di Salis war auf seine schrullige Art nicht weniger beeindruckt als Connie. Er saß da, hatte den oberen Teil seines verdrehten, unproportionierten Körpers nach vorn gekippt und stocherte so ungestüm mit einem silbernen Messer im Pfeifenkopf, als wäre es ein angebrannter Kochtopf. Das silberne Haar am Hinterkopf starrte wie ein Hahnenkamm über dem schuppenbedeckten Kragen seines zerknitterten schwarzen Jacketts. »Nun, well, kein Wunder, daß Karla die Leichen verschwinden lassen wollte«, platzte er plötzlich heraus, als hätte so viel Aktivität die Worte aus ihm herauskatapultiert. »Kein Wunder. Karla ist auch ein alter Chinahase, müssen Sie wissen. Beglaubigte Tatsache. Ich weiß es von Connie.« Er rappelte sich hoch und raffte viel zu viele Gegenstände mit den kleinen Händen an sich: Pfeife, Tabaksdose, sein Federmesser und seinen Thomas Traherne. »Natürlich keine Intelligenzbestie. Erwartet man auch nicht. Karla ist kein Gelehrter, er ist Soldat. Aber auch nicht blind, kein Gedanke, sagte sie mir. Ko.« Er wiederholte den Namen in verschiedenen Lautqualitäten. »Kö. Ko. Ich muß die Ideogramme sehen. Alles hängt von den Ideogrammen ab. Höhe . . . Baum-. . . sogar, ja, Baum wäre möglich . . . oder nicht? ... oh, und noch mehrere weitere Bedeutungen. >Drake< ist natürlich Missionsschule. Missionsschüler in Schanghai. Mhm, well, allererste Parteizelle war in Schanghai. Warum habe ich das gesagt? Drake Ko. Frage mich, wie er wirklich heißen mag. Aber das werden wir bestimmt alles bald herausbekommen. Ja. Gut. Also, dann begebe ich mich auch wieder an meine Lektüre. Smiley, glauben Sie, daß ich einen Kohlenschütter in mein Zimmer kriegen kann? Ohne Heizung erfriert man einfach. Ich habe die Housekeepers schon ein Dutzendmal gebeten und nur impertinente Bemerkungen einstecken müssen. Anno domini wahrscheinlich, aber der Winter steht wohl schon vor der Tür. Sie zeigen uns doch das Rohmaterial, sobald es eintrifft? Man arbeitet nicht gern allzu lang an konstruierten Versionen. Ich werde einen Lebenslauf zusammenstellen. Soll meine erste Arbeit sein. Ko. Ah, vielen Dank, Guillam.«
Er hatte seinen Thomas Traherne fallenlassen. Als er ihn entgegennahm, entglitt ihm die Tabaksdose, also hob Guillam auch sie auf: »Drake Ko. Schanghainese bedeutet natürlich überhaupt nichts. Schanghai war der wahre Schmelztiegel. Die Lösung lautet Chiu Chow, nach allem, was wir wissen. Trotzdem, keine voreiligen Schlüsse. Baptist. Nun ja, das sind die Christen in Chiu Chow größtenteils, nicht wahr! Swatonese: wo kam das vor? Ja, die zwischengeschaltete Gesellschaft in Bangkok. Ja, das paßt ganz gut. Oder Hakka. Was sich gegenseitig nicht ausschließt, ganz und gar nicht.« Er stelzte hinter Connie her in den Korridor hinaus und ließ Guillam allein mit Smiley, der aufstand, zu einem Lehnstuhl hinüberging, sich hineinfallen ließ und blicklos ins Feuer starrte.
»Komisch«, bemerkte er endlich. »Man fühlt keinen Schock. Warum nicht, Peter. Sie kennen mich. Warum denn nicht?« Guillam war klug genug, zu schweigen.
»Ein großer Fisch. In Karlas Sold. Anderkonten, die Gefahr, daß russische Spione mitten im Herzen der Kolonie am Werk sind. Also, warum fühlt man keinen Schock?« Wieder bellte das grüne Telefon, diesmal nahm Guillam den Anruf entgegen. Während er am Apparat stand, sah er zu seinem Erstaunen einen neuen Band von Sam Collins' Fernost-Berichten offen auf dem Schreibtisch liegen.
Das war das Wochenende. Connie und di Salis verschwanden spurlos; Smiley machte sich daran, seine Eingabe an Whitehall auszuarbeiten. Guillam glättete sein Gefieder, trommelte die Mütter zusammen und teilte sie zur Schichtarbeit ein. Am Montag rief er nach eingehender Vergatterung durch Smiley Lacons Privatsekretär an. Er machte es sehr gut. »Kein Tamtam«, hatte Smiley ihn gewarnt. »Ganz lässig.« Und genauso tat Guillam. Neulich abends beim Dinner sei die Rede gewesen - so sagte er - von einem prima facie Fall, der möglicherweise vor den Lenkungsausschuß gehöre.
»Die Sache hat ein bißchen Gestalt angenommen, es wäre daher vielleicht am Platz, einen Termin zu bestimmen. Geben Sie uns die Schlagfolge, und wir lassen die Unterlagen vorher herumgehen.«
»Eine Schlagfolge?«
Lacons Privatsekretär war eine fette Stimme namens Pym.
Guillam war ihm nie begegnet, haßte ihn jedoch ganz unsinnig.
»Ich kann es ihm nur sagen«, gab Pym zu bedenken, »ich kann es ihm sagen und dann zusehen, was er antwortet, und rufe dann zurück. Seine Tanzkarte für diesen Monat ist fast voll.«
»Es wäre nur ein ganz kleiner Walzer, wenn er's möglich machen könnte«, sagte Guillam und legte zornbebend auf. Warte nur, du Blödmann, dann wirst du schon sehen, was dir blüht, dachte er.
Wenn in London ein freudiges Ereignis fällig ist, sagt der Volksmund, dann kann der Außenagent nur im Wartezimmer auf und ab traben. Linienpiloten, Journalisten, Spione: die verfluchte Warterei hatte Jerry wieder am Wickel.
»Wir sind eingemottet«, verkündete Craw. »Jetzt heißt's abwarten, und achten Sie auf alles, was Sie tun.« Sie sprachen mindestens jeden zweiten Tag miteinander, Kassiber-Anrufe zwischen zwei neutralen Telefonen, meist von einer Hotelhalle zur anderen. Sie maskierten ihre Unterhaltung durch eine Mischung aus Sarratt-Wortcode und Journalisten-Kauderwelsch.
»Ihr Artikel muß noch höheren Orts abgesegnet werden«, sagte Craw. »Wenn unsere Redakteure auf Zack sind, bringen sie ihn beizeiten. Inzwischen Finger in die Nase und drinlassen. Das ist ein Befehl.«
Jerry hatte keine Ahnung, wie Craw mit London sprach, und er wollte es auch nicht wissen, solange es nur sicher war. Er vermutete über einen Vertrauensmann aus der riesigen unberührbaren regulären Nachrichtendienst-Bruderschaft, aber er wußte es nicht.
»Ihr Job ist es, Futter für das Comic zu sammeln, und stecken Sie sich eine Kopie unters Hemd, damit Sie sie Bruder Stubbs vor den Latz knallen können, wenn die nächste Krise kommt«, hatte Craw zu ihm gesagt. »Und sonst nichts, verstanden?« Jerry griff auf seine Spritztouren mit Frost zurück und verzapfte einen Artikel über die Auswirkung des amerikanischen Truppenabzugs auf das Nachtleben von Wanchai: »Was ist aus Susi Wong geworden, seit keine kriegsmüden GIs mit dicken Brieftaschen mehr zu Spiel und Spaß anrücken?« Er tippte ein »Interview im Morgengrauen« mit einer ebenso unglücklichen wie frei erfundenen Barfrau, die bereits so runter war, daß sie japanische Kunden annahm, schickte es per Luftfracht ab und überredete Lukes Büro, die Nummer des Frachtbriefs per Telex durchzugeben, alles genau wie Stubbs angeordnet hatte. Jerry war durchaus kein unfähiger Reporter, aber so wie er unter Druck sein Bestes leisten konnte, war Müßiggang das Schlechteste für ihn. Doch zu seinem Erstaunen bestätigte Stubbs die Annahme umgehend und sogar gnädigst - ein »Herogramm« nannte Luke es, als er den Text von seinem Büro aus durchtelefonierte -, und Jerry sah sich nach weiteren würdigen Objekten um. Ein paar sensationelle Korruptionsprozesse, bei denen die übliche Clique mißverstandener Polizisten im Mittelpunkt stand, interessierten gute Blätter, aber nach genauerem Hinsehen fand Jerry, daß sie keine Exportchancen hätten. England war mit diesem Artikel zur Zeit selber bedient. Eine »Kontaktpostille« beauftragte ihn, einem Gerücht über die angebliche Schwangerschaft der Miss Hong Kong nachzugehen, das ein Konkurrenzblatt in Umlauf gebracht hatte, aber eine Verleumdungsklage kam ihm zuvor. Er besuchte eine unergiebige Pressekonferenz der Regierung, die Shallow Throat abhielt, selbst ein humorloser Ausgestoßener einer nordirischen Tageszeitung, vertrödelte einen Vormittag mit dem Aufstöbern einstmals erfolgreicher Stories, die man wieder aufwärmen könnte; und da eine Beschneidung des Armee-Etats im Gespräch war, ließ er sich einen Nachmittag lang von einem Public-Relations-Major, der aussah wie achtzehn, in der Gurkha-Garnison herumführen. Und, nein, der Herr Major wußte nicht, vielen Dank, so die Antwort auf Jerrys unbekümmerte Frage, wie seine Männer ihr Sexualleben gestalten würden, wenn ihre Familien nach Nepal zurückmüßten. Sie würden ungefähr alle drei Jahre ihre Heimatdörfer besuchen dürfen, meinte er und schien dies in jedem Fall für ausreichend zu halten. Jerry trieb die Fakten aus, bis sie den Eindruck vermittelten, die Gurkhas wären bereits eine Brigade von Strohwitwern, »Kalte Duschen in Heißem Klima für Britanniens Söldner«, und sicherte sich damit triumphierend einen Vorsprung in der Berichterstattung. Er hortete noch ein paar Stories für Notzeiten, lungerte an den Abenden im Club herum und zerquälte sich das Hirn, während er darauf wartete, daß das Circuskind das Licht der Welt erblickte.. »Herrgottnochmal«, beklagte er sich bei Craw, »der verdammte Kerl liegt doch praktisch auf dem Präsentierteller.«