Er machte aufs neue kehrt und kam an den großen schottischen Geschäftshäusern vorbei: Jardines, Swire, und bemerkte, daß ihre Türen versperrt waren. Mußte ein Feiertag sein, dachte er. Von uns oder von ihnen? Am Statue Square fand ein gesitteter Karneval statt, mit Springbrunnen, Strandschirmen', Coca-Cola-Verkäufern und ungefähr einer halben Million Chinesen, die in Gruppen herumstanden oder wie eine barfüßige Armee hinter ihm herschlurften und verstohlene Blicke auf seine Größe warfen. Lautsprecher, Preßluftbohrer, wimmernde Musik. Er überquerte die Jackson Road, und der Lärmpegel fiel ein wenig. Vor ihm waren auf einem vollendeten englischen Rasen fünfzehn weißgekleidete Gestalten hingelagert. Das tägliche Kricket-Match hatte soeben begonnen. Am Torende fummelte eine schlacksige arrogante Gestalt, die eine Kappe von anno dazumal auf hatte, mit den Schlaghandschuhen herum. Jerry legte eine Pause ein, sah eine Weile zu und grinste in wohlwollender Kennerschaft. Der Werfer warf. Der Schläger führte einen eleganten Schlag aus, fehlte und lief in Zeitlupe los. Jerry sah ein langes, langweiliges und glanzloses Spiel voraus. Er fragte sich, wer wohl gegen wen spiele, und kam zu dem Schluß, daß die übliche Peak-Mafia gegen sich selbst spiele. Jenseits des Spielfelds auf der anderen Straßenseite erhob sich die Bank of China, ein weitläufiges goldgekehltes Ehrenmal mit scharlachroten Slogans gesäumt, die von der Liebe zu Mao kündeten. An seinem Sockel starrten Granitlöwen blicklos vor sich hin, während Herden weißhemdiger Chinesen einander, an deren Flanken lehnend, fotografierten. Die Bank, die Jerry im Auge hatte, stand direkt hinter dem Arm des Werfers. Ein Union Jack hoch auf schwankem Mast, unten auf dem sicheren Pflaster ein gepanzerter Geldtransportwagen. Die Türen standen offen und die polierten Innenflächen glänzten wie falsches Gold. Während Jerry im Weiten Bogen darauf zuschlenderte, tauchte ein Trupp behelmter Wachleute, eskortiert von hochgewachsenen Indern mit Elefantenflinten, plötzlich aus dem dunklen Inneren auf und zelebrierten drei schwarze Geldkästen die breiten Stufen hinunter, als enthielten sie geweihte Hostien. Der gepanzerte Wagen fuhr weg, und einen beklemmenden Augenblick lang sah Jerry im Geist die Tore der Bank sich nach seiner Abfahrt schließen.
Es waren keine logischen Visionen. Auch keine nervösen Visionen. Nur daß Jerry einen Moment lang Verdruß gewärtigte, mit dem gleichen Berufspessimismus, mit dem ein Gärtner eine Dürreperiode vorhersieht oder ein Sportler irgendeine alberne Knöchel-Verstauchung am Vorabend eines großen Kampfs; oder ein Außenmann mit zwanzig Jahren auf dem Buckel einen weiteren unvorhersehbaren Fehlschlag argwöhnt. Aber die Tore blieben geöffnet, und Jerry machte linksum. Den Wachen Zeit lassen zum Abreagieren, dachte er. Dieses Geldverladen muß sie nervös gemacht haben. Sie werden zu genau hinsehen, sie werden sich zu genau erinnern.
Er schwenkte langsam, gedankenversunken in Richtung auf den Hong Kong Club ein: Wedgwood-Portale, gestreifte Markisen und schon am Eingang der Geruch nach fadem englischem Essen. Legende ist keine Lüge, wird einem gesagt. Legende ist das, an was du glaubst. Legende ist der, der du bist. Am Vormittag des Sonnabend begibt sich Mr. Gerald Westerby, der nicht sehr bekannte Journalist, zu einer gern besuchten Tränke . . . Auf den Stufen des Clubs blieb Jerry stehen, beklopfte seine Taschen, wendete und eilte zielstrebig von dannen, ging die beiden Längsseiten des Platzes aus und achtete ein letztesmal auf die schlurfenden Schritte und die abgewandten Blicke. Mr. Gerald Westerby stellt fest, daß seine Barschaft für das Wochenende nicht ausreicht, und beschließt einen kurzen Besuch in der Bank. Die indischen Wachen hatten die Elefantentöter lässig über die Schultern geschlungen und musterten ihn uninteressiert. Nur, daß Mr. Westerby das nicht tut!
Jerry schalt sich selbst einen verdammten Narren, als ihm einfiel, daß es schon zwölf Uhr vorbei war und daß die Schalterhalle Punkt zwölf schloß. Nach zwölf war nur noch droben geöffnet, und genau dorthin hatte er gewollt.
Ruhig, dachte er. Du denkst zu viel. Nicht denken: handeln. Im Anfang war die Tat. Wer hatte das einmal zu ihm gesagt? Old George, du meine Güte, er hatte Goethe zitiert. Ausgerechnet der! Als er zum Sturm ansetzte, überfiel ihn eine Woge des Widerwillens, und er wußte, daß es Furcht war. Er war hungrig. Er war müde. Warum hatte George ihn so alleingelassen? Warum mußte er alles ganz auf sich gestellt erledigen? Vor dem Sündenfall hätten sie Babysitter vor ihm postiert - ein paar sogar innerhalb der Bank -, nur für alle Fälle. Ein Empfangskomitee wäre dagewesen, um die Beute abzufangen, fast schon, ehe er das Gebäude verlassen hätte, und ein Fluchtauto, wenn er Hals über Kopf hätte untertauchen müssen. Und in London - dachte er ironisch, nur um sich selbst zu beschwichtigen - hätten sie den lieben alten Bill Haydon gehabt, nicht wahr? -, der die ganze Chose postwendend an die Russen weitergegeben hätte, hol ihn der Teufel. Bei diesem Gedanken zwang Jerry sich selbst eine phantastische Halluzination auf, jäh wie ein Blitzlicht und genauso langsam erlöschend. Gott hatte sein Gebet erhört, dachte er. Die alten Tage waren doch wieder zurückgekommen, und die Straße wurde von einer erstklassigen Hilfsmannschaft belebt. Hinter ihm war ein blauer Peugeot an die Bordkante gefahren, und zwei bullige Europäer saßen darin und studierten eine Rennkarte von Happy Valley. Funkantennen, alle Schikanen. Zu seiner Linken schlenderten amerikanische Matronen daher, beladen mit Fotoapparaten und Reiseführern und der ausdrücklichen Verpflichtung, alles zu beobachten. Und aus der Bank selbst, auf deren Portal er zügig zuschritt, tauchte ein Paar feierlicher Geldleute auf, und sie zeigten das gleiche grimmige Glotzen, dessen Observanten sich manchmal bedienen, um forschende Blicke zu entmutigen.
Vergreisung, schalt Jerry sich. Du hast deine besten Jahre hinter dir, altes Haus, keine Frage. Das Alter und der Schiß haben dich knieweich gemacht. Er sprang die Stufen hinauf, munter wie ein Rotkehlchen an einem heißen Frühlingstag.
Die Halle war so groß wie ein Bahnhof, die Kassettenmusik ebenso martialisch. Der Zugang zu den Schaltern war vergittert, und er sah niemanden im Hintergrund lauern, nicht einmal die Illusion eines Flankenschutzes. Der Lift war ein goldener Käfig mit einem sandgefüllten Spucknapf für Zigaretten, aber im neunten Stock war es vorbei mit der Großzügigkeit der unteren Geschosse. Platz war Geld. Ein schmaler cremefarbener Korridor führte zu einem leeren Empfangspult. Jerry wanderte gemächlich dahin, merkte sich den Notausgang und den Personalaufzug, den ihm die Bärentreiber bereits aufgezeichnet hatten, falls er schleunigst verschwinden müßte. Komisch, daß sie soviel wissen, dachte er, bei so wenigen Quellen; müssen irgendwo einen Bauplan ausgegraben haben. Auf dem Tresen ein Teakholzschild mit der Aufschrift »Trustee Department Enquiries«. Daneben eine schmuddelige Broschüre über Astrologie, aufgeschlagen und mit zahlreichen Anmerkungen versehen. Aber keine Empfangsdame, denn am Sonnabend war alles anders. Am Sonnabend geht's am besten, hatten sie gesagt, Er blickte vergnügt, reinen Gewissens um sich. Ein zweiter Korridor lief die Breitseite des Gebäudes entlang, links Bürotüren, rechts trübselige kunststoffbeschichtete Wände. Dahinter waren das langsame Tappen einer elektrischen Schreibmaschine - jemand tippte einen Schriftsatz - und der langsame Singsang chinesischer Stenotypistinnen zu hören, die am Sonnabend wenig anderes zu tun hatten, als auf den Lunch und den freien Nachmittag zu warten. Vier der Türen waren lasiert und hatten pfenniggroße Gucklöcher, durch die man hinaus- und hineinsehen konnte. Jerry spazierte den Korridor entlang und spähte durch ein jedes, als wäre Spähen sein Lieblingssport, Hände in den Taschen, ein albernes Grinsen im Gesicht. Das vierte links, hatten sie gesagt, eine Tür, ein Fenster. Ein Angestellter ging an ihm vorbei, dann eine Sekretärin auf modischen, klappernden Absätzen, aber Jerry war bei aller Schlampigkeit immerhin Europäer und trug einen Anzug, und keiner von beiden hielt ihn an.