»Befehl ist Befehl«, sagte Sam lächelnd.
»Jawohl. Und als Sie dann schließlich nach London zurückkamen«, fuhr Smiley beherrscht und zwanglos fort, »und ihre >Willkommen-zuhause-gut-gemacht<-Sitzung mit Bill hatten, ob Sie da wohl, so ganz nebenbei, zufällig die Sache Bill gegenüber erwähnten?«
»Hab' ihn gefragt, was zum Teufel er sich dabei gedacht hat«, gab Sam ebenso lässig zurück.
»Und was hatte Bill darauf zu antworten, Sam?«
»Hat's auf die Vettern geschoben. Sagte, sie hätten es schon vor uns im Programm gehabt. Sagte, es sei ihr Fall und ihr Sprengel.«
»Hatten Sie irgendeinen Grund, ihm das zu glauben?«
»Klar. Ricardo.«
»Sie nahmen an, er gehörte den Vettern?«
»Er ist für sie geflogen. Stand schon in ihren Büchern. Genau der Richtige. Sie mußten nur dafür sorgen, daß er bei der Stange blieb.«
»Ich dachte, wir wären uns einig, daß ein Mann wie Ricardo keinen Zugang zu den wirklichen Geschäften der Gesellschaft haben würde.«
»Hätte sie nicht abgehalten, ihn zu benutzen. Nicht die Vettern. Würde immer noch ihr Fall sein, auch wenn Ricardo eine Null wäre. Das Hände-Weg-Abkommen würde unter allen Umständen gelten.«
»Gehen wir nochmals zurück bis dorthin, als London Sie von der Sache abzog. Sie erhielten den Befehl >alles einstellen. Sie gehorchten. Aber es dauerte doch noch eine ganze Weile, ehe Sie nach London zurückkehrten, nicht wahr? Hat's noch irgendeine Nachlese gegeben?«
»Kann Ihnen nicht ganz folgen, alter Junge.«
Wiederum machte Smiley sich im stillen eine gewissenhafte Notiz über Sams Ausweichen.
»Zum Beispiel Ihr freundschaftlicher Kontakt zur Banque del Indochine. Johnny. Sie hielten die Beziehung zu ihm aufrecht, versteht sich.«
»Klar«, sagte Sam.
»Und erwähnte Johnny Ihnen gegenüber zufällig, rein als geschichtliche Tatsache, was aus der Goldader wurde, nachdem Sie Ihr Hände-Weg-Telegramm erhielten? Floß sie auch weiterhin Monat für Monat, so wie vorher?«
»Knall auf Fall aufgehört. Paris hat den Hahn zugedreht. Kein Indocharter, kein gar nichts.«
»Und Handels-Boris, der Mann ohne Vorstrafen? Lebt er noch heute bis an sein seliges Ende?«
»Ging nach Hause.«
»War er dran?«
»Hat drei Jahre voll gehabt.«
»Im allgemeinen machen sie mehr.«
»Besonders die Geheimen«, pflichtete Sam grinsend bei.
»Und Ricardo, der verrückte mexikanische Flieger, den Sie als Agenten der Vettern verdächtigen: was ist aus ihm geworden?«
»Tot«, sagte Sam und ließ Smiley nicht aus den Augen, »Abgestürzt droben an der Grenze von Thailand. Die Jungens schoben es auf eine Überdosis Heroin.«
Unter Druck förderte Sam auch dieses Datum zutage.
»Herrschte große Trauer darüber in der Gemeinde, sozusagen?«
»Nicht viel. Allgemein schien man der Ansicht zu sein, Vientiane würde sicherer sein ohne Ricardo, der gern seine Pistole in den Plafond des White Rose oder bei Madame Lulu abfeuerte.«
»Wo wurde dieser Ansicht Ausdruck verliehen, Sam?«
»Oh, Bei Maurice.«
»Maurice?«
»Hotel Constellation. Maurice ist der Besitzer.«
»Aha. Danke.«
Hier klaffte entschieden eine Lücke, aber Smiley zeigte keine Neigung, sie auszufüllen. Während Sam und seine drei Assistenten und Fawn das Faktotum ihn beobachteten, rückte Smiley an seiner Brille, kippte sie nach vorn, setzte sie wieder zurecht und legte die Hände auf die gläserne Schreibplatte zurück. Dann ließ er Sam die ganze Geschichte noch einmal herbeten, verglich Daten und Namen und Orte sehr eingehend, wie das alle gelernten Vernehmer in der ganzen Welt tun, lauschte aus alter Gewohnheit auf die winzigen Abweichungen und die zufälligen Widersprüche und die Auslassungen und die Akzentverschiebungen, und schien keine zu finden. Und Sam ließ es geschehen, wiegte sich in falscher Sicherheit und zeigte das gleiche ausdruckslose Lächeln, mit dem er Spielkarten über die Tuchbespannung gleiten sah oder das Rouletterad beobachtete, wie es die weiße Kugel von einer Vertiefung in die andere hüpfen ließ.
»Sam, ob Sie es wohl einrichten könnten, die Nacht über bei uns zu bleiben?« sagte Smiley, als die beiden wieder allein waren. »Fawn wird Ihnen ein Bett zurechtmachen und so weiter. Glauben Sie, daß Sie es mit Ihrem Club hinkriegen?«
»Mein lieber Freund«, sagte Sam großmütig. Dann tat Smiley etwas ausgesprochen Beunruhigendes. Nachdem er Sam einen Packen Zeitschriften gegeben hatte, telefonierte er nach Sams Personalakte, sämtliche Bände, und während Sam vor ihm saß, las er sie schweigend durch, einen Band nach dem anderen.
»Wie ich sehe, sind Sie ein Damenfreund«, bemerkte er schließlich, als vor den Fenstern die Dämmerung herabsank. »Dann und wann«, gab Sam zu und lächelte noch immer. »Dann und wann.« Aber seiner Stimme war die Nervosität deutlich anzuhören.
Als es Abend wurde, schickte Smiley die Mütter nach Hause und ließ durch die Housekeepers Befehl ergehen, daß bis spätestens acht Uhr die Archive von allen Wühlmäusen geräumt sein müßten. Er gab keine Gründe an. Er ließ sie denken, was sie wollten. Sam sollte sich in der Rumpelkammer hinlegen, um jederzeit zur Hand zu sein, und Fawn sollte ihm Gesellschaft leisten und ihn nicht herumgeistern lassen. Fawn führte diesen Befehl buchstäblich aus. Selbst als die Stunden sich hinzogen und Sam zu dösen schien, blieb Fawn zusammengekauert wie eine Katze auf der Türschwelle hocken, aber die Augen hielt er offen. Dann verschanzten sich die vier in der Registratur - Connie, di Salis, Smiley und Guillam - und machten sich auf die lange, vorsichtige Schnitzeljagd. Zuerst suchten sie nach den Unterlagen zu dem betreffenden Einsatz, die von Rechts wegen bei Südostasien abgelegt sein sollten, unter den von Sam angegebenen Daten. In der Kartei fand sich keine Karte, und es fanden sich auch keine Einsatzpapiere, aber das mußte noch nichts zu bedeuten haben. In Haydons London Station waren operative Akten häufig abgefangen und seinem eigenen Geheimarchiv einverleibt worden. Also tappten sie durch das Souterrain, wo ihre Tritte auf den braunen Linoleumfliesen klapperten, bis sie zu einem vergitterten Alkoven kamen, einer Art Seitenkapelle, in der die Überreste des einstigen Archivs von London Station zur Ruhe gebettet waren. Wieder fanden sie keine Karteikarte und keine Papiere. »Sehen wir bei den Telegrammen nach«, befahl Smiley, also gingen sie die Telegrammbücher durch, Eingang und Ausgang, und für einen Augenblick war zumindest Guillam drauf und dran, Sam der Lüge zu verdächtigen, bis Connie sie darauf aufmerksam machte, daß die entscheidenden Seiten auf einer anderen Schreibmaschine getippt worden waren: einer Maschine, die, wie sich später herausstellte, erst sechs Monate nach dem Datum auf der Seite angeschafft worden war. »Die Laufzettel«, befahl Smiley.
Die Laufzettel des Circus waren zweifache Kopien der Ausleihlisten, die von der Registratur ausgegeben wurden, wenn Einsatzunterlagen in ständiger Bewegung zu sein drohten. Sie wurden in Lose-Blatt-Heftern verwahrt wie alte Zeitschriften, und alle sechs Wochen wurde eine Kartei anglegt. Nach langem Graben wurde Connie mit Hilfe des Südostasienbandes fündig, der die sechs Wochenperioden unmittelbar nach Collins' Suchanforderung enthielt. Es fand sich darin kein Hinweis auf eine vermutete sowjetische Goldader, und auch keiner auf Indocharter, Vientiane, S. A.
»Probieren Sie's mit den PAs«, sagte Smiley unter Benutzung der ansonsten von ihm verabscheuten Abkürzung. Also zogen sie in eine andere Ecke der Registratur und arbeiteten sich durch Schubkästen voller Karteikarten. Zuerst suchten sie nach persönlichen Unterlagen über Handels-Boris, dann über Ricardo, dann unter angenommenen Namen für Tiny, mutmaßlich tot, die Sam anscheinend in seinem ursprünglichen, vom Unglück verfolgten Bericht an London Station erwähnt hatte. In Abständen wurde Guillam nach oben geschickt, um Sam eine Kleinigkeit zu fragen, fand ihn bei der Lektüre von Field und an einem großen Glas Whisky nippen, unerbittlich bewacht von Fawn, der zur Abwechslung - wie Guillam später erfuhr - gelegentlich Liegestütze machte, zuerst auf zwei Knöcheln einer jeden Hand, dann auf den Fingerspitzen. Für Ricardo entwickelten sie phonetische Varianten und suchten im Personenregister auch nach ihnen. »Wo sind die Organisationen abgelegt?« fragte Smiley. Aber von der als Indocharter, Vientiane, bekannten societe anonyme fand sich auch in der Kartei der Organisationen nichts. »Sehen Sie das Material der Verbindungsstelle nach.« Verhandlungen mit den Vettern wurden zu Haydons Zeit ausschließlich über das Sekretariat der Londoner Verbindungsstelle abgewickelt, über das er aus naheliegenden Gründen persönliche Befehlsgewalt hatte und das von der gesamten Korrespondenz zwischen den beiden Büros seine eigenen Kopien verwahrte. Sie kehrten wieder in die Seitenkapelle zurück und zogen abermals eine Niete. Für Peter Guillam nahm die Nacht unwirkliche Dimensionen an. Smiley war fast völlig verstummt. Das volle Gesicht wurde zu Stein. Connie hatte in der Erregung ihre arthritischen Schmerzen und Beschwerden vergessen und hüpfte herum wie ein Teenager beim Ball. Guillam, der alles andere als ein geborener Papiermensch war, mühte sich hinter ihr her, tat, als hielte er mit der Meute Schritt und war insgeheim dankbar für seine Ausflüge hinauf zu Sam. »Wir haben ihn, George, darling«, sagte Connie immer wieder flüsternd. »Klar wie Kloßbrühe, daß wir die verdammte Kröte hierhaben.«