»Sie sind ein gottverdammter Narr«, verkündete Frost und stopfte die fünfhundert Dollar in die zuknöpfbare Tasche seines Jacketts. »Klar«, sagte er. Er sah sich im ganzen Büro um, verwischte seine letzten Spuren.
»Sie müssen Ihr dreckiges bißchen Verstand verloren haben«, eröffnete ihm Frost. Seine Miene war sonderbar entschlossen.
»Glauben Sie denn, Sie können einen Mann wie ihn aufs Kreuz legen? Genausogut könnten Sie versuchen, Fort Knox mit einem Brecheisen und einer Schachtel Knallfrösche beizukommen, als dieser Bande das Handwerk zu legen.«
»Mister Big persönlich. Das hab' ich gern.«
»Nein, das werden Sie bald ganz und gar nicht gern haben.«
»Sie kennen ihn, wie?«
»Wir sind wie Schinken und Ei«, sagte Frost säuerlich. »Ich gehe alle Tage bei ihm aus und ein. Sie kennen ja meine Vorliebe für die Großen und Mächtigen.«
»Wer hat dieses Konto für ihn eröffnet?«
»Mein Vorgänger.«
»Er war selbst hier, oder?«
»Nicht zu meiner Zeit.«
»Haben Sie ihn jemals gesehen?«
»Canidrome in Macao.«
»Wo?«
»Hunderennen in Macao. Hat sein letztes Hemd verwettet. Sich unters niedrige Volk gemischt. Ich war mit meinem Chinesenpüppchen dort, der vorletzten. Sie hat ihn mir gezeigt. >Der?< sagte ich. >Der? Ach ja, ein Kunde von mir.< Sie war zutiefst beeindruckt.« Ein Abglanz seines früheren Ichs erschien auf Frosts bedrücktem Gesicht. »Und eins kann ich Ihnen sagen: er hat sich auch nicht schlecht gebettet. Hatte eine sehr hübsche Blonde bei sich. Europäerin. Filmstar, dem Aussehen nach. Schwedisch. Sehr gewissenhafte Künstlerin auf der Leinwand. Hier - « Frost brachte ein gespenstisches Grinsen zustande. »Beeilung, altes Haus. Was ist?«
»Vertragen wir uns wieder. Los. Gehen wir in die Stadt. Hauen meine fünfhundert Eier in die Pfanne. In Wirklichkeit sind Sie ja gar nicht so, stimmt's? Sie tun es bloß, um sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«
Jerry kramte in seiner Tasche, fischte den Alarmschlüssel heraus und ließ ihn in Frosts leblose Hand fallen. »Den werden Sie brauchen.«
Als er das Gebäude verließ, stand ein schlanker, gutgekleideter junger Mann in tiefangesetzten amerikanischen Slacks auf den breiten Stufen. Er las ein seriös aussehendes Buch, eine gebundene Ausgabe. Den Titel konnte Jerry nicht erkennen. Der junge Mann war noch nicht sehr weit gekommen, las jedoch mit größter Konzentration, wie nur jemand, der fest entschlossen ist, sich zu bilden.
Er war wieder der Sarratt-Mann, alles übrige wich in den Hintergrund.
Immer kreuz und quer, sagten die Bärentreiber. Nie den direkten Weg nehmen. Wenn man den Fang nicht gleich verstecken kann, wenigstens die Hundenasen täuschen. Er nahm verschiedene Taxis, aber immer zu bestimmten Zielen. Zur Queen's Pier, wo er das Beladen der Fähren beobachtete und die braunen Dschunken, die zwischen den großen Schiffen dahinglitten. Nach Aberdeen, wo er mit den Touristen bummelte und mit ihnen Bauklötze staunte über diese komischen Menschen, die auf Booten hausten, und über die schwimmenden Restaurants. Nach Stanley Village und am öffentlichen Strand entlang, wo chinesische Badegäste, die bleichen Körper leicht gebeugt, als laste die Stadt noch immer auf ihren Schultern, keusch mit ihren Kindern dahinwateten. Chinesen schwimmen nicht mehr, wenn das Mondfest vorüber ist, erinnerte er sich automatisch, aber es fiel ihm im Moment einfach nicht ein, wann dieses Mondfest war. Er hatte auch daran gedacht, die Kamera an der Garderobe des Hilton-Hotels abzugeben. Er hatte daran gedacht, einen Nachttresor zu benutzen oder ein Päckchen an seine eigene Adresse aufzugeben; sich als Journalist einen speziellen Boten zu nehmen. Aber das alles war ihm nicht sicher genug - genauer gesagt, es war den Bärentreibern nicht sicher genug. Es ist ein Solo, hatten sie gesagt; im Do-it-yourself-Verfahren oder gar nicht. Also kaufte er einen Behälter: eine Tragetasche aus Plastik und ein paar Baumwollhemden zum Ausstopfen. Wenn sie deine Spur haben, dann sorge für eine Ablenkung. Sogar die ältesten Beschatter fallen drauf rein. Und wenn sie dich stellen, dann laß es fallen. Wer weiß? Vielleicht kannst du dir die Hunde lang genug vom Halse halten, um dich in die Büsche zu schlagen. Trotzdem hielt er sich von der Menge fern. Er hatte eine Heidenangst vor einem zufälligen Taschendiebstahl. In der Mietgarage drüben in Kaulun stand ein Wagen für ihn bereit. Er war ruhig - die Spannung legte sich -, aber seine Wachsamkeit ließ keine Sekunde nach. Er fühlte sich siegesgewiß, und wie er sich sonst noch fühlte, zählte nicht. Manche Arbeiten sind eben einfach dreckig.
Während der Fahrt hielt er besonders nach Hondas Ausschau, die in Hongkong das niedere Fußvolk des Beschattungsgewerbes bilden. Ehe er Kaulun verließ, unternahm er ein paar Abstecher durch Seitenstraßen. Nichts. An der Junction Road reihte er sich in den Picknick-Konvoi ein und fuhr eine weitere Stunde lang in Richtung Clear Water Bay, dankbar über den wirklich katastrophalen Verkehr, denn nichts ist schwieriger, als eine gut funktionierende Ablösung innerhalb eines Honda-Trios in einem fünfzehn Meilen langen Stau zu bewerkstelligen. Jetzt galt es, die Spiegel im Auge zu behalten, zu fahren, anzukommen und alles im Alleingang. Die Nachmittagshitze blieb mörderisch. Jerry hatte die Klimaanlage auf vollen Touren laufen, spürte aber nichts davon. Er passierte Felder voll eingetopfter Pflanzen, Seiko-Schilder, dann Karos von Reispflanzungen und Parzellen mit jungen Pfirsichbäumchen, die für den Neujahrsmarkt herangezogen wurden. Dann folgte zu seiner Linken ein schmaler Sandweg, er schwenkte scharf ein und ließ dabei den Rückspiegel nicht aus den Augen, stoppte, blieb eine Weile stehen und öffnete dann die Heckhaube, als wolle er den Motor abkühlen lassen. Ein erbsengrüner Mercedes glitt an ihm vorbei, getönte Fenster, ein Chauffeur, ein Fahrgast auf dem Vordersitz. Er war schon eine ganze Weile hinter ihm gewesen. Aber er blieb auf der Hauptstraße. Jerry überquerte die Straße, betrat ein Cafe, ging ans Telefon, wählte eine Nummer, ließ es viermal klingeln und legte auf. Er wählte die gleiche Nummer nochmals, ließ es sechsmal klingeln, und als der Hörer abgenommen wurde, legte er wieder auf. Er fuhr weiter, rumpelte durch die Überreste von Fischerdörfern bis zu einem See, wo das Schilf sich bis weit ins Wasser vorgearbeitet hatte und durch sein kerzengerades Spiegelbild verdoppelt wurde. Ochsenfrösche lärmten, und leichte Vergnügungsjachten tauchten aus dem Hitzedunst und verschwanden wieder. Der Himmel war totenblaß und senkte sich ins Wasser. Er stieg aus. In diesem Augenblick hoppelte ein alter Citroen-Lieferwagen daher, an Bord eine chinesische Familie: Coca-Cola-Hüte, Angelzeug, Kinder; aber zwei Männer, keine Frauen, und die Männer beachteten ihn nicht. Er hielt auf eine Zeile Schindelhäuser mit Balkonen zu, sehr verwahrlost und mit durchbrochenen Betoneinfriedungen davor, wie Häuser an der englischen Küste, nur daß die Bemalung von der Sonne verblichener war. Die Namen waren auf Stücken von Schiffsholz in plumpen Lettern eingebrannt: Driftwood, Susy May, Dunromin. Am Ende des Wegs war eine Bootswerft, aber sie war geschlossen, und die Jachten ankerten jetzt anderswo. Während er sich den Häusern näherte, blickte Jerry beiläufig zu den oberen Fenstern auf. Im zweiten von links stand eine grellbunte Vase voll getrockneter Blumen, deren Stengel in Silberpapier gewickelt waren. Alles klar, sagte sie. Komm rein. Er stieß das kleine Tor auf und drückte auf den Klingelknopf. Der Citroen hatte am Seeufer angehalten. Er hörte die Wagentüren zuschlagen und gleichzeitig die mißhandelte Elektronik aus der Torsprechanlage.