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Er logierte, wenn überhaupt irgendwo fest, am Thurloe Square bei seiner Stiefmutter, der dritten Lady Westerby, in einer winzigen Wohnung voller Schnickschnack und riesiger Antiquitäten, geborgenem Gut aus aufgegebenen Häusern. Sie war eine bemalte, hennenartige Frau, zänkisch, wie das gealterte Schönheiten zuweilen sind, und beschimpfte ihn häufig wegen wirklicher oder eingebildeter Delikte wie zum Beispiel wegen Rauchens ihrer letzten Zigarette oder Einschleppens von Schmutz nach seinen bemessenen Streifzügen im Park. Jerry nahm alles geduldig hin. Manchmal, wenn er erst um drei oder vier Uhr morgens heimkam, aber noch immer nicht schläfrig war, hämmerte er an ihre Tür, um sie zu wecken, obwohl sie meist ohnehin schon wach war; und wenn sie ihr Make-up aufgelegt hatte, setzte er sie in ihrem rüschenraschelnden Morgenrock auf sein Bett, drückte ihr eine Riesenportion creme de menthe frappee in die winzigen Klauen, streckte sich in ganzer Länge auf der freien Fläche des Fußbodens inmitten eines Zauberbergs von Gerumpel und fuhr mit dem, was er als Einpacken bezeichnete, fort. Der Berg bestand aus allem möglichen unnützen Zeug: alten Zeitungsausschnitten, Haufen vergilbter Zeitungen, Dokumenten, mit grünem Band umwunden, und sogar ein Paar maßgearbeitete Reitstiefel war darunter, auf Leisten gespannt und grün vor Schimmel. Theoretisch traf Jerry eine Auswahl alles dessen, was er für seine Reise benötigen würde, aber er kam selten über die Bergung von Souvenirs hinaus, die in beiden von ihnen eine Kette von Erinnerungen auslösten. Eines Nachts zum Beispiel grub er einen Band seiner frühesten Erzählungen aus.

»Heh, Pet! Hier ist eine gute! Hier reißt Westerby einem die Maske ab! Läßt dein Herz schneller schlagen, wie, altes Haus? Treibt das träge Blut durch die Adern?«

»Du hättest ins Geschäft deines Onkels eintreten sollen«, erwiderte sie, während sie mit großer Genugtuung die Seiten umblätterte. Besagter Onkel war ein Kieskönig, den Pet gern ins Treffen führte, um Old Sambos mangelnde Geschäftstüchtigkeit herauszustreichen.

Ein andermal fanden sie das jahrealte Testament des alten Herrn - »Ich, Samuel, auch bekannt als Sambo Westerby« - zusammen mit einem Packen Rechnungen und Anwaltskorrespondenz an die Adresse Jerrys in seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker irgendwo hineingestopft, alles voller Whisky- oder Chininflecken und stets beginnend mit: »Zu unserem Bedauern.«

»Hartes Schlägchen, das«, murmelte Jerry verlegen, als es zu spät war, den Umschlag wieder unter dem Gerumpel verschwinden zu lassen. »Könnten wir eigentlich ins Na-du-weißt-schon schmeißen, was, altes Haus?«

Ihre Knopfaugen funkelten ihn wütend an. »Laut«, befahl sie mit rauher Bühnenstimme, und schon durchstreiften sie gemeinsam die unentwirrbaren Knäuel von Treuhänderscharten, die Enkelkinder versorgten, Neffen und Nichten auf Schulen schickten, Apanagen für eine Ehefrau auf Lebenszeit sicherten, Kapital an Soundso bei Tod oder Verheiratung; quälten sich durch Nachsätze, die Wohlverhalten belohnten, andere, die Verstöße rächten.

»Heh, weißt du, wer das war? Vetter Aldred, das schwarze Schaf, der im Kittchen war! Herrjeh, warum wollte er ausgerechnet dem Geld hinterlassen? Hätt's in einer einzigen Nacht verputzt!« Und Nachsätze zwecks Versorgung der Rennpferde, die andernfalls womöglich unters Beil kämen: »Mein Pferd Rosalie in Maison Lafitte, zusammen mit zweitausend Pfund pro Jahr für Stallgeld . . . Mein Pferd Intruder, zur Zeit zum Training in Dublin, gehen an meinen Sohn Gerald, mit der Auflage, daß er bis zu ihrem natürlichen Tod für sie sorgen wird . . . « Old Sambo konnte, genau wie Jerry, ein Pferd über alles lieben. Auch für Jerry: Aktien. Ausschließlich für Jerry: das Aktienkapital der Gesellschaft in Millionenhöhe. Mantel, Macht, Verantwortung; eine ganze großartige Welt zum Erben und Sich-Tummeln - eine Welt, die dargeboten, sogar versprochen und dann wieder entzogen wurde: » . . . meinen Sohn, sämtliche Zeitungen der Gruppe entsprechend den zu meinen Lebzeiten üblichen Gepflogenheiten und Regeln zu übernehmen.« Sogar ein Bastard wurde bedacht; ein Betrag von zwanzigtausend, »frei von allen Steuern und anderen Zahlungsverpflichtungen, zahlbar an Miß Mary Soundso in Chobham, nachweislich Mutter meines Sohnes Adam«. Der einzige Haken: die Kasse war leer. Als das Imperium des großen Mannes dem Konkurs entgegentaumelte, schrumpften die Konten unaufhaltsam. Dann wuchsen die roten Zahlen zu langen blutsaugenden Insekten heran, schwollen jedes Jahr um eine Null.

»Ach ja, Pet«, sagte Jerry in der unirdischen Stille der ersten Morgendämmerung, als er den Umschlag wieder auf den Zauberberg warf. »Fix und fertig mit ihm, wie, altes Haus?« Er rollte sich auf die Seite, zog sich den Stapel vergilbter Zeitungen heran - letzte Nummern der väterlichen Geisteskinder - und wühlte sich, wie es nur alte Zeitungsleute können, durch den ganzen Haufen zugleich. »Kann nicht hinter den munteren Vöglein herjagen, dort, wo er jetzt ist, wie?« - gewaltiges Blätterrascheln-, »zwar, zuzutrauen wär's ihm, wie? Versuchen wird er's immer noch, wenn du mich fragst.« Und mit ruhigerer Stimme, während er sich umdrehte und die stumme kleine Puppe ansah, die auf seiner Bettkante saß und mit ihren Füßen kaum bis zum Boden reichte; »Du warst immer seine thai-thai, altes Haus, seine Nummer eins. Immer dein Lob gesungen. Hat's mir gesagt. >Pet ist das schönste Mädel auf der Welt<. Hat's mir gesagt. Seine eignen Worte. Hat's mir einmal über die ganze Fleet Street zugebrüllt. >Beste Ehefrau meines Lebens<.«

»Verdammter Satan«, sagte seine Stiefmutter mit leisem, jähem Ausbruch reinsten Nordengland-Dialekts, und die Fältchen reihten sich wie Operationsnadeln rings um den roten Saum ihrer Lippen. »Niederträchtiger Satan, ich hasse jeden Zoll an ihm.« Und eine ganze Weile verblieben sie so, keiner von ihnen sprach, Jerry lag auf dem Boden, kramte in seinem Gerumpel herum und riß an einer Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, Pet saß auf dem Bett, und beide waren in einer Art Liebe zu Jerrys Vater vereint. »Du hättest für deinen Onkel Paul Schotter verkaufen sollen«, seufzte sie mit der Klugheit einer vielenttäuschten Frau. An ihrem letzten Abend führte Jerry sie zum Essen aus, und danach, als sie wieder in Thurloe Square waren, servierte sie ihm Kaffee in dem erhalten gebliebenen Sevres-Service. Die noble Geste hatte eine Katastrophe zur Folge. Als Jerry gedankenlos den dicken Zeigefinger in den Henkel seiner Tasse zwängte, brach der Henkel mit einem leisen ptt, das gnädigerweise ihrer Aufmerksamkeit entging. Er hielt die Tasse geschickt in der hohlen Hand, um das Malheur vor ihr zu verbergen, bis er in die Küche entwischen und sie gegen eine andere austauschen konnte. Doch vor Gottes Zorn gibt es kein Entrinnen. Als Jerrys Flugzeug in Taschkent zwischenlandete - er hatte sich unterderhand eine Flugerlaubnis auf der transsibirischen Route verschafft -, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß die russischen Behörden an einem Ende der Wartehalle eine Bar eröffnet hatten: nach Jerrys Ansicht ein schlagender Beweis für die liberale Tendenz des Landes. Als er in seiner Jackentasche nach Hartgeld suchte, um sich einen großen Wodka zu genehmigen, zog er statt dessen das niedliche Porzellanfragezeichen mit den angebrochenen Enden heraus. Er verzichtete auf den Wodka.

In geschäftlichen Dingen zeigte er sich gleichbleibend verträglich, gleichbleibend nachgiebig. Sein literarischer Agent war eine alte Kricket-Bekanntschaft, ein Snob ungewisser Herkunft namens Mencken, bekannt als Ming, einer jener echten Narren, für die sich in der englischen Gesellschaft und besonders im Verlagswesen allemal ein bequemes Plätzchen findet. Mencken war dreist und ungestüm und schmückte sich mit einem Pfeffer-und-Salz-Vollbart, vielleicht um den Eindruck zu erwecken, er schriebe die Bücher, die er verhökerte. Sie lunchten in Jerrys Club, einem würdigen, heruntergekommenen Haus, das sein Überleben nur der Fusion mit bescheideneren Clubs und wiederholter Postwerbung verdankte. In einer Ecke des Speisesaals, unter den Marmoraugen einstiger Bildner des Empire, beklagten sie den Mangel schneller Ballmänner bei Lancashire. Jerry wünschte, Kent würde »den verdammten Ball schlagen, nicht daran rumstochern.« Middlesex, darin waren sich beide einig, hatte ein paar gute junge Nachwuchsspieler, aber: »Herr im Himmel, sehen Sie doch bloß, wie man sie aussucht«, sagte Ming kopfschüttelnd und schnitt sich das Essen auf dem Teller zurecht. »Schade, daß Ihnen die Puste ausging«, verkündete er Jerry und allen, die es hören wollten. »Niemand hat in jüngster Zeit einen Fernost-Roman geschrieben, soviel ich sehe. Greene hat es fertiggebracht, wenn Sie Greene ausstehen können, was ich persönlich nicht kann - zu viel Papisterei. Malraux, wenn Sie Philosophie mögen, ich persönlich mag sie nicht. Maugham geht noch, und davor ist es erst wieder Conrad. Wohlsein. Darf ich mal was sagen?« Jerry füllte Mings Glas. »Vorsicht mit der Hemingway-Masche. Diese gute Miene zum bösen Spiel, Liebe mit kaputten Eiern. Mag kein Mensch mehr, soviel ich sehe. War alles schon da.«