schwierig, denn er ist eine sehr gesuchte Persönlichkeit. Eine Menge Leute würden gern ein Schwätzchen mit ihm halten. Hier kam Mellon ins Spiel.« Er holte tief Atem. »Meiner Meinung nach solltest du zusehen, daß du hier schleunigst wegkommst. Was meinst du dazu? Drake möchte dich jedenfalls nicht in der Nähe haben, soviel steht fest.«
»Möchte er dich in der Nähe haben?« fragte sie. »Ich glaube, das beste für dich wäre, wenn du schleunigst zurück zum Hafen gingest«, sagte er. »Hörst du mir zu?«
»Natürlich«, brachte sie hervor.
»Du suchst dir eine nette, freundlich wirkende europäische Familie. Wirf dein Auge ausnahmsweise nicht auf den Pappi, sondern auf die Frau. Sag ihr, du hättest dich mit deinem Freund verkracht, und ob sie dich in ihrem Boot mit zurücknehmen könnten. Wenn sie einverstanden sind, dann übernachte bei ihnen, andernfalls gehst du in ein Hotel. Tische ihnen eine von deinen Geschichten auf. Herrgott, das ist doch keine Kunst, oder?«
Ein Polizeihubschrauber knatterte in einer langen Kurve über sie hinweg, vermutlich, um das Fest zu beobachten. Instinktiv faßte Jerry nach Lizzies Schulter und zog sie unter die Felsen. »Erinnerst du dich noch an das zweite Lokal, in das wir damals gingen, das mit der Big Band? Die Bar?« Er hielt sie noch immer fest.
Sie sagte: »Ja.«
»Ich hole dich morgen abend dort ab.«
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie.
»Sei auf jeden Fall um sieben dort. Um sieben, verstanden?« Sie schob ihn sanft von sich weg, als wollte sie unbedingt allein sein.
»Sag ihm, ich habe mein Wort gehalten«, sagte sie. »Das ist ihm das Wichtigste. Ich habe den Vertrag erfüllt. Wenn du ihn siehst, dann sag ihm, >Liese hat ihr Wort gehalten.««
»Klar.«
»Nicht klar, ja. Sag es ihm. Er hat alles getan, was er versprochen hat. Er hat gesagt, er sorgt für mich. Und das hat er getan. Er hat gesagt, er läßt Ric laufen. Auch das hat er getan. Er hat immer sein Wort gehalten.«