»Und fragen Sie ihn nicht nach seiner Frau«, warnte Guillam ihn mit hastigem leisen Raunen, das noch eine gute Weile in Jerrys Ohr nachsummte.
Vater und Sohn? Diese Art von Beziehung? Kraft zu Klugheit?
Genauer würde vielleicht sein: Sohn zu Adoptivvater, was im Metier als das stärkste aller Bande gilt.
»Altes Haus«, brabbelte Jerry und lachte heiser.
Englische Freunde haben keine eigentliche Begrüßungsformel, und schon gar nicht in einer trübseligen Amtsstube mit nichts Gemütlicherem darin als einem Schreibtisch aus grobem Holz.
Den Bruchteil einer Sekunde lang legte Jerry seine Pranke in Smileys weiche, zögernde Handfläche, dann tappte er in einigem Abstand hinter ihm zum offenen Kamin, wo zwei Armsessel ihrer harrten: altes, rissiges Leder und durchgesessen. Wieder einmal brannte in dieser unberechenbaren Jahreszeit ein Feuer auf dem viktorianischen Rost, aber es war sehr klein im Vergleich zu dem Feuer in der Rumpelkammer.
»Und wie war's in Lucca?« erkundigte sich Smiley und füllte zwei Gläser aus einer Karaffe.
»Lucca war prima«, erwiderte Jerry.
»O je. Dann dürfte der Abschied schwergefallen sein.«
»Ach Gott, nein. Super. Cheers.«
»Cheers.«
Sie setzten sich.
»Warum dann super, Jerry?« fragte Smiley, als sei super für ihn ein Fremdwort. Auf dem Schreibtisch lagen keine Papiere, und das ganze Zimmer war kahl, glich eher einem unbenutzten Raum als seinem Büro.
»Ich dachte, mit mir wär's aus!« erklärte Jerry. »Endgültig beim alten Eisen. Telegramm hat mir glatt die Puste verschlagen. Dachte, na ja, Bill hat mich himmelhochgehenlassen. Hat er schließlich jeden, also warum nicht auch mich?«
»Ja«, pflichtete Smiley ihm bei, als teilte er Jerrys Zweifel, und linste ihn eine Weile unverhüllt prüfend an. »Ja, ja, stimmt. Aber per saldo scheint es, daß er die Gelegentlichen nie völlig hochgehen lassen konnte. Wir haben seine Spuren so ziemlich in jedem anderen Winkel des Archivs entdeckt, aber die Gelegentlichen waren unter den Reservisten in der Sparte >Freundschaftliche Kontakte< abgelegt, in einem völlig getrennten Archiv, einem, zu dem er nicht ohne weiteres Zugriff hatte. Nicht etwa, daß er Sie für nicht wichtig genug gehalten hätte« - fügte er hastig hinzu -, »nur hatten andere Erfordernisse eben Vorrang für ihn.«
»Werd's verwinden«, sagte Jerry und grinste. »Freut mich«, sagte Smiley, dem die Ironie entgangen war. Er stand auf, füllte die Gläser von neuem, trat dann zum Kamin, nahm einen Schürhaken aus Messing und begann, nachdenklich in den Kohlen zu stochern. »Lucca. Ja. Ann und ich waren einmal dort. Oh, es muß schon elf oder zwölf Jahre her sein. Es hatte geregnet.« Er lachte leise. In einem engen Alkoven am Ende des Raums konnte Jerry ein schmales knochenhart wirkendes Feldbett sehen und am Kopfende eine Reihe von Telefonen. »Ich weiß noch, daß wir das bagno besichtigten. Es war damals die Modekur. Gott allein weiß, was wir kurierten.« Wieder attackierte er das Feuer, und diesmal schossen die Flammen hoch auf, überzogen die rundlichen Konturen seines Gesichts mit orangeroten Streifen und machten goldene Pfützen aus den dicken Brillengläsern. »Wußten Sie, daß der Dichter Heine dort ein großes Abenteuer erlebte? Eine Romanze? Ich glaube fast, das war überhaupt der Grund, warum wir hinreisten, ja, so war's wohl. Wir glaubten, es würde vielleicht abfärben.«
Jerry grunzte irgend etwas, er wußte im Moment nicht so ganz genau, wer Heine war.
»Er besuchte das bagno, gebrauchte die Kur und begegnete bei dieser Gelegenheit einer Dame, deren Name allein ihn so beeindruckte, daß er später auch seine Frau so nannte.« Smiley beschäftigte sich immer noch mit dem Feuer. »Und Sie hatten dort auch ein Abenteuer, nicht wahr?«
»Zufallsbekanntschaft. Nichts Weltbewegendes.« Beth Sanders, dachte Jerry automatisch, als seine Welt einen Stoß erhielt und dann wieder ins Lot kam. Beth war dafür wie geschaffen. Vater pensionierter General, High Sheriff der Grafschaft. Die liebe Beth mußte in jeder geheimen Dienststelle in Whitehall eine Tante sitzen haben.
Smiley bückte sich abermals, stellte den Schürhaken in eine Ecke, so behutsam, als legte er einen Kranz nieder. »Wir sind nicht grundsätzlich gegen Gefühle. Wir wissen nur gern, wo sie liegen.« Jerry sagte nichts. Smiley warf über die Schulter hinweg Jerry einen Blick zu, und Jerry rang sich ihm zuliebe ein Grinsen ab. »Der Name von Heines Herzensdame war, wie ich hier vielleicht einflechten darf, Mathilde«, fuhr Smiley fort, und aus Jerrys Grinsen wurde linkisches Lachen. »Nun ja, ich gestehe, auf deutsch klingt es besser. Und der Roman, wie wird's ihm ergehen? Es wäre mir unangenehm, wenn wir Ihre Muse verscheucht hätten. Ja, das könnte ich mir wohl nie verzeihen.«
»Kein Problem«, sagte Jerry.
»Beendet?«
»Nun ja, Sie wissen ja.«
Eine Weile war kein anderes Geräusch zu hören als das Tippen der Mütter und das Brausen des Verkehrs drunten auf der Straße. »Wir werden Sie entschädigen, wenn diese Sache vorbei ist«, sagte Smiley. »Doch, doch. Wie ist es bei Stubbs gelaufen?«
»Kein Problem«, sagte Jerry wieder.
»Nichts mehr, was wir für Sie tun können, um Ihnen die Wege zu ebnen?«
»Glaube nicht.«
Von draußen, vom Vorzimmer, hörte man ein Gewirr von Schritten, die alle in eine Richtung strebten. Es ist ein Kriegsrat, dachte Jerry, die Clans sammeln sich.
»Und Sie sind entschlossen und so weiter?« fragte Smiley. »Sie sind, ähem, bereit? Willens?«
»Kein Problem.« Warum kann ich nicht etwas anderes sagen? fragte er sich. Verdammte Grammophonnadel ist steckengeblieben.
»Eine Menge Leute sind das heutzutage nicht, ich meine willens. Besonders in England. Eine Menge Leute betrachten den Zweifel als legitime philosophische Haltung. Sie glauben sich in der Mitte, während sie natürlich nirgendwo sind. Keine Schlacht ist je von den Zuschauern gewonnen worden, nicht wahr? Wir in dieser Dienststelle wissen das. Wir haben Glück. Unser gegenwärtiger Krieg begann neunzehnhundertsiebzehn mit der bolschewistischen Revolution. Er hat sich bis heute nicht geändert.« Smiley hatte einen neuen Standort bezogen, auf der anderen Seite des Raums, nicht weit vom Bett entfernt. Hinter ihm glänzte eine unscharfe Fotografie im Licht des auflodernden Feuers. Jerry hatte sie beim Hereinkommen gesehen. Jetzt, in der augenblicklichen Hochspannung, fühlte er sich doppelt gemustert: von Smiley und von den verschwommenen Augen des Porträts, die hinter dem Glas im Flammenschein tanzten. Die vorbereitenden Geräusche vervielfachten sich. Sie hörten Stimmen und kurzes Auflachen und das Knarzen von Stühlen.
»Ich las einmal«, sagte Smiley, »bei einem Historiker, wenn ich mich recht erinnere - auf jeden Fall einem Amerikaner -, eine Stelle über Generationen, die in Schuldgefängnissen zur Welt kommen und sich ihr ganzes Leben lang mühen, sich den Weg in die Freiheit zu erkaufen. Ich glaube, unsere Generation gehört dazu. Glauben Sie nicht? Ich habe noch immer das entschiedene Gefühl, in Schuld zu sein. Sie nicht? Ich war diesem Amt immer dankbar, daß es mir Gelegenheit gibt, abzuzahlen. Haben Sie dieses Gefühl auch? Ich glaube nicht, daß wir uns davor fürchten sollten, uns aufzuopfern. Ist das altmodisch von mir?« Jerrys Miene erstarrte. Er vergaß diese Seite Smileys immer wieder, wenn er weit weg war, und entsann sich ihrer zu spät, wenn sie zusammen kamen. Es war etwas von einem Priester an Old George verlorengegangen, und je älter er wurde, desto deutlicher kam es zum Vorschein. Er schien anzunehmen, daß die ganze verflixte westliche Welt seine Besorgnisse teilte und zur rechten Denkungsart überredet werden müßte. »In diesem Sinne glaube ich, daß wir uns zu Recht beglückwünschen dürfen, ein bißchen altmodisch zu sein.« Jerry reichte es. »Altes Haus«, wies er ihn mit unbeholfenem Lachen zurecht, und die Röte stieg ihm ins Gesicht. »Um Himmels willen. Sie deuten in die Richtung, und ich zieh los. Okay? Sie sind die Eule, nicht ich. Sie geben mir die Schläge an, ich führe sie aus. Die Welt ist randvoll mit zimperlichen Intellektuellen, die fünfzehn verschiedene Gründe dafür anführen, ob sie sich die Nase putzen sollen oder nicht. Die haben mich nicht nötig. Okay? Ich meine, Herrjeh.«