»Potentiell schädlich für eine hochempfindliche Quelle«, schrieb einer von Haydons Günstlingen, und damit hatte sich's. »Ablegen und vergessen«, murmelte Smiley, während er zerstreut die Seiten umwandte. »Ablegen und vergessen. Wir haben immer gute Gründe, nichts zu unternehmen.« Draußen lag die Welt in tiefem Schlaf.
»Genau, mein Lieber«, sagte Connie sehr leise, als fürchtete sie, ihn zu wecken.
Jetzt waren Akten und Hefter über den ganzen Thronsaal verstreut. Die Szenerie glich weit eher einer Katastrophe als einem Triumph. Eine weitere Stunde hindurch blickten Guillam und Connie schweigend ins Leere oder auf Karlas Fotografie, während Smiley gewissenhaft Connies Schritte zurückverfolgte. Sein aufmerksames Gesicht war dicht über die Leselampe gebeugt, die schwammigen Züge wurden vom Lichtstrahl schärfer hervorgehoben, die Hände fuhren übers Papier und hoben sich dann und wann zum Mund, damit er den Daumen ablecken konnte. Ein paarmal machte er Miene, sie anzublicken oder den Mund zum Sprechen zu öffnen, aber Connie hatte die Antwort schon bereit, ehe er die Frage stellen konnte. Sie ging im Geist ständig neben ihm her. Als er fertig war, lehnte er sich zurück, nahm die Brille ab und putzte sie, ausnahmsweise nicht mit dem breiten Ende seiner Krawatte, sondern mit einem neuen Seidentuch aus der Brusttasche seines schwarzen Rocks, denn er hatte den Tag größtenteils in Klausur mit den Vettern behufs Durchsetzung seiner Interessen verbracht. Während er dies tat, strahlte Connie Guillam an und knautschte affektiert: »Ist er nicht geliebt?« - ein geflügeltes Wort, wenn sie von ihrem obersten Chef sprach, das Guillam fast zur Raserei trieb.
Smileys nächste Verlautbarung kam im Ton eines milden Einwands.
»Trotzdem, Con, London hat wirklich ein formelles Ansuchen um Aufklärung an unseren Residenten in Vientiane geschickt.«
»War, ehe Bill Zeit gehabt hat, seinen Huf draufzusetzen«, erwiderte sie.
Smiley schien sie nicht gehört zu haben, er nahm eine aufgeschlagene Akte und hielt sie ihr über den Schreibtisch weg vor die Nase: »Und Vientiane hat wirklich ausführlich geantwortet. Alles im Index vermerkt. Das Schreiben scheint aber nicht dabei zu sein. Wo ist es?«
Connie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die dargebotene Akte entgegenzunehmen.
»In der Häckselmaschine, darling«, sagte sie und strahlte Guillam triumphierend an.
Der Tag war angebrochen. Guillam ging überall herum und knipste die Lampen aus.
Am gleichen Nachmittag suchte Guillam den ruhigen Spielclub im West End auf, wo Sam Collins in der ewigen Nacht seines freiwilligen Exils die Leiden des Ruhestands genoß. Zu seiner Überraschung wurde Guillam, der ihn bei der Beaufsichtigung des üblichen nachmittäglichen chemm-de-fer-Spielchens vermutete, in ein prächtiges Gemach mit der Aufschrift »Geschäftsleitung« geführt. Sam ruhte hinter einem imposanten Schreibtisch und grinste wohlig durch den Rauch seiner üblichen braunen Zigarette.
»Was zum Teufel haben Sie angestellt, Sam?« flüsterte Guillam wie ein Bühnenschurke und tat, als blickte er sich nervös um. »Die Mafia übernommen? Herrjeh!«
»Ach, das war nicht nötig«, sagte Sam mit dem gleichen Schmierengrinsen. Er warf einen Regenmantel über den Smoking, führte Guillam durch einen Korridor und den Notausgang auf die Straße, und sie sprangen in Guillams wartendes Taxi, während Guillam sich insgeheim noch immer über Sams nagelneue Vornehmheit wunderte.
Außenleute haben verschiedene Arten, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Sam zum Beispiel tat es, indem er grinste, langsamer rauchte und einen dunklen Glanz besonderer Nachsicht in die Augen bekam, die er fest auf seinen Gesprächspartner richtete. Sam war Asienmann gewesen, ein alter Circus-Hase mit einer Menge Erfahrung im Außendienst: fünf Jahre in Borneo, sechs in Birma, weitere fünf im nördlichen Thailand und zuletzt drei in der laotischen Hauptstadt Vientiane, alles unter der naheliegenden Legende als Export-Import-Kaufmann. Die Thais hatten ihn zweimal im Schwitzkasten gehabt, aber wieder laufen lassen. Er hatte Hals über Kopf aus Sarawak abzischen müssen. Wenn er in Stimmung war, konnte er allerhand über seine Abenteuer bei den Bergstämmen Nordbirmas und in den Shan-Staaten erzählen, aber er war nur selten in Stimmung. Sam war auch eines der Haydon-Opfer. Vor nunmehr fünf Jahren hatte Sams mühelose Meisterschaft ihn einen Augenblick lang zum ernsthaften Kandidaten für eine Beförderung in die fünfte Etage gemacht - ja, so hieß es, sogar für den Chefposten selbst, wenn Haydon sich nicht mit seinem ganzen Gewicht hinter den lächerlichen Percy Alleline gestellt hätte. Anstatt in Amt und Würden grau zu werden, konnte Sam nun im Außendienst verschimmeln, bis Haydon eine Gelegenheit fand, ihn zurückzupfeifen und wegen angeblich schuldhaften Fehlverhaltens an die Luft setzen zu lassen. »Sam! Wie nett von Ihnen! Bitte Platz zu nehmen!« sagte Smiley in ausnahmsweise überströmender Gastlichkeit. »Etwas zu trinken? Wie spät ist es nach Ihrer Zeitrechnung? Vielleicht sollten wir Ihnen ein Frühstück anbieten?«
In Cambridge hatte Sam mit Auszeichnung abgeschlossen, zum ratlosen Erstaunen seiner Lehrer, die ihn bis dato als Halbidioten eingestuft hatten. Er hatte es, wie die Herren Professoren einander tröstend versicherten, ausschließlich dank seinem phänomenalen Gedächtnis geschafft. Weniger weltfremde Zungen erzählten allerdings eine andere Geschichte. Nach ihrer Version habe Sam eine Liebschaft mit einem häßlichen Mädchen aus dem Büro der Prüfungskommission auf sich genommen und von seiner Herzdame, neben anderen Gunstbeweisen, ein Vorausexemplar der Examensthemen erhalten.
Das Schloß erwacht
Smiley tastete zunächst einmal bei Sam das Gelände ab und Sam, selbst ein alter Pokerspieler, tastete das Gelände bei Smiley ab. Manche Außenagenten, und besonders die klügsten, setzen einen perversen Ehrgeiz darein, nicht das ganze Bild zu kennen. Ihre Kunst besteht in der geschickten Handhabung der Details. Sie weigern sich hartnäckig, weiterzugehen. Sam war so veranlagt. Nachdem Smiley ein bißchen in Sams Dossier gestöbert hatte, testete er ihn anhand verschiedener alter Vorfälle, die nichts Bedrohliches an sich hatten, aber auf Sams gegenwärtige Disposition schließen ließen und sein präzises Erinnerungsvermögen bestätigten. Er empfing Sam allein, denn in Anwesenheit weiterer Personen wäre es ein anderes Spiel gewesen: intensiver oder weniger intensiv, auf jeden Fall anders. Später, als die Geschichte klar ans Licht gekommen war und nur noch Nachstoßfragen zu stellen waren, ließ er allerdings Connie und Doc di Salis aus den Niederungen heraufholen und auch Guillam dabeisitzen. Aber das war später, und fürs erste testete Smiley Sams Gedächtnis allein, wobei er ihm verschwieg, daß alle einschlägigen Unterlagen vernichtet waren und daß Sam nun, nach Mackelvores Tod, der einzige Zeuge gewisser entscheidender Vorkommnisse war. »Also, Sam, erinnern Sie sich noch«, fragte Smiley, als ihm endlich der rechte Augenblick gekommen schien, »an eine Anfrage aus London, die Sie einmal in Vientiane erreichte betreffs gewisser Geldüberweisungen aus Paris? Es müßte ein ganz normales Ansuchen um >anonyme Nachforschungen gewesen sein, >bitten um Bestätigung oder Fehlanzeige< - so in dieser Art? Fällt Ihnen da zufällig etwas ein?«