Denn dies war die letzte und unausgesprochene jener Prämissen, die Smiley in der Rumpelkammer umrissen hatte: daß die Schlinge, in der Haydon sich gefangen hatte, nicht die einzige gewesen war. Daß es letzten Endes nicht Haydons schriftliches Material war, das ihn zu Fall gebracht hatte, auch nicht seine Manipulation von Berichten oder das »Verlieren« unliebsamer Aufzeichnungen. Es war Haydons Panik gewesen. Haydons spontanes Eingreifen bei einem Auslandseinsatz, als die Gefahr für ihn selber oder für einen anderen Agenten Karlas plötzlich so drohend wurde, daß ihm nichts anderes übrigblieb als ihn, trotz des Risikos, mit allen Mitteln abzuwürgen. Smiley hoffte inständig, daß diese Masche sich wieder finden würde. Und so stellten Smiley und seine Helfer in der Meldestelle in Bloomsbury nie direkt, immer auf Umwegen, die gleiche Frage: »Können Sie sich an irgendeine Gelegenheit während Ihres Außendienstes erinnern, bei der Sie ohne ersichtlichen Grund von der weiteren Verfolgung eines Operationsziels abgehalten wurden?«
Ausgerechnet der adrette Sam Collins im Smoking mit seiner braunen Zigarette und dem gepflegten Schnurrbart und dem Lächeln eines Mississippi-Dandy, der eines Abends zu einem gemütlichen kleinen Schwatz geladen war, segelte herein und sagte: »Wenn ich mir's recht überlege, ja, alter Junge, das kann ich.«
Aber hinter Smileys neuerlicher Frage und Sams entscheidender Antwort lauerte die furchteinflößende Gestalt von Miss Connie Sachs auf der Pirsch nach russischem Gold. Und hinter Connie wiederum, wie eh und je, die unscharfe Fotografie Karlas.
»Connie hat einen erwischt, Peter«, flüsterte sie eines Nachts Guillam über das Haustelefon zu. »Sie hat einen erwischt, klar wie Kloßbrühe.«
Es war keineswegs ihr erster Fund, auch nicht ihr zehnter, aber ihr untrüglicher Instinkt sagte ihr sofort, dies sei »der wahre Jakob, darling, glaub's der alten Connie«. Also sagte Guillam es Smiley, und Smiley schloß seine Akten weg, räumte den Schreibtisch ab und sagte: »All right, rein mit ihr.«
Connie war eine gewaltige, verkrüppelte, gerissene Frau, Tochter eines Universitätsprofessors, Schwester eines Universitätsprofessors, selber Akademikerin und bei den älteren Mitarbeitern bekannt als Mütterchen Rußland. Es ging die Sage, Control habe sie, als sie noch eine junge Dame war, beim Bridgespiel angeworben, in der Nacht, in der Neville Chamberlain »Frieden, solange wir leben« versprach. Als Haydon auf den Gleitspuren seines Protektors Alleline zur Macht schlitterte, war einer seiner ersten und umsichtigsten Schachzüge, daß er Connie abhalfterte. Denn Connie wußte mehr über die Wege und Stege der Moskauer Zentrale als die meisten der, wie sie sie nannte, erbärmlichen Kerle, die sich dort abrackerten, und Karlas Privatarmee von Maulwürfen und Anwerbern war schon immer ihre ganz besondere Wonne gewesen. Es gab in jenen alten Tagen keinen einzigen sowjetischen Überläufer, dessen Vernehmungsprotokoll nicht durch Mütterchen Rußlands gichtige Finger gegangen wäre; keinen einzigen Provokateur, der sich an einen identifizierten Talentsucher Karlas herangemacht hatte, den Connie nicht gierig bis in die kleinste Kleinigkeit in seinem Tanz um das Opfer nachgespielt hätte; kein Quentchen Hörensagen in den nahezu vierzig Jahren beim Bau, das nicht ihrem schmerzgequälten Körper einverleibt wurde und dort unter dem Trödel ihres umfassenden Gedächtnisses lagerte, um sofort wieder aufzutauchen, wenn sie danach kramte. Connies Hirn, hatte Control einmal in einer Art Verzweiflung gesagt, sei ein einziger riesiger Aktendeckel. Nach ihrer Entlassung ging sie zurück nach Oxford und vor die Hunde. Bis Smiley sie wieder anforderte, bestand ihr einziger Zeitvertreib darin, das Kreuzworträtsel der Times zu lösen, und sie brachte es gut und gerne auf ihre zwei Flaschen pro Tag. Aber in jener Nacht, in jener fast könnte man sagen historischen Nacht, als sie ihre Massen durch den Korridor des fünften Stockwerks und in Smileys Allerheiligstes schob, hatte sie sich in einen sauberen grauen Kaftan geworfen, ein Paar rosige Lippen, nicht unfern ihren eigenen, aufgemalt, sich den ganzen Tag nichts Stärkeres genehmigt als einen gräßlichen Pfefferminzlikör, dessen Fahne sie hinter sich herzog, und ihre Züge, darin waren sich später alle einig, trugen den Stempel des großen Ereignisses. Sie schleppte eine voluminöse Einkaufstasche aus Plastik, denn sie mochte kein Leder. In ihrer Höhle auf einem unteren Stockwerk wimmerte der Bastardhund Trot, den sie in einer Anwandlung von schlechtem Gewissen gegenüber seinem verstorbenen Vorgänger ins Haus genommen hatte, untröstlich unter ihrem Schreibtisch, zur höchsten Erbitterung des Zimmergenossen di Salis, der häufig insgeheim nach dem Tier ausschlug; oder in jovialeren Augenblicken sich damit begnügte, Connie die zahlreichen schmackhaften Arten aufzuzählen, in denen die Chinesen ihre Hunde für die Tafel zubereiteten. Vor den hohen edwardianischen Fenstern, an denen sie vorüberschritt, prasselte nach langer Trockenheit endlich der Spätsommerregen, und sie betrachtete ihn - wie sie später den anderen berichtete - als symbolisch, wenn nicht gar biblisch. Die Tropfen knallten wie Schüsse auf das Schieferdach und klebten die welken Blätter fest, die sich dort angesammelt hatten. Im Vorzimmer setzten die Mütter unbeirrt ihre Arbeit fort; sie waren an Connies Pilgerfahrten gewöhnt, ohne ihnen deshalb Sympathie entgegenzubringen. »Darlings«, murmelte Connie und winkte ihnen mit der verschwollenen Hand zu wie eine Königin. »So treue Seelen. So reine Seelen.«
In den Thronsaal führte eine Stufe nach abwärts - Uneingeweihte stolperten trotz des verblichenen Warnschilds meist hinunter -, und Connie mit ihrer Arthritis stieg rücklings ab wie über eine Leiter, während Guillam sie am Ellbogen festhielt. Smiley hatte die fleischigen Hände auf dem Schreibtisch gefaltet und sah ihr zu, wie sie ihre Opfergaben feierlich aus dem Behälter nahm: nicht das Auge eines Wassermolchs, nicht der Finger eines bei der Geburt erstickten Säuglings - dies Guillams Ausspruch -, sondern Akten, eine ganze Reihe mit Aufklebern und Anmerkungen versehen, die Ausbeute der jüngsten ihrer leidenschaftlichen Expeditionen durch das Archiv der Moskauer Zentrale, die bis vor ihrer Rückkehr aus dem Totenreich vor ein paar Monaten dank Haydon drei lange Jahre nur herumgelegen und Staub angesammelt hatten. Während sie sie herauszog und die Zettel glättete, die sie ihnen auf ihrer Schnitzeljagd wie Wegmarkierungen angesteckt hatte, lächelte sie ihr randvolles Lächeln - wiederum laut Guillam, den die Neugier gezwungen hatte, Feierabend zu machen und herüberzukommen -, und sie brabbelte »Aha, du kleiner Satan« und »Wo steckst du denn, du Stück Malheur?«, womit natürlich weder Smiley noch Guillam gemeint waren, sondern die Dokumente, denn Connie gefiel sich darin, so zu tun, als wäre alles lebendig und zeigte sich wenn irgend möglich widerspenstig, ob es nun ihr Hund Trot war oder ein Stuhl, der ihr im Weg stand oder die Moskauer Zentrale oder schließlich Karla selbst. »Eine richtige Rundreise, darlings«, verkündete sie, »hat Connie machen dürfen. Superspaß. Erinnert mich an Ostern, als Mutter rings ums Haus bunte Eier versteckte, und wir Mädels mußten sie suchen.«
Danach bemühte Guillam sich ungefähr drei Stunden lang, nur unterbrochen von Kaffee, Sandwiches und anderen unverlangten Köstlichkeiten, die der finstere Fawn ihnen aufnötigte, den verschlungenen Pfaden von Connies wunderbarer Reise zu folgen, deren solide Unterlagen sie inzwischen erfolgreich zusammengesucht hatte. Sie teilte Smiley Schriftstücke zu, als wären es Spielkarten, klatschte sie hin und scharrte sie mit den verkrümmten Händen schon wieder zusammen, fast ehe er sie hatte lesen können. Die ganze Prozedur übergoß sie mit ihrem, laut Guillam, »fünftrangigen Rotwelsch«, dem Abrakadabra der verfolgungswahnsinnigen Wühlmaus. Im Kern ihrer Entdeckung lag, soweit Guillam ausmachen konnte, eine Moskauer Goldader; eine sowjetische Manipulation, die geheime Gelder in offene Kanäle leiten sollte. Das Lagebild sei noch nicht vollständig. Die Israelis hatten einen Teil geliefert, einen weiteren die Vettern, Steve Mackelvore, Oberresident in Paris, jetzt tot, den dritten. Von Paris aus wandte die Spur sich nach Osten, auf dem Weg über die Banque del Indochine. In dieser Phase wurden zudem die Dokumente Haydons London Station, wie die Einsatzzentrale hieß, angeboten, zusammen mit einer Empfehlung der entvölkerten Rußland-Abteilung, daß der Fall für umfassende Recherchen vor Ort freigegeben werde. London Station würgte den Vorschlag glatt ab.