Seltsamerweise ließ Smiley sich durch Sams Widerspenstigkeit nicht stören. Er schien sie klaglos als wesentlichen Bestandteil des Metiers hinzunehmen. Hingegen forderte er Kopien aller Quellenberichte an, die Sam während der letzten rund zehn Jahre aus Vientiane oder anderswo beigebracht hatte und die Haydons geschicktem Messer entgangen waren. Und dann begann er sie in seinen Mußestunden, soweit vorhanden, durchzuackern und gestattete seiner rastlosen Phantasie, sich Bilder von Sams privater trüber Welt zu machen.
In diesem Stadium, als die ganze Sache in der Schwebe hing, bewies Smiley höchst lobenswertes Taktgefühl, wie später alle zugaben. Ein geringerer Mann wäre vielleicht zu den Vettern hinübergestürmt und hätte als eine Sache von höchster Dringlichkeit verlangt, daß Martello die amerikanische Seite des vernichteten Schriftwechsels heraussuche und ihm Einblick gewähre, aber Smiley wollte nichts aufrühren, nichts andeuten. Also wählte er statt dessen seinen bescheidensten Boten. Molly Meakin war eine artige hübsche junge Dame mit Hochschulexamen, vielleicht ein bißchen blaustrümpfig, ein bißchen vergeistigt, aber sie hatte sich bereits einen bescheidenen Namen als fähige Kraft gemacht und war dem Circus von Vaters- und Brudersseite seit langem verbunden. Zur Zeit des Sündenfalls war sie noch auf Probe angestellt und verdiente sich ihre Sporen in der Registratur. Danach wurde sie dem Stammpersonal einverleibt und bekam eine Beförderung, wenn dies das richtige Wort ist, in die »Fleischbeschau«, von wannen, wie die Sage behauptet, noch niemals ein Mann, geschweige eine Frau, lebend wiedergekehrt war. Aber Molly hatte - vielleicht durch Vererbung - das, was man beim Bau als natürliches Auge bezeichnet. Während ihre Umgebung noch darüber palaverte, wo genau jeder gewesen sei und was jede getragen habe, als die Nachricht von Haydons Festnahme bei ihnen eintraf, baute Molly in aller Stille einen unauffälligen und inoffiziellen Kanal zu ihrer Partnerstelle im Annex am Grosvenor Square, der sich an den von den Vettern seit dem Sündenfall eingeführten Dienstwegen vorbeischlängelte. Ihr wichtigster Verbündeter war die Routine. Mollys Besuchstag war Freitag. Jeden Freitag trank sie Kaffee mit Ed, der den Computer bediente; sie sprach über Musik mit Marge, die Ed ablöste, und manchmal blieb sie auf ein Tänzchen oder eine Partie Shuffleboard oder Kegeln im Twilight Club im Souterrain des Annex. Freitag war auch der Tag, an dem sie so ganz nebenbei ihre kleine Einkaufsliste von Suchanforderungen mitnahm. Auch wenn nichts anstand, so erfand Molly vorsorglich irgend etwas, um den Kanal offen zu halten. An diesem speziellen Freitag nahm Molly Meakin auf Smileys Geheiß den Namen Tiny Ricardo in ihre Liste auf. »Aber ich will nicht, daß er irgendwie auffällt, Molly«, sagte Smiley besorgt.
»Natürlich nicht«, sagte Molly.
Als Rauch, wie Molly es nannte, wählte sie ein Dutzend weitere Rs, und als sie zu Ricardo kam, schrieb sie auf »Richards, siehe auch Rickard, siehe auch Ricardo, Beruf Lehrer, siehe auch Fluglehrer«, so daß der echte Ricardo nur als eine mögliche Identifizierung auftauchen würde. Staatsangehörigkeit mexikanisch siehe auch arabisch, fügte sie hinzu: und sie streute als zusätzliche Information hinein, daß er ohnehin bereits tot sein könne.
Es war wieder einmal später Abend, als Molly in den Circus zurückkehrte. Guillam war erschöpft. Vierzig ist ein schwieriges Alter zum Wachbleiben, fand er. Mit zwanzig oder mit sechzig weiß der Körper, woran er ist, aber vierzig ist eine Entwicklungsstufe, in der man schläft, um erwachsen zu werden oder jung zu bleiben. Molly war dreiundzwanzig. Sie ging direkt in Smileys Zimmer, setzte sich artig mit zusammengepreßten Knien hin und packte ihre Tasche aus, genau beobachtet von Connie Sachs und noch genauer von Peter Guillam, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Es tue ihr leid, daß sie so spät komme, sagte sie ernsthaft, aber Ed habe darauf bestanden, sie in eine Wiederaufführung von True Grit mitzunehmen, einem Knüller im Twilight Club, und anschließend habe sie ihn abwimmeln müssen, wollte ihn jedoch nicht kränken, am allerwenigsten heute Abend. Sie reichte Smiley einen Umschlag, und er öffnete ihn und zog eine lange gelbbraune Computerkarte heraus. Hat sie ihn nun abgewimmelt oder nicht?, hätte Guillam gern gewußt. »Wie ist es gelaufen?« war Smileys erste Frage.
»Wie am Schnürchen«, antwortete sie.
»Was für ein seltsames Schriftstück«, rief Smiley zunächst aus. Aber als er weiterlas, wechselte sein Gesichtsausdruck langsam zu einem ungewohnten wölfischen Grinsen. Connie war weniger beherrscht. Als sie die Karte schließlich an Guillam weiterreichte, lachte sie lauthals: »O Bill! O du böser lieber Junge! Wie er alle in die falsche Richtung geschickt hat! O dieser Satan!« Um die Vettern zu beschwichtigen, hatte Haydon seine ursprüngliche Lüge umgekehrt. Im Klartext erzählte das ziemlich lange Computerblatt die folgende berückende Geschichte: Um zu verhindern, daß die Vettern parallel zum Circus Recherchen über die Firma Indocharter anstellten, hatte Bill Haydon in seiner Eigenschaft als Leiter von London Station pro forma ein Hände-Weg-Schreiben an den Annex geschickt, entsprechend der gültigen bilateralen Vereinbarung zwischen den beiden Dienststellen. Darin wurde den Amerikanern zur Kenntnis gebracht, daß Indocharter, Vientiane S. A. zur Zeit von London überprüft werde und daß der Circus einen Agenten am Ort habe. Die Amerikaner erklärten sich einverstanden, alle eventuellen Interessen an der Sache ruhen zu lassen, gegen Beteiligung am eventuellen Resultat. Um der britischen Operation behilflich zu sein, erwähnten die Vettern jedoch, daß ihre Verbindung zu dem Piloten Tiny Ricardo erloschen sei.
Kurzum, ein einmalig schönes Beispiel dafür, wie man ein doppeltes Spiel treibt.
»Danke, Molly«, sagte Smiley höflich, als alle ihrer Bewunderung Ausdruck verliehen hatten. »Vielen Dank.«
»Nichts zu danken«, sagte Molly artig wie ein Kindermädchen. »Und Ricardo ist wirklich tot, Mister Smiley«, fügte sie abschließend hinzu und nannte das gleiche Sterbedatum, das auch Sana Collins angegeben hatte. Damit ließ sie ihre Taschenbügel zuschnappen, zog den Rock über die bewundernswerten Knie und ging anmutig aus dem Zimmer, auch hierbei wieder genau beobachtet von Peter Guillam.
Jetzt herrschte eine andere Gangart, eine völlig andere Stimmung im Circus. Die fieberhafte Suche nach einer Spur, irgendeiner Spur, war vorüber. Sie konnten, anstatt in alle Richtungen zu galoppieren, auf ein Ziel zuschreiten. Die trennenden Schranken zwischen den beiden Familien fielen weitgehend: die Bolschies und die Gelben Gefahren wurden eine einzige Mannschaft unter der vereinten Führung Connies und des Doc, auch wenn jede ihre spezielle Domäne bewahrte. Danach kamen die freudigen Ereignisse für die Wühlmäuse in weiten Abständen, wie Wasserlöcher auf einem langen und staubigen Treck, und manchmal wären sie beinah am Wegrand zusammengebrochen. Connie brauchte nur eine Woche, um den sowjetischen Zahlmeister in Vientiane zu identifizieren, der die Überweisung von Geldern an Indocharter, Vientiane S. A. tätigte - Handels-Boris. Es handelte sich um den ehemaligen Soldaten Zimin, Ex-Absolvent von Karlas privatem Ausbildungslager in der Nähe von Moskau. Unter dem früheren Decknamen Smirnow war dieser Zimin bereits aktenkundig als einstiger Zahlmeister für einen ostdeutschen Apparat in der Schweiz vor sechs Jahren. Davor war er unter dem Namen Kursky in Wien aufgetaucht. Er hatte sich auch als Lauscher und Fallensteller hervorgetan, und man wollte wissen, daß er der gleiche Zimin sei, der in West-Berlin die großartige Liebesfalle für eben jenen französischen Senator aufgestellt habe, der dann später die Hälfte aller Geheimnisse seines Landes an die andere Seite verkauft hatte. Er hatte Vientiane genau einen Monat nach dem Eintreffen von Sams Bericht in London verlassen. Nach diesem kleinen Sieg nahm Connie sich die scheinbar unmögliche Aufgabe vor, herauszufinden, welche Anordnungen Karla oder sein Zahlmeister Zimin getroffen haben mochten, um die stillgelegte Goldader zu ersetzen. Verschiedene Ansätze standen ihr zur Verfügung. Erstens der bekannte Konservativismus riesiger Nachrichtenapparate und deren Festhalten an bewährten Handelswegen. Zweitens die Annahme, daß die Zentrale, da es sich um bedeutende Zahlungen handelte, das alte System baldmöglichst durch ein neues ersetzen müßte. Drittens Karlas Genugtuung sowohl vor dem Sündenfall, als er den Circus manövrierunfähig machte wie auch danach, als der Circus ihm zahnlos und in den letzten Zügen zu Füßen lag. Und schließlich verließ sie sich ganz einfach auf ihre eigene umfassende Kenntnis der Materie. Connies Team suchte zunächst die Unmengen nicht verarbeiteten Rohmaterials zusammen, das in den Jahren ihres Exils absichtlich vernachlässigt herumgelegen hatte, und unternahm gewaltige Streifzüge durch die Unterlagen, sichtete, verglich, fertigte Karten und Diagramme an, verfolgte die individuelle Handschrift bekannter Spezialisten, litt an Migränen, zankte sich, spielte Ping-Pong; und unternahm dann und wann mit nervtötender Behutsamkeit und mit Smileys ausdrücklicher Genehmigung schüchterne Erkundungsvorstöße in die Außenwelt. Eine freundschaftliche Beziehung in der City wurde überredet, einen alten Bekannten aufzusuchen, der sich mit Firmen auf dem Festland von Hongkong auskannte. Ein Devisenhändler in Cheapside gewährte Toby Esterhase, dem scharfäugigen ungarischen Überlebenden des frühen Circus - er war alles, was von der ruhmreichen riesigen Schar von Kurieren und Observanten noch übrig war -, Einsicht in seine Bücher. So ging es weiter, im Schneckentempo: aber wenigstens wußte die Schnecke, wohin sie wollte. Doc di Salis schlug in seiner distanzierten Art den überseeischen Chinapfad ein, arbeitete sich durch die verschlungenen Zusammenhänge zwischen Indocharter, Vientiane S. A. und dessen schwer zu fassenden Abfolgen von Stammfirmen. Seine Gehilfen waren so ungewöhnlich wie er selbst, entweder Sprachstudenten oder ältere reaktivierte Chinaexperten. Mit der Zeit nahmen sie eine einheitliche Blässe an, wie die Insassen des gleichen feuchtkalten Alumnats. Inzwischen schob Smiley sich nicht weniger behutsam voran, womöglich durch noch gewundenere Straßen und durch eine noch größere Anzahl von Türen.