Jerry begleitete Ming ans Taxi.
»Darf ich mal was sagen?«fragte Mencken. »Längere Sätze. Wenn ihr alten Journalisten auf Romane umsteigt, schreibt ihr immer zu kurz. Kurze Absätze, kurze Sätze, kurze Kapitel. Ihr seht das Ganze in schmalen Kolumnen, anstatt quer über die Seite. Hemingway war genauso. Immer versucht, Romane auf die Rückseite einer Streichholzschachtel zu schreiben. In die Breite gehen, sage ich.«
»Cheero, Ming. Vielen Dank.«
»Cheero, Westerby. Empfehlung an Ihren alten Herrn, ja? Muß jetzt wohl auch nicht mehr der Jüngste sein. Jaja, das bleibt keinem erspart.«
Sogar Stubbs gegenüber bewahrte Jerry fast genau die gleiche sonnige Laune; obwohl Stubbs, wie Connie Sachs gesagt haben würde, eine widerliche Kröte war.
Zeitungsleute richten, wie alle, die viel reisen, überall das gleiche Durcheinander an, und Stubbs, der Chefredakteur der Gruppe, bildete keine Ausnahme. Sein. Schreibtisch war übersät mit teefleckigen Druckfahnen, tintenfleckigen Tassen und den Resten eines Schinkenbrötchens, das an Altersschwäche eingegangen war. Stubbs selbst thronte mittendrin und blickte Jerry so finster entgegen, als sei Jerry gekommen, um ihm seine Schätze zu rauben.
»Stubbsi. Stolz der Gilde«, murmelte Jerry, stieß die Tür auf und lehnte sich an die Wand, die Hände hinter den Rücken geklemmt, wie um sie in Schach zu halten.
Stubbs biß auf etwas Hartes und Ekliges an seiner Zungenspitze, ehe er sich wieder dem Studium der Akte zuwandte, die zuoberst auf seinem Müllhaufen von Schreibtisch lag. Stubbs war die Bestätigung aller müden Witze über Zeitungsredakteure. Ein grämlicher Mensch mit schweren grauen Backen und schweren Lidern, die aussahen, als wären sie mit Ruß eingerieben. Er würde beim Daily bleiben, bis er Magengeschwüre hätte, dann würde er zum Sunday versetzt. Noch ein Jahr, und sie würden ihn zu den Frauenzeitschriften abschieben, wo er sich bis zu seiner Pensionierung von Kindern herumkommandieren lassen müßte. Derzeit war er ein falscher Hund, der die hereinkommenden Telefonate der Korrespondenten mithörte, ohne ihnen zu sagen, daß er in der Leitung hing.
»Saigon«, grollte Stubbs und machte mit einem zerkauten Kugelschreiber eine Randnotiz. Sein Londoner Akzent wurde durch einen leisen Stich ins Kanadische verfremdet, wie es früher eine Zeitlang in der Fleet Street Mode gewesen war. »Weihnachten vor drei Jahren. Klingelt's bei Ihnen?«
»Was soll da klingeln, alter Junge?« fragte Jerry, noch immer an die Wand gedrückt.
»Eine festliche Glocke«, sagte Stubbs mit einem Henkerlächeln. »Jubel und Trubel im Büro, als die Gruppe noch blöd genug war, da drüben eines zu unterhalten. Eine Weihnachtsparty. Haben Sie gegeben.« Er las aus einer Akte vor. »>Weihnachtsessen im Hotel Continental. Saigon.< Dann die Gästeliste, die wir von Ihnen angefordert hatten. Taglöhner, Fotografen, Fahrer, Sekretärinnen, Botenjungen, weiß ich's oder weiß ich's nicht? Blanke siebzig Pfund ausgegeben im Dienste von Public-Relations und Jubelstimmung. Erinnern Sie sich?« Er fuhr unbeirrt fort. »Unter den Gästen haben Sie Smoothie Stallwood aufgeführt. Er war mit von der Partie, was? Stallwood? Seine übliche Nummer? Wanzt sich an die häßlichsten Mädchen ran und flötet ihnen, was sie hören wollen!«
Stubbs wartete und knabberte wieder an dem Etwas auf seiner Zungenspitze herum. Aber Jerry blieb hart an die Wand gepreßt und hätte notfalls auch den ganzen Tag so gewartet. »Wir sind eine linksorientierte Gruppe«, betete Stubbs seinen Leib- und-Lieblingsspruch her. »Das bedeutet, wir sind Antikapitalisten, und unsere ganze Existenz hängt von der Großmut eines analphabetischen Millionärs ab. Aus den Akten geht hervor, daß Stallwood seinen Weihnachtslunch in Phnom Penh verzehrte, wo er seine Gastfreundschaft einigen Würdenträgern der kambodschanischen Regierung aufdrängte, Gott sei ihm gnädig. Ich habe mit Stallwood gesprochen, er scheint der Meinung zu sein, daß er dort war. In Phnom Penh.«
Jerry schlurfte zum Fenster hinüber und lehnte sich an einen alten schwarzen Heizkörper. Draußen, keine sechs Fuß von ihm entfernt, hing über dem vielgetretenen Pflaster eine verdreckte Uhr, ein Geschenk des Gründers an die Fleet Street. Es war Vormittag, aber die Zeiger standen auf fünf vor sechs. In einer Einfahrt jenseits der Straße standen zwei Männer und lasen Zeitung. Sie trugen Hüte, und die Zeitung verbarg ihre Gesichter, und Jerry dachte bei sich, wie angenehm das Leben sein würde, wenn Observanten in Wirklichkeit auch so aussähen. »Jeder schröpft dieses Comic, Stubbsi«, sagte er nach weiterem längerem Schweigen nachdenklich. »Sie inklusive. Sie sprechen von einer drei Jahre alten Sache. Lassen Sie's gut sein, altes Haus. Mein Rat. Stopfen Sie sich's sonstwo rein. Da gehört's hin.«
»Das ist kein Comic, das ist ein Schmierblatt. Comic ist eine Farbbeilage.«
»Für mich ist es ein Comic, altes Haus. War's immer, wird's immer sein.«
»Willkommen«, stimmte Stubbs seufzend an. »Willkommen im Spitzenmanagement.« Er nahm ein Vertragsformular zur Hand.
»Name: Westerby, Clive Gerald«, deklamierte er, als läse er ab, »Beruf: Aristokrat. Willkommen, Sohn von Old Sambo!« Er warf das Formular auf den Schreibtisch. »Sie übernehmen beide. Den Sunday und den Daily. Berichterstattung sieben Tage pro Woche, von Krieg bis Tittenschau. Kein Kündigungsschutz, keine Pension. Spesen auf der Schäbigstmöglichen Ebene, nur die Arbeitswindeln dürfen abgerechnet werden, nicht die ganze Wäsche. Sie bekommen eine Telegrammkarte, aber vor Benützung wird gewarnt. Story per Luftfracht schicken und Nummer des Frachtbriefs über Telex durchgeben, wir legen sie sofort bei Ankunft unter »nicht veröffentlicht« ab. Weitere Bezahlung nach Leistung. Auch BBC ist gnädigst geneigt, Tonbandinterviews von Ihnen zum üblichen Schandhonorar anzunehmen. Direktor sagt, es ist gut fürs Prestige, was immer das bedeutet. Und was die Zusammenarbeit mit einer Presseagentur angeht . . . «
»Halleluja«, sagte Jerry und atmete lange aus. Er schlenderte zum Schreibtisch, nahm den zerkauten Kugelschreiber, der noch feucht war von Stubbs' Zunge, und kritzelte ohne einen Blick auf den Besitzer des Stifts oder den Wortlaut des Vertrages zu werfen, seine Unterschrift in langsamem Zickzack und mit breitem Grinsen an den unteren Rand der letzten Seite. Im gleichen Augenblick trat, wie gerufen, um diesen heiligen Akt zu unterbrechen, ein Mädchen in Jeans höchst unzeremoniös die Tür mit dem Fuß auf und knallte einen frischen Packen Fahnenabzüge auf den Schreibtisch. Die Telefone klingelten - vielleicht hatten sie schon eine ganze Weile geklingelt -, das Mädchen entfernte sich lächerlich schwankend auf ihren riesigen Plateausohlen, ein unbekannter Kopf schob sich durch die Tür und schrie: »Der Alte sammelt zum Gebet, Stubbsi«, ein Sklave erschien, und wenig später wurde Jerry auf die Ochsentour geschickt: Verwaltung, Ausland, Chefredaktion, Kasse, Vermischtes, Sport, Reisen, die schauderhaften Frauenzeitschriften. Sein Führer war ein zwanzigjähriger vollbärtiger Abiturient, und Jerry nannte ihn während des ganzen Rituals »Cedric«. Auf der Straße blieb er eine Weile stehen, wippte leicht von der Ferse auf die Spitze und zurück, als wäre er angesäuselt oder angeschlagen. »Super«, brummte er, laut genug, daß ein paar Mädchen sich im Vorbeigehen umdrehten und ihn anglotzten. »Ausgezeichnet. Wunderbar. Einmalig. Perfekt.« Damit tauchte er in die nächste Kneipe, wo eine Rotte alter Hasen die Bar umlagerten, zumeist aus den Sparten Industrie und Politik, und Sprüche klopften, wie sie um ein Haar einen Aufmacher auf Seite fünf gekriegt hätten. »Westerby! Da kommt der Herr Graf persönlich! Da kommt der Anzug! Der gleiche Anzug! Und hol's der Kuckuck, Graf Westerby steckt drin!«