»Sieben und Vierundzwanzig!« wiederholte Frost hingerissen.
»Wie poetisch! Was für ein Gedächtnis!«
In Kniehöhe hatte Jerry ein graues Kästchen entdeckt, das an die Schubladenstütze geschraubt war. Der Schlüssel steckte in der Waagerechten, in Aus-Position. Er zog ihn heraus und ließ ihn in die Tasche gleiten.
»Ich habe gesagt, was für ein fabelhaftes Gedächtnis«, wiederholte Frost ziemlich ratlos.
»Sie kennen doch Zeitungsschmierer, altes Haus«, sagte Jerry und richtete sich auf. »Schlimmer als Ehefrauen, was das Gedächtnis betrifft.«
»Hier rüber. Gehen Sie weg dort. Geheiligter Boden.« Jerry hatte Frosts riesigen Terminkalender vom Schreibtisch genommen und studierte die Verabredungen des Tages. »Mein Gott«, sagte er. »Bienenfleißig, wie? Wer ist N., altes Haus? N., acht bis zwölf? Doch nicht Ihre Schwiegermama?« Frost neigte den Mund zum Glas, trank gierig, schluckte und tat dann, als hätte er's in die falsche Kehle bekommen, krümmte sich, fing sich wieder. »Hören Sie gefälligst mit meiner Schwiegermutter auf, ja? Hätte um ein Haar einen Herzanfall gekriegt. Prosit.«
»N. für närrisch? N. für Napoleon? Wer ist N.?«
»Natalie. Meine Sekretärin. Sehr nett. Beine kerzengerade bis obenhin, heißt es allgemein. War nie selber dort, also weiß ich's nicht. Meine einzige Regel. Erinnern Sie mich, daß ich sie gelegentlich breche. Prosit«, sagte er nochmals. »Ist sie da?«
»Ich glaube, ihren leichtfüßigen Schritt vernommen zu haben, ja. Soll ich sie kommen lassen? Angeblich hat sie ein besonderes Faible für die gehobenen Klassen.«
»Nein, danke«, sagte Jerry, legte den Terminkalender hin und blickte Frost stracks an, von Mann zu Mann, obwohl der Kampf ungleich war, denn Jerry war einen ganzen Kopf größer als Frost und bedeutend breiter.
»Unglaublich«, erklärte Frost ehrfürchtig und strahlte Jerry noch immer an. »Unglaublich war das gestern.« Sein Gehabe war hingebungsvoll bis besitzergreifend. »Unglaubliche Puppen, unglaubliche Gesellschaft. Ich meine, warum sollte ein Kerl wie ich sich überhaupt mit einem Kerl wie Ihnen abgeben? Einem kleinen Honourable! Für mich sind Herzöge gerade gut genug. Herzöge und Huren. Machen wir's doch heute nacht gleich noch mal. Los.« Jerry lachte.
»Im Ernst. Zeigen wir mal, was wir können. Besser dran eingehen, bevor wir zu alt dazu sind. Heute geht's auf meine Rechnung, der ganze Rummel.« Vom Korridor erklangen schwere Schritte, kamen näher. »Wissen Sie, was ich tun werde? Mich testen. Ich geh wieder ins Meteor mit Ihnen, und ich laß Madame Dingsbums kommen, und dann verlange ich, daß - was ist denn mit Ihnen los?« fragte er, als er Jerrys Miene gewahrte.
Die Schritte verlangsamten sich, blieben stehen. Ein schwarzer Schatten erfüllte das Guckloch und verweilte.
»Wer ist das?« fragte Jerry ruhig.
»Milkie.«
»Wer ist Milkie?«
»Milkie Way, mein Boß«, sagte Frost, als die Schritte sich entfernten, schloß die Augen und bekreuzte sich fromm. »Geht nach Hause zu seiner reizenden Eheliebsten, der vortrefflichen Mrs. Way alias Moby Dick. Sechs Fuß acht Zoll und Dragonerschnurrbart. Nicht er. Sie«. Frost kicherte. »Warum ist er nicht reingekommen?«
»Dachte wohl, ich hätte einen Klienten hier«, sagte Frost achtlos und wunderte sich aufs neue über Jerrys Wachsamkeit und über seine Ruhe. »Abgesehen davon, daß Moby Dick ihm den Schädel einschlagen würde; wenn er sich um diese Tageszeit mit einer Alkoholfahne um die gottlosen Lippen erwischen ließe. Keine Bange, Sie haben ja mich. Trinken Sie aus. Sie gucken heute so gottesfürchtig drein. Kriege direkt 'ne Gänsehaut.« Wenn Sie drin sind, dann los, hatten die Bärentreiber gesagt. Nicht zu lange maßnehmen, ihn gar nicht erst warm werden lassen.
»Heh, Frosti«, rief Jerry, als die Schritte völlig verklungen waren.
»Wie geht's der Missus?« Frost hatte die Hand nach Jerrys Glas ausgestreckt. »Ihrer Missus. Wie geht's ihr?«
»Immer noch erfreulich leidend, danke«, sagte Frost unbehaglich.
»Schon im Krankenhaus angerufen, wie?«
»Heute morgen? Sind Sie verrückt? Konnte bis elf Uhr keinen vernünftigen Satz zustande bringen. Und selbst wenn. Sie hätte den Schnaps gerochen.«
»Wann besuchen Sie sie wieder?«
»Also bitte. Hören Sie auf, hören Sie auf mit ihr, ja?«
Unter Frosts starrem Blick schlenderte Jerry zum Safe hinüber. Er probierte die große Klinke, aber die Safetüre war verschlossen.
Auf dem Safe lag staubbedeckt ein schwerer Gummiknüppel.
Jerry packte ihn mit beiden Händen, führte zerstreut ein paar Kricketschläge aus und legte ihn wieder zurück, während Frosts ratloser Blick ihm beunruhigt folgte.
»Ich möchte ein Konto eröffnen, Frosti«, sagte Jerry noch immer vom Safe her.
»Sie?«
»Ich.«
»Nach allem, was Sie gestern nacht erzählten, haben Sie nicht mal genug, um ein Sparschwein zu eröffnen. Außer Ihr feiner Herr Papa hat noch einiges in der Matratze versteckt, was ich leicht bezweifle.« Frosts Welt stürzte ein wie ein Kartenhaus, trotzdem versuchte er verzweifelt, sich daran zu klammern. »Los, kippen Sie noch einen und hören Sie auf, Boris Karloff zu spielen, ja? Gehen wir zu den Hottehüs: Happy Valley, wir kommen. Ich lade Sie zum Lunch ein.«
»Ich meinte nicht eigentlich, daß wir mein Konto eröffnen sollten, altes Haus. Ich meinte, eins von jemand anderem«, erklärte Jerry. Wie bei einem langsamen, traurigen Possenspiel erlosch der Humor in Frosts kleinem Gesicht, und er flüsterte atemlos »O nein, o Jerry«, ganz leise; als wäre er Zeuge eines Unfalls, bei dem Jerry das Opfer war, nicht Frost. Zum zweitenmal näherten sich Schritte auf dem Korridor. Mädchenschritte, kurz und rasch. Dann ein scharfes Klopfen. Dann Stille.
»Natalie?« sagte Jerry ruhig. Frost nickte. »Wenn ich ein Kunde wäre, würden Sie mich dann vorstellen?« Frost schüttelte den Kopf. »Lassen Sie sie rein.«
Frosts Zunge schob sich wie eine erschreckte rosige Schlange zwischen den Lippen hervor, sicherte nach allen Seiten und verschwand wieder.
»Herein!« rief er heiser, und ein großes Chinesenmädchen mit dicken Brillengläsern holte ein paar Briefe aus seinem Auslaufkorb ab.
»Schönes Wochenende, Mister Frost«, sagte sie. »Bis Montag dann«, sagte Frost. Die Tür schloß sich wieder.
Jerry durchquerte das Büro, legte den Arm um Frosts Schultern und führte ihn, der keinen Widerstand leistete, rasch zum Fenster. »Ein Treuhand-Konto, Frosti. Ihren unbestechlichen Händen anheimgegeben. Große Sache.«
Drunten auf dem Platz ging der Karneval weiter. Auf dem Kricketplatz war jemand im Aus. Der schlacksige Schläger mit der Kappe von anno dazumal reparierte geduldig den Raum zwischen den Dreistäben. Die Spieler lagen herum und plauderten.
»Sie regen mich auf«, sagte Frost schlicht und versuchte, sich an die Lage zu gewöhnen. »Ich glaubte, ich hätte endlich einen Freund gefunden, und jetzt wollen Sie mir die Daumenschrauben ansetzen. Und sowas will ein Lord sein.«
»Man soll sich nie mit Zeitungsleuten abgeben, Frosti. Rauhes Volk. Keinen Sportsgeist. Hätten nicht aus der Schule plaudern sollen. Wo bewahren Sie die Unterlagen auf?«
»Freunde plaudern aus der Schule!« protestierte Frost, »dazu sind Freunde da! Daß sie einander alles sagen!«
»Dann sagen Sie mir alles.«
Frost schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Christ«, sagte er dümmlich. »Ich gehe jeden Sonntag in die Messe. Tut mir leid, aber das kommt gar nicht in Frage. Lieber würde ich meinen Platz in der Gesellschaft verlieren, als einen Vertrauensbruch begehen. Dafür bin ich bekannt, wie? Nichts zu machen. Bedaure.« Jerry schob sich am Fenstersims näher heran, bis sich ihre Ellbogen fast berührten. Die große Scheibe zitterte vom Verkehrslärm. Die Jalousien waren rot von Ziegelstaub, Frost grimassierte erbärmlich, während er versuchte, die Nachricht von seiner Vernichtung zu fassen.