»Was ist denn das für ein blöder Hund?« fragte eine rollende Stimme, deren voller australischer Tonfall durch die Störgeräusche donnerte, aber der Türsummer wurde bereits betätigt, und als Jerry gegen die Tür drückte, sah er Old Craws gewaltige Gestalt im Kimono oben an der Treppe aufgepflanzt. Der Alte freute sich riesig, nannte Jerry »Monsignore« und einen »diebischen Straßenköter« und lud ihn ein, er möge seinen häßlichen Grafenarsch raufbewegen und sich einen verdammten Drink unter die Weste jubeln.
Das ganze Haus stank nach brennendem Räucherwerk. Aus den Schatten einer Tür im Erdgeschoß grinste ihn eine zahnlose Amah an, das gleiche seltsame kleine Wesen, das Luke ausgefragt hatte, als Craw in London war. Der Wohnraum befand sich im ersten Stock. Über die schmierige Täfelung verstreut waren wellige Fotos von Craws alten Kameraden, Journalisten, mit denen er sich durch fünfzig Jahre chaotischer orientalischer Geschichte gearbeitet hatte. In der Mitte stand ein Tisch mit einer altersschwachen Remington, auf der Craw angeblich jetzt seine Memoiren hackte. Im übrigen war der Raum kaum möbliert. Wie Jerry hatte Craw Nachkommen und Ehefrauen aus einem halben Dutzend Leben, und nach Bestreitung des unmittelbar Notwendigen blieb nicht mehr viel Geld für Ausstattung übrig. Das Badezimmer hatte kein Fenster.
Neben dem Waschbecken ein Entwicklertank und braune Flaschen mit Fixativ und Entwickler. Auch eine kleine Leuchtplatte mit Mattglasscheibe zum Prüfen der Negative. Craw knipste das Licht aus und werkelte zahllose Jahre hindurch in der völligen Finsternis, grunzte, fluchte und rief den Papst an. Jerry hockte schwitzend neben ihm und versuchte, die Arbeitsphasen des Alten nach dessen Flüchen zu ermitteln. Jetzt, riet er, spulte Craw den schmalen Streifen aus der Kassette um. Jerry stellte sich vor, daß er ihn allzu behutsam hielt, um die Beschichtung nicht zu beschädigen. Im nächsten Moment wird er überhaupt nicht mehr wissen, ob er ihn hält oder nicht, dachte Jerry. Er wird seine Fingerspitzen zwingen müssen, nicht loszulassen. Übelkeit befiel ihn. Im Dunkeln wurde Old Craws Fluchen viel lauter, aber nicht laut genug, um das Kreischen der Wasservögel auf dem See zu übertönen. Er ist geschickt, dachte Jerry beruhigt. Er kann es im Schlaf. Er hörte das Knirschen von Bakelit, als Craw den Deckel zuschraubte und ein »Schön ins Bettchen, du kleiner Heidenbastard« brummelte. Dann das seltsam trockene Rasseln, als er behutsam die Luftblasen aus dem Entwickler schüttelte. Dann ging die Kontrollampe mit einem Knacks an, der so laut war wie ein Pistolenschuß, und Old Craw war wieder sichtbar, rot wie ein Papagei vom Dunkelkammerlicht, über den hermetisch verschlossenen Tank gebeugt. Zuerst goß er rasch das Fixiermittel ein, dann stellte er den Tank seelenruhig auf den Kopf und richtete ihn wieder gerade, während er auf den alten Küchenwecker lauschte, der die Sekunden herunterstotterte.
Halb gelähmt von Nervosität und Hitze ging Jerry allein zurück in den Wohnraum, goß sich ein Bier ein und plumpste in einen Rohrsessel. Sein Blick war ziellos, während er auf das stetige Tropfen des Wasserhahns horchte. Durchs Fenster drang das Plappern chinesischer Stimmen. Die beiden Angler hatten ihr Gerät am Seeufer aufgestellt. Die Kinder saßen im Staub und sahen ihnen zu. Aus dem Badezimmer kam wiederum das Kratzen des Deckels, und Jerry sprang auf, aber Craw mußte ihn gehört haben, denn er knurrte »Warten« und schloß die Tür. Linienpiloten, Journalisten, Spione, warnte die Sarratt-Doktrin. Der gleiche Schlauch. Verdammte Warterei, und dann zwischendurch ein irrer Rummel.
Er will's erst sehen, dachte Jerry: falls sie verpatzt sind. Nach der Hackordnung mußte Craw seinen Frieden mit London machen, nicht Jerry. Craw, der ihn im äußersten Notfall zu einer zweiten Runde mit Frost ausschicken würde.
»Was machen Sie denn da drinnen, um Himmels willen?« brüllte Jerry. »Was ist los?«
Vielleicht pinkelt er nur, dachte er töricht.
Langsam öffnete sich die Tür. Craws Feierlichkeit war erschreckend.
»Sie sind nichts geworden«, keuchte Jerry.
Er hatte das Gefühl, sich Craw nicht verständlich machen zu können. Er wollte es nochmals sagen, laut. Er wollte schon herumtanzen und eine blödsinnige Szene machen. So daß Craws Antwort, als sie endlich erfolgte, gerade noch zur rechten Zeit kam.
»Im Gegenteil, mein Sohn.« Der alte Knabe trat einen Schritt vor, und Jerry konnte jetzt die Filme sehen, die wie schwarze nasse Würmer an Craws kleiner Wäscheleine baumelten, von rosa Klammern festgehalten. »Im Gegenteil, Sir«, sagte er. »Jedes einzelne ist ein kühnes und erregendes Meisterstück.«
Noch mehr über Pferde
Die ersten Meldungen über Jerrys Erfolge tröpfelten frühmorgens im Circus ein, wo bisher tödliche Stille geherrscht hatte, und sie machten das Wochenende zu einem einzigen Wirbel. Guillam, der wußte, was ihn erwartete, hatte sich um zehn zu Bett begeben und einen unruhigen Schlaf getan, unterbrochen von Besorgnisanfällen um Jerry und unverhüllt sündigen Visionen von Molly Meakin mit und ohne ihren braven Badeanzug. Jerry sollte sich kurz nach vier Uhr morgens Londoner Zeit bei Frost einfinden, und um drei Uhr dreißig knatterte Guillam in seinem alten Porsche durch neblige Straßen zum Circus. Es hätte Morgengrauen oder Abenddämmerung sein können. Als er die Rumpelkammer betrat, sah er Connie die letzten leeren Felder des Kreuzworträtsels der Times ausfüllen und Doc di Salis über den Meditationen Thomas Trahernes sitzen, sich am Ohr zupfen und gleichzeitig mit dem Fuß wippen, wie ein Ein-Mann-Schlagorchester. Ruhelos wie immer flitzte Fawn zwischen ihnen hin und her, wischte Staub und räumte auf wie ein Kellner, der ungeduldig auf die nächste Gästeschicht wartet. Dann und wann saugte er an den Zähnen und ließ in kaum noch beherrschter Frustration ein fauchendes »Pff« hören. Eine Schwade von Tabaksqualm hing wie eine Regenwolke im Raum, vereint mit dem üblichen Gestank nach abgestandenem Tee aus dem Samowar. Smileys Tür war geschlossen, und Guillam sah keinen Grund, ihn zu stören. Er schlug eine Nummer von Country Life auf. Wie wenn man bei einem Scheiß-Zahnarzt wartet, dachte er, saß da und glotzte gedankenlos auf die Fotos großartiger Häuser, bis Connie leise ihr Kreuzworträtsel weglegte, sich kerzengerade aufsetzte und sagte: »Horcht«. Dann hörte er das grüne Telefon der Vettern kurz schnarren, bis Smiley abhob. Durch die offene Tür zu seinem eigenen Büro blickte Guillam auf die Reihe elektronischer Boxen. An einer von ihnen brannte ein grünes Warnlicht während der ganzen Dauer des Gesprächs. Dann klingelte der Anschluß in der Rumpelkammer, und diesmal war Guillam schneller als Fawn.
»Er hat die Bank betreten«, verkündete Smiley kryptisch über die Nebenstellenanlage.
Guillam gab die Nachricht an die Versammlung weiter: »Er ist in die Bank reingegangen«, sagte er, aber er hätte ebensogut zu den Toten sprechen können. Niemand gab das kleinste Zeichen, daß er ihn gehört hatte.
Um fünf hatte Jerry die Bank wieder verlassen. Nervös erwog Guillam die weiteren Möglichkeiten. Er fühlte sich physisch übel. Verbrennen war ein gefährliches Spiel, und wie die meisten Profis war Guillam dagegen, wenn auch nicht aus Gewissensgründen. Da war zuerst einmal die verfolgte Beute, oder, noch schlimmer, die Schar der Engel von der Ortspolizei. Zweitens das Verbrennen selbst: nicht jeder reagiert logisch auf Erpressung. Es gibt Helden, es gibt Lügner, es gibt hysterische Jungfrauen, die den Kopf in den Nacken werfen und Zeter und Mordio schreien, auch wenn es ihnen Spaß macht. Aber die größte Gefahr kam jetzt, nachdem der Brand gelegt war und Jerry der rauchenden Bombe den Rücken kehren und losrennen mußte. Nach welcher Seite würde Frost sich stürzen? Würde er die Polizei anrufen? Seine Mutter? Seinen Boß? Seine Frau? »Darling, ich gestehe alles, rette mich, und wir wollen ein neues Leben beginnen.« Guillam schloß nicht einmal die grauenhafte Möglichkeit aus, daß Frost direkt zu seinem Kunden gehen könnte: »Sir, ich habe mich für einen gröblichen Bruch des Bankgeheimnisses zu verantworten.« Guillam schauderte in der Unheimlichkeit der frühen Morgenstunde und konzentrierte seine Gedanken energisch auf Molly. Als das grüne Telefon wiederum ertönte, hörte Guillam es nicht. George mußte praktisch auf dem Ding gesessen haben. Plötzlich glomm das Lämpchen in Guillams Büro auf, und es glomm fünfzehn Minuten lang weiter. Es erlosch, und sie warteten, aller Augen auf Smileys Tür geheftet, als wollten sie ihn aus seiner Klause hypnotisieren. Fawn war mitten in der Bewegung erstarrt, einen Teller mit braunen Marmeladebroten in der Hand, die niemand je essen würde. Dann bewegte sich die Klinke und Smiley erschien mit einem Wald-und-Wiesen-Suchantrag in der Hand, den er bereits in seiner sauberen Schrift ausgefüllt und mit »Stripe« gekennzeichnet hatte, was »Eilige Chefsache« bedeutete und die höchste Dringlichkeitsstufe darstellte. Er gab es Guillam und bat ihn, es sofort der Bienenkönigin in der Registratur zu bringen und bei ihr stehenzubleiben, während sie den Namen heraussuchte. Als Guillam es entgegennahm, fiel ihm eine frühere Gelegenheit ein, bei der er mit einem ähnlichen Formular zu tun gehabt hatte, das mit Worthington Elizabeth alias Lizzie begonnen und mit »Edelnutte« geendet hatte. Und im Hinausgehen hörte er, wie Smiley ruhig an Connie und di Salis die Aufforderung richtete, mit ihm in den Thronsaal zu kommen, während Fawn zur allgemeinen Bibliothek abzischte, um von dort die letzte Ausgabe von »Who's Who in Hong Kong« zu holen. Die Bienenkönigin war eigens für die Frühschicht eingeteilt worden, und als Guillam zu ihr hereinkam, glich ihre Höhle einem Gemälde aus der Reihe »Die Nacht, in der London brannte«, komplett mit eisernem Feldbett und Spirituskocher, obwohl im Korridor eine Kaffeemaschine stand. Alles, was sie braucht, ist eine Garnitur Kochtöpfe und ein Porträt Winston Churchills, dachte er. Die einzelnen Angaben auf dem Formular lauteten; »Ko, Vorname Drake, andere Namen unbekannt, geboren 1925 in Schanghai, wohnhaft zur Zeit Seven Gates, Headland Road, Hongkong, Beruf Vorsitzender und geschäftsführender Direktor von >China Airsea Ltd., Hong Kong<.« Die Bienenkönigin stürzte sich in eine eindrucksvolle Schnitzeljagd, aber alles, was sie schließlich zutage förderte, war die Information, daß Ko im Jahr 1966 (Hongkong-Liste) »wegen besonderer Verdienste um das Wohlfahrts- und Sozialwesen der Kolonie« für den O. B. E., den Order of the British Empire, vorgeschlagen wurde und daß der Circus damals auf das Ansuchen des Gouverneurs um kritische Nachprüfung die Auskunft erteilt habe, »laut Akten keine Hinderungsgründe«, ehe die Auszeichnung nach oben zur Bestätigung weitergeleitet wurde. Während er mit dieser frohen Botschaft treppauf eilte, war Guillam wach genug, um sich zu erinnern, daß »China Airsea Ltd., Hong Kong« von Sam Collins als letztendlicher Eigner jener Schmalspur-Fluggesellschaft in Vientiane genannt worden war, die als Empfängerin von Handels-Boris' milden Gaben fungierte; was Guillam als höchst logische Verbindung ansah. Zufrieden mit sich selber kehrte er in den Thronsaal zurück, um dort von Grabesschweigen empfangen zu werden. Über den Fußboden verstreut lag nicht nur die letzte Ausgabe von »Who's Who«, sondern auch eine ganze Anzahl älterer Bände: Fawn war wieder einmal übers Ziel hinausgeschossen. Smiley saß an seinem Schreibtisch und starrte auf ein Blatt mit Notizen in seiner eigenen Handschrift, Connie und di Salis starrten auf Smiley, Fawn hingegen war wieder abwesend, vermutlich auf einem weiteren Botengang. Guillam reichte Smiley das Formular, in dessen Mitte die Bienenkönigin ihre Entdeckungen in gestochener Schrift niedergelegt hatte. Im gleichen Augenblick surrte das grüne Telefon wieder. Smiley nahm den Hörer auf und begann, auf das Blatt Papier, das vor ihm lag, zu kritzeln.