Er hob ihren Kopf, faßte ihn mit beiden Händen, aber sie ließ sich nicht beirren.
»Und sag ihm, und sag ihm - sag ihm, sie ließen mir keine Wahl.
Sie haben mich in die Enge getrieben.«
»Sei um sieben Uhr dort«, sagte er. »Und warte, auch wenn ich mich ein bißchen verspäten sollte. Also, los jetzt, so schwierig ist es doch gar nicht, wie? Man muß nicht studiert haben, damit man das hinkriegt.« Er redete ihr gut zu, kämpfte um ein Lächeln, sehnte sich nach einem letzten Zeichen des Zusammengehörens, ehe sie sich trennten. Sie nickte.
Sie wollte etwas sagen, aber es ging nicht. Sie machte ein paar Schritte, drehte sich um und blickte zu ihm zurück, und er winkte - ein ausholendes Armschwenken. Sie tat nochmals ein paar Schritte und ging dann weiter, bis sie unter dem Hügelrand verschwunden war, aber er hörte sie rufen: »Also, um sieben«, oder glaubte wenigstens, sie zu hören. Nachdem sie außer Sicht war, kehrte Jerry zur Felskante zurück, wo er sich hinsetzte, um vor seiner Tarzannummer ein bißchen zu verschnaufen. Ein paar Zeilen von John Donne fielen ihm ein, sie gehörten zu dem Wenigen, was von der Schule an ihm haften geblieben war, obwohl er Zitate nie so ganz wortgetreu wiedergeben konnte oder jedenfalls glaubte, er könne es nicht: Auf einem hohen Berg, zerklüftet und steil, steht die Wahrheit, und wer Zu ihr will, muß dort hinauf, der muß dort hinauf. Oder so ähnlich. Eine Stunde, zwei Stunden lang lag er in tiefem Nachdenken im Windschatten des Felsens und sah zu, wie der Tag draußen über den chinesischen Inseln verdämmerte. Dann zog er seine Wildlederstiefel aus und fädelte die Schnürsenkel zu einem Fischgrätmuster, wie er es bei seinen Krickettstiefeln gemacht hatte. Dann zog er sie wieder an und schnürte sie so fest es ging. Es könnte wieder die Toskana sein, dachte er, mit den fünf Hügeln, auf die er vom Hornissenfeld aus gestarrt hatte. Nur daß er diesmal nicht vorhatte, irgend jemanden im Stich zu lassen. Nicht das Mädchen. Nicht Luke. Nicht einmal sich selber. Auch wenn es eine Menge Anstrengung kosten würde.
»Navy Int. meldet, Dschunkenflotte macht ungefähr sechs Knoten und hält den Kurs«, verkündete Murphy. »Verließ die Fischgründe punkt elf Uhr, als hielte sie sich genau an unseren Plan.«
Er hatte irgendwo eine Handvoll Spielzeugboote aus Bakelit aufgetrieben, die er auf der Wandkarte befestigen konnte. Er stand davor und wies stolz auf die Säule, die der Insel Po Toi zustrebte, Murphy war zurückgekommen, sein Kollege war bei Sam Collin und Fawn geblieben, also waren sie vier.
»Und Rockhurst hat das Mädchen gefunden«, sagte Guillam ruhig und legte den Hörer des anderen Telefons auf. Seine Schulter schmerzte jetzt heftig, und er war sehr blaß. »Wo?« fragte Smiley.
Murphy, der noch immer vor der Karte stand, drehte sich um. Martello, der am Schreibtisch saß und ein Logbuch über die Ereignisse führte, legte die Feder weg.
»Hat sie im Hafen von Aberdeen geschnappt, als sie an Land ging«, fuhr Guillam fort. »Sie hatte sich von Po Toi von einem Angestellten der Hong Kong and Shanghai Bank und dessen Frau mitnehmen lassen.«
»Also was geht vor?« fragte Martello, ehe Smiley sprechen konnte. »Wo ist Westerby?«
»Sie weiß es nicht«, sagte Guillam. »Na, aber!« protestierte Martello.
»Sie sagt, sie hatten Krach und fuhren in verschiedenen Booten zurück. Rockhurst sagt, man soll sie ihm einfach noch eine Stunde lang überlassen.«
Smiley sprach. »Und Ko?« fragte er. »Wo ist er?«
»Seine Jacht liegt nach wie vor im Hafen von Po Toi«, erwiderte Guillam. »Die meisten anderen Boote sind bereits abgefahren. Aber Kos Schiff liegt noch an der gleichen Stelle wie heute vormittag. Rührt sich nicht vom Fleck, sagte Rockhurst, und alle Mann unter Deck.«
Smiley linste hinüber zur Seekarte, dann zu Guillam, dann auf die Karte von Po Toi.
»Wenn sie Westerby erzählt hat, was sie Collins erzählte«, sagte er, »dann ist er auf der Insel geblieben.«
»Und mit welcher Absicht?« fragte Martello sehr laut. »George, zu welchem Zweck bleibt dieser Mann auf dieser Insel?«
Alle hatten den Eindruck, als verginge ein Jahrhundert.
»Er wartet«, sagte Smiley.
»Und worauf, wenn ich fragen darf?« bohrte Martello im gleichen hartnäckigen Ton weiter.
Niemand sah Smileys Gesicht. Es lag im Schatten. Sie sahen seine Schultern einsinken, sie sahen seine Hand zur Brille tasten, als wolle er sie abnehmen, sahen sie leer, wie besiegt, wieder auf den Rosenholztisch fallen.
»Was immer wir tun, wir müssen Nelson landen lassen«, sagte er. »Und was immer tun wir?« fragte Martello, stand auf und kam um den Tisch herum. »Westerby ist nicht hier, George. Er hat die Kolonie nie betreten. Er kann sie auf dem gleichen verdammten Weg verlassen!«
»Bitte, schreien Sie mich nicht an«, sagte Smiley. Martello scherte sich nicht darum. »Welches von beiden wird es sein, nur das ist die Frage: Verrat oder Versagen?« Guillam stellte sich ihm in voller Größe in den Weg, und einen spannenden Augenblick lang schien es möglich, daß er, gebrochene Schulter hin oder her, Martello physisch daran hindern wollte, auch nur einen Schritt näher an Smileys Platz heranzukommen. »Peter«, sagte Smiley ruhig. »Wie ich sehe, steht hinter Ihnen ein Telefon. Würden Sie so freundlich sein, es mir herüberzureichen?«
Mit dem Vollmond hatte der Wind sich gelegt, und die See war ruhig geworden. Jerry war nicht ganz bis zur kleinen Bucht hinuntergestiegen, sondern hatte im Schutz eines Gebüschs, etwa dreißig Fuß oberhalb, ein letztes Lager aufgeschlagen. Seine Hände und Knie waren aufgerissen, ein Ast hatte ihm die Wange zerkratzt, aber er fühlte sich in Ordnung: hungrig und hellwach. In den Mühen und Gefahren des Abstiegs hatte er die Schmerzen vergessen. Die Bucht war größer, als er sie sich vom Gipfelpunkt vorgestellt hatte, und in den Granitklippen waren auf Meereshöhe zahlreiche Höhlen. Er versuchte, Drakes Plan zu erraten - wie Lizzie nannte er ihn nun in Gedanken Drake -, er hatte den ganzen Tag verschiedene Möglichkeiten durchgespielt. Was immer Drake tun mußte, es würde vom Meer aus geschehen, denn dem alptraumhaften Abstieg über die Klippe war er nicht gewachsen. Jerry hatte zuerst überlegt, ob Drake versuchen könne, Nelson vor der Landung abzufangen, aber er sah keine sichere Möglichkeit, wie Nelson sich heimlich von der Flotte entfernen und einen See-Treff mit seinem Bruder bewerkstelligen könnte. Der Himmel wurde dunkel, die Sterne erschienen, und der Mondstreif wurde heller. Und Westerby, dachte er: was tut A jetzt? A war eine Ewigkeit entfernt von den gemeinschaftlich erarbeiteten Lösungen Sarratts, das stand fest.
Drake mußte außerdem wahnsinnig sein, wenn er versuchen sollte, seine Jacht auf diese Seite der Insel zu bringen, fand er. Sie war schwer manövrierbar und hatte zuviel Tiefgang, um eine windseitige Küste anzulaufen. Ein kleines Boot wäre besser, am besten ein Sampan oder ein Schlauchboot. Jerry kletterte die Klippe noch weiter hinunter, bis seine Stiefel auf Kiesel stießen, dann drückte er sich eng an den Felsen und sah zu, wie die Brecher herandonnerten und Phosphorfunken in der Gischt ritten. »Jetzt muß sie zurück sein«, dachte er. Mit ein bißchen Glück hat sie jemanden überreden können, sie ins Haus aufzunehmen, sie scherzt mit den Kleinen und wärmt sich bei einer Tasse Bouillon auf. Sag ihm, ich habe mein Wort gehalten, hatte sie gesagt. Der Mond stieg höher, und Jerry wartete immer noch, heftete die Augen angestrengt auf die dunkelsten Stellen, um sein Sehvermögen zu schärfen. Dann glaubte er mit Sicherheit, durch das Brausen der See das plumpe Klatschen von Wasser gegen einen hölzernen Schiffsleib und das kurze Aufknurren eines an- und abgestellten Motors zu hören. Er sah kein Licht. Er kroch den im Schatten liegenden Felsen entlang so nah an den Rand des Wassers heran, wie er irgend wagte, und kauerte sich dann wieder wartend nieder. Als die Brandungswelle ihn bis zu den Schenkeln durchnäßte, sah er, worauf er gewartet hatte: Im Gegenlicht des Mondes, keine zwanzig Yards von ihm entfernt, schaukelten die bogenförmige Kabine und der geschweifte Bug eines Sampan vor Anker. Er hörte ein Platschen und einen undeutlichen Befehl, und als er sich so weit duckte, wie die Bodenschrägung es zuließ, erblickte er vor dem sternenübersäten Himmel die unverwechselbare Gestalt Drake Kos in der anglo-französischen Baskenmütze, die vorsichtig an Land watete, dahinter Tiu, der ein M-16-Maschinengewehr auf beiden Armen trug. Na, da wären wir also, dachte Jerry, und meinte damit mehr sich selber als Drake Ko. Ende der langen Verfolgungsjagd. Lukes Mörder, Frostis Mörder - ob durch fremde oder eigene Hand, spielte keine Rolle -, Lizzies Liebhaber, Nelsons Vater, Nelsons Bruder. Wir begrüßen den Mann, der nie in seinem Leben ein Versprechen gebrochen hat. Auch Drake trug etwas, aber es war weniger bedrohlich, und Jerry wußte bereits, ehe er es sehen konnte, daß es eine Lampe und eine Batterie waren, ziemlich die gleiche Sorte, die er selber bei den Wasserspielen des Circus im Helford Estuary benutzt hatte, nur daß der Circus ultraviolett und billige Brillen mit Drahtgestell bevorzugte, die bei Regen oder in der Gischt nutzlos waren. Auf dem Strand tappten die beiden Männer murrend über die groben Steine, bis sie den höchsten Punkt erreicht hatten, dann verschwanden sie, wie Jerry selber, im Schatten des schwarzen Felsens. Er schätzte, daß sie sechzig Fuß von ihm entfernt waren. Er hörte ein Brummen und sah die Flamme eines Feuerzeugs, dann die rote Glut von zwei Zigaretten, und daraufhin hörte er das Murmeln chinesischer Stimmen. Könnte auch eine vertragen, dachte Jerry. Er bückte sich, streckte eine große Hand aus, grabschte Steine zusammen, bis sie voll war, und pirschte sich dann so geräuschlos wie möglich am Fuß des Felsens entlang auf die beiden roten Pünktchen zu. Nach seiner Berechnung war er acht Schritte von ihnen entfernt. Er hatte die Pistole in der linken, die Kiesel in der rechten Hand und lauschte auf das dumpfe Geräusch der Wellen, wie sie sich sammelten, überschlugen und zusammenstürzten, und er überlegte, daß es sich mit Drake bedeutend leichter plaudern ließe, wenn Tiu aus dem Weg sein würde.