Ein scharfes Klopfen an der Tür verkündete das Wiedererscheinen Peter Guillams.
»Friedenspfeifen alle angezündet, Chef.« Zu seiner Überraschung glaubte Jerry über alle Geräusche dieser Unterbrechung hinweg den Ausdruck »Damenfreund« gehört zu haben, aber ob er sich auf ihn oder auf den Dichter Heine bezog, konnte er nicht sagen, und es war ihm auch ziemlich egal. Smiley zögerte, runzelte die Stirn und schien erst dann seine Umgebung wieder wahrzunehmen. Er blickte Guillam an, dann nochmals Jerry, dann richteten sich seine Augen auf jene mittlere Distanz, die das Privatgehege englischer Akademiker zu sein scheint. »Also, ja, dann wollen wir anfangen, die Uhr aufzuziehen«, sagte er, und es klang wie von weither.
Als sie hinausmarschierten, blieb Jerry vor dem Foto an der Wand stehen, die Hände in den Taschen, grinste es bewundernd an und hoffte, Guillam möge ebenfalls zurückbleiben, was er auch tat.
»Sieht aus, als hätte er seinen letzten Nickel verschluckt«, sagte Jerry. »Wer ist das?«
»Karla«, sagte Guillam. »Hat Bill Haydon angeworben. Russischer Spion.«
»Klingt mehr wie ein Mädchenname. Wie geht's immer?«
»Ist der Codename seines ersten Netzes. Eine andere Lesart will wissen, daß es auch der Name seiner einzigen Liebe ist.«
»Hoch soll er leben«, sagte Jerry gleichgültig und schlenderte neben Guillam noch immer grinsend in Richtung Rumpelkammer. Smiley war, vielleicht absichtlich, vorausgegangen, außer Hörweite ihrer Unterhaltung. »Immer noch mit der Verrückten zusammen, dieser Flötenspielerin, wie?« fragte Jerry. »Sie ist inzwischen weniger verrückt«, sagte Guillam. Sie machten noch ein paar Schritte.
»Ausgerückt?« erkundigte Jerry sich mitfühlend. »So ähnlich.«
»Und bei ihm ist alles in Ordnung, oder?« fragte Jerry ungemein beiläufig und wies mit dem Kopf nach der einsamen Gestalt vor ihnen. »Ißt ordentlich, zieht sich warm an und so weiter?«
»Besser denn je. Warum?«
»Nur so gefragt«, sagte Jerry sehr erleichtert.
Vom Flugplatz aus rief Jerry seine Tochter Cat an, was er selten tat, aber diesmal mußte es sein. Noch ehe er das Geld einwarf, wußte er, daß es ein Fehler war, aber er machte weiter und nicht einmal die schrecklich vertraute Stimme der verflossenen Ehefrau konnte ihn abbringen.
»Hallo! Ja, ich bin's. Super. Hör zu: wie geht's Phillie?« Phillie war ihr jetziger Mann, Beamter, schon fast pensionsreif und doch um etwa dreißig bewegte Leben jünger als Jerry. »Ausgezeichnet, danke«, erwiderte sie in dem frostigen Tonfall, in dem einstige Ehefrauen neue Ehemänner verteidigen. »Ist das der Grund deines Anrufs?«
»Ach, ich hab' nur gedacht, ich könnte vielleicht ein bißchen mit Cat schwatzen. Geh 'ne Weile nach Fernost, wieder ins Geschirr«, sagte er. Er glaubte sich rechtfertigen zu müssen. »Das Comic braucht, da drüben einen Lohnschreiber«, sagte er und hörte wie der Hörer klappernd auf die Kommode in der Diele fiel. Eiche, erinnerte er sich. Barleytwist-Beine. Auch eine von Old Sambos Hinterlassenschaften.
»Daddy?«
»Hei!« schrie er, als wäre die Verbindung schlecht, als hätte sie ihn furchtbar überrascht. »Cat? Hallo, hey, hör zu, altes Haus, hast du meine Briefe und so gekriegt?« Er wußte es, sie hatte sich regelmäßig in ihren wöchentlichen Briefen an ihn bedankt. Als er nur wiederum »Daddy«, diesmal mit fragendem Tonfall hörte, fragte Jerry joviaclass="underline" »Du sammelst doch noch immer Briefmarken, wie? Nur weil ich wieder rüberfahre, weißt du. Wo ich schon öfter war Fernost.«
Flüge wurden aufgerufen, Landungen gemeldet, ganze Welten tauschten die Plätze, aber Jerry Westerby, der mit seiner Tochter sprach, blieb regungslos inmitten der Bewegung.
»Du warst doch immer so scharf auf Briefmarken«, erinnerte er sie.
»Ich bin siebzehn.«
»Klar, klar, und was sammelst du jetzt? Sag nichts. Jungens!« In strahlendster Laune führte er das Gespräch fort, während er von einem Wildlederstiefel auf den anderen tanzte, seine Scherze ganz allein machte und ganz allein darüber lachte. »Paß auf, ich schicke dir Geld, Blatt and Rodney erledigen das, für Geburtstag und Weihnachten zusammen, frag lieber Mammy, ehe du's ausgibst. Oder vielleicht Phillie, wie? Ist ein vernünftiger Bursche, was? Schick Phillie los, für sowas ist er zu haben.« Er öffnete die Tür der Telefonzelle, um künstlichen Trubel zu erzeugen. »Glaube, sie rufen schon meinen Flug aus, Cat«, bellte er über das Stimmengewirr hinweg. »Also, benimm dich, hörst du? Paß auf dich auf. Mach's ihnen nicht zu leicht. Verstehst du, was ich meine?« Eine Weile stand er Schlange an der Bar, aber im letzten Moment erwachte der alte Fernostmann in ihm, und er ging hinüber zur Cafeteria. Es konnte eine Weile dauern, ehe er das nächste Glas frischer Kuhmilch bekommen würde. Während des Anstehens hatte Jerry das Gefühl, beobachtet zu werden. War nichts Besonderes: in einer Flughalle beobachtet jeder jeden, also was soll's? Er dachte an die Waise und wünschte, er hätte Zeit gehabt, sich ein Mädchen zu suchen, ehe er weg mußte, und wäre es nur, um die unerfreuliche Erinnerung an die notwendige Trennung loszuwerden.
Smiley ging dahin, ein rundlicher kleiner Mann im Regenmantel. Gesellschaftsjournalisten, qualifizierter als Jerry, die seinen Wandel durch die Umgebung von Charing Cross kennerisch verfolgt hätten, würden den Typus sofort erkannt haben: Provinzonkel, wie er im Buch steht, leichte Beute der gemischten Massagesalons und der Sex-Shops. Diese langen Märsche waren ihm zur Gewohnheit geworden. Mit seiner wiedergefundenen Energie konnte er halb London durchqueren, ohne es zu bemerken. Vom Cambridge Circus konnte er, jetzt, da er alle Schleichwege kannte, zwanzig verschiedene Routen wählen, ohne zweimal die gleiche Straße zu überqueren. Nachdem er einen Start gewählt hatte, ließ er sich von Glück und Instinkt leiten, während die andere Hälfte seines Geistes entlegenere Gegenden seiner Seele plünderte. Aber an diesem Abend zog es ihn in eine bestimmte Richtung, nach Süden und Westen, und Smiley gab dem Drängen nach. Die Luft war feucht und kalt, voll rauhen Nebels, der nie die Sonne gesehen hatte. Im Dahinwandern trug er seine eigene Insel mit sich, und sie war dicht bevölkert von Bildern, nicht von Menschen. Wie ein zweiter Mantel hüllten die weißen Mauern ihn in seine Gedanken ein. In einer Türnische flüsterten zwei Mörder in Lederkluft; unter einer Straßenlaterne hielt ein dunkelhaariger Junge zornig einen Geigenkasten umklammert. Vor einem Theater brannte eine wartende Menge in den Flammen der bunten Lichter über dem Vordach, und der Nebel wirbelte um sie wie Feuerrauch. Nie war Smiley mit so geringem Wissen und so vielen Erwartungen in den Kampf gezogen. Er fühlte sich verlockt und verfolgt. Doch wenn er müde wurde und den Schritt verhielt und über die Logik seines Vorhabens nachdachte, fand er sich kaum zurecht. Er blickte zurück und sah den Rachen des Scheiterns auf sich warten. Er spähte nach vorn, und sah durch die beschlagene Brille die Schemen großer Hoffnungen im Nebel tanzen. Er blinzelte um sich und wußte, daß es hier, wo er stand, nichts für ihn zu sehen gab. Noch schritt er ohne letzte Überzeugung vorwärts. Es führte zu nichts, die Schritte zu wiederholen, die ihn bis hierher geführt hatten - die russische Goldader, die Fußstapfen von Karlas Privatarmee, die Gründlichkeit von Haydons Bemühungen, jede Kenntnis von deren Vorhandensein zu tilgen. Jenseits der Grenzen solcher äußerlichen Gründe entdeckte Smiley in sich selbst das Vorhandensein eines dunkleren, unendlich geheimnisvolleren Motivs, eines Motivs, das seine ratio beharrlich verwarf. Er nannte es Karla. Und es stimmte, daß irgendwo in ihm wie eine uralte Sage die Glut eines Hasses auf jenen Mann brannte, der ausgezogen war, die Tempel seines innersten Glaubens zu zerstören, was immer von ihnen übriggeblieben sein mochte: den Circus, den er liebte, seine Freunde, sein Land, seine Auffassung von einem vernünftigen Gleichgewicht menschlicher Beziehungen. Es stimmte auch, daß die beiden Männer einander vor einem Lebensalter oder vor zweien in einem glutheißen indischen Gefängnis Auge in Auge gegenübersaßen, Smiley und Karla, jeder auf einer Seite eines eisernen Tisches: obgleich Smiley damals keinen Grund zu der Annahme hatte, daß er seinem Schicksal gegenübersaß. Karlas Kopf lag in Moskau schon auf dem Block, Smiley hatte versucht, ihn in den Westen zu locken, und Karla hatte geschwiegen und den Tod oder Schlimmeres dem bequemen Überlaufen vorgezogen. Und es stimmte, daß dann und wann die Erinnerung an diese Begegnung, an Karlas unrasiertes Gesicht und den wachsamen, nach innen gerichteten Blick aus dem Dämmerlicht seines kleinen Zimmers wie ein anklagendes Gespenst auf ihn zukam, während er unruhig auf seinem Feldbett schlief.