Doc di Salis war abgetänzelt, um die chinesischen Direktoren von Indocharter herauszusuchen - Sam hatte erstaunlicherweise noch immer zwei Namen im Kopf - und schlug sich zunächst mit der chinesischen Form der Namen herum, dann mit der Umschrift in lateinischen Buchstaben und schließlich im chinesischen Handelscode. Smiley saß auf einem Stuhl und las die Akten, die er auf den Knie liegen hatte wie ein Mann in der Eisenbahn, der die übrigen Fahrgäste beharrlich ignoriert. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf, aber die Töne, die er vernahm, kamen nicht aus diesem Raum. Connie hatte sich aus eigenem Antrieb in die Suche nach Querverbindungen zu Akten gestürzt, mit denen die Einsatzpapiere theoretisch in Bezug stehen sollten. Es fanden sich persönliche Unterlagen über Söldner und über freiberufliche Piloten. Es fanden sich Verfahrensunterlagen über die Techniken der Zentrale für das Durchschleusen von Agentenentlohnungen und sogar eine von ihr selbst vor Jahren verfaßte Abhandlung über das Thema: Anonyme Zahlmeister für Karlas illegale Netze, die ohne Wissen der regulären Residenten betrieben werden. Handels-Boris' unaussprechliche Familiennamen waren dem Anhang nicht beigefügt. Es fanden sich Background-Unterlagen über die Banque de l'Indochine und ihre Verbindungen zur Moskauer Narodny Bank und Statistiken über die wachsenden Aktivitäten Moskaus in Südostasien und Arbeitspapiere über die Residentur in Vientiane. Aber die Fehlanzeigen wurden nur immer mehr, und je mehr sie wurden, desto mehr bestätigten sie die positive Annahme. Nirgendwo waren sie bei ihrer Jagd nach Haydon auf eine so systematische und umfassende Verwischung aller Spuren gestoßen. Es war die Rückpeilung aller Zeiten. Und die Fährte wies unleugbar nach Fernost. In dieser Nacht fand sich nur ein einziger Hinweis auf den Schuldigen. Sie entdeckten ihn irgendwann zwischen Dämmerung und Tag, während Guillam im Stehen schlief. Connie hatte den Fingerzeig ausgegraben, Smiley legte ihn schweigend auf den Tisch, und zu dreien beäugten sie ihn unter der Leselampe, als wäre er der Schlüssel zu einem vergrabenen Schatz: ein Packen Anweisungen zur Vernichtung von Dokumenten, insgesamt ein Dutzend, abgezeichnet mit einem in schwarzem Filzstift hingekritzelten Codesigel quer durch die Mitte, fast wie eine hübsche Kohlezeichnung. Die todgeweihten Dokumente bezogen sich auf: »streng geheime Korrespondenz mit H/Annex« - was heißen sollte mit dem Londoner Chef der Vettern, damals wie heute Smileys Bruder in Christo, Martello. Der Grund für die Vernichtung war der gleiche, den Haydon Sam Collins für das Einstellen der Nachforschungen in Vientiane genannt hatte: »Gefahr, schwierige amerikanische Operation zu stören.« Unterzeichnet war das Papier, das die Dokumente zum Feuertod verurteilte, mit Haydons Codenamen.
Smiley begab sich wieder nach oben und bat Sam nochmals in sein Büro. Sam hatte die Smokingschleife abgenommen, und die Stoppeln um sein Kinn und das offene weiße Hemd machten ihn bedeutend weniger elegant.
Als erstes schickte Smiley Fawn um Kaffee. Er wartete, bis der Kaffee kam und bis Fawn wieder hinausgeflitzt war, ehe er zwei Tassen eingoß, beide schwarz, Zucker für Sam, Süßstoff für Smiley wegen seiner Figurprobleme. Dann ließ er sich in einem weichen Polstersessel neben Sam nieder, nicht hinter dem Schreibtisch, um mit Sam auf gleicher Ebene zu verhandeln. »Sam, ich glaube, ich sollte noch einiges über das Mädchen erfahren«, sagte er sanft, als überbrächte er eine schlechte Nachricht. »Haben Sie sie aus Ritterlichkeit aus dem Spiel gelassen?«
Sam wirkte recht belustigt: »Die Unterlagen verloren, was, alter Junge?« erkundigte er sich mit der gleichen augenzwinkernden Vertraulichkeit.
Manchmal muß man, um ein Geheimnis zu erfahren, ein eigenes preisgeben.
»Bill hat sie verloren«, erwiderte Smiley freundlich. Sam verfiel demonstrativ in tiefes Sinnen. Er rollte eine seiner Kartenspielerhände ein und inspizierte die Fingerspitzen; beklagte deren unsauberen Zustand.
»Mein Club da läuft heutzutage praktisch von alleine«, grübelte er. »Langweilt mich allmählich, offen gesagt. Geld, Geld. Zeit, daß ich mich verändere, etwas aus mir mache.«
Smiley verstand, aber er mußte fest bleiben.
»Ich habe keine Mittel, Sam. Ich kann kaum die Münder füttern, die ich bis jetzt engagiert habe.«
Sam schlürfte gedankenvoll seinen schwarzen Kaffee und lächelte durch den Dampf.
»Wer ist sie, Sam? Was hat's damit auf sich. Niemand wird sich darüber aufregen, und wenn's noch so schlimm ist. Vergessen und vergeben.«
Sam stand auf, schob die Hände in die Taschen, schüttelte den Kopf und fing an, ähnlich wie Jerry Westerby es gemacht hätte, im Zimmer umherzuwandern und die deprimierenden Relikte zu betrachten, die an den Wänden herumhingen: Gruppenfotos von Oxfordleuten in Uniform, aus der Kriegszeit; ein gerahmter handgeschriebener Brief eines toten Premierministers und wiederum Karlas Porträt, das er ganz in der Nähe studierte, lange Zeit hindurch.
»> Wirf niemals deine Chips weg<«, bemerkte er so dicht vor Karla, daß sein Atem das Glas beschlug. »Das hat meine alte Mutter mir ständig eingetrichtert. >Verschleudere niemals deine Trümpfe. Wir bekommen nur sehr wenige im Leben. Mußt sie sparsam herausrücken.< Nicht als ob das Spiel nicht rollte, wie?« erkundigte er sich. Mit dem Ärmel wischte er das Glas ab. »In Ihrem Haus hier herrscht ein gesunder Appetit. Hab' ich sofort gespürt, als ich reinkam. Der große Tisch, sagte ich mir. Fällt für Klein Sammy auch was ab.«
Er war wieder bei Smileys Schreibtisch angelangt und setzte sich auf den Stuhl, als wolle er ausprobieren, ob er bequem sei. Der Stuhl war nicht nur drehbar, er schaukelte auch. Sam probierte beide Bewegungen aus. »Ich brauche eine Suchanforderung«, sagte er.
»In Ordnung«, sagte Smiley und beobachtete Sam, während er die Schublade aufzog, ein gelbes Formular herauszog und es auf die gläserne Schreibplatte legte.
Ein paar Minuten lang war Sam wortlos mit dem Ausfüllen beschäftigt, hielt, von Zeit zu Zeit zwecks künstlerischer Überlegung inne und schrieb wieder weiter.
»Rufen Sie mich an, wenn sie auftaucht«, sagte er, winkte Karla scherzhaft zu und empfahl sich.
Als er fort war, nahm Smiley das Formblatt vom Schreibtisch, ließ Guillam kommen und händigte es ihm wortlos aus. Auf der Treppe machte Guillam halt, um den Text zu lesen. »Worthington Elizabeth alias Lizzie, alias Ricardo Lizzie.« Das war die erste Zeile. Dann die Einzelheiten: »Alter etwa siebenundzwanzig. Staatsangehörigkeit britisch. Familienstand verheiratet, Näheres über den Ehemann nicht bekannt, Mädchenname gleichfalls nicht bekannt. 1972/73 Ehe nach dem Common Law mit Ricardo Tiny, inzwischen verstorben. Letzter bekannter Wohnort Vientiane, Laos. Letzte bekannte Beschäftigung: Empfangssekretärin bei Indocharter, Vientiane S. A. Frühere Beschäftigungen: Nachtclub-Hostess, Whiskyvertreterin, Edelnutte.« Zur Ausübung ihrer wie immer glanzlosen Rolle benötigte die Registratur in jenen Tagen ungefähr drei Minuten, um zu bedauern: »Keine Hinweise wiederholen keine Hinweise auf Zielperson.« Darüber hinaus griff die Bienenkönigin den Ausdruck »edel« auf. Sie bestand darauf, »bessere« sei die korrekte Bezeichnung für eine solche Nutte.