»Sind Sie wieder einen Roman am Schreiben, Westerby?« fragte der Zwerg honigsüß, als er aus seinem Büro kam, um nachzusehen, was Jerry trieb. Jerry hatte fragen wollen, warum ein Swatonese in Schanghai erzogen sein sollte, aber er fand es klüger, auf ein weniger delikates Thema umzuschwenken. Am nächsten Tag lieh Jerry sich Lukes klappriges Auto aus. Mit einer gewöhnlichen Fünfunddreißigmillimeter-Kamera ausgerüstet fuhr er zur Headland Road, einem Millionärs-Getto zwischen Repulse Bay und Stanley, wo er demonstrativ vor den Villen hielt und sich den Hals verrenkte, wie es viele müßige Touristen tun. Seine Tarngeschichte war noch immer diese Reportage für Stubbs über die »Reichen und die Superreichen von Hongkong«: auch jetzt noch hätte er nicht einmal sich selber eingestanden, daß er wegen Drake Ko hierherkam.
»Er macht Krach in Taipeh«, hatte Craw ihm bei einem ihrer Telefongespräche beiläufig erzählt. »Wird nicht vor Donnerstag zurück sein.« Wieder einmal akzeptierte Jerry fraglos Craws Nachrichtenverbindungen.
Er fotografierte das Haus namens Seven Gates nicht, aber er musterte es wiederholt mit langen, dämlichen Blicken. Er sah eine niedrige ziegelgedeckte Villa, ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt, mit einer großen Veranda auf der Meerseite und einer Pergola aus weißgetünchten Säulen, die sich vor dem blauen Horizont abhoben. Craw hatte ihm erzählt, daß Drake den Namen gewählt haben mußte, weil in Schanghai die alte Stadtmauer von sieben Toren durchbrochen wurde. »Gefühle, mein Sohn. Unterschätzen Sie niemals die Macht der Gefühle über ein Schlitzauge, und zählen Sie niemals darauf. Arrien.« Er sah Rasenflächen, darunter zu seiner Belustigung auch einen Krocketrasen. Er sah eine schöne Sammlung von Azaleen und Hibiskus. Er sah das Modell einer Dschunke, etwa zehn Fuß lang, auf einem Zementmeer, und er sah eine Gartenbar, rund wie ein Musikpavillon, mit einer blau-weiß gestreiften Markise darüber, und einen Kreis leerer weißer Stühle, beaufsichtigt von einem Boy in weißer Tunika, weißen Hosen und weißen Schuhen. Die Kos erwarteten offenbar Gäste. Er sah weitere Hausboys eine tabakfarbene Rolls-Royce-Phantom-Limousine waschen. Die lange Garage war offen, und er zählte einen kombiartigen Chrysler und einen schwarzen Mercedes, dessen Nummernschild entfernt war, vermutlich im Zuge irgendeiner Reparaturarbeit. Aber er achtete sorgfältig darauf, den anderen Häusern an der Headland Road die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, und er fotografierte drei davon. Dann fuhr er weiter nach Deep Water Bay, stand am Strand und blickte auf die kleine Armada der Dschunken und Motorboote im Besitz der Börsianer, konnte aber die »Admiral Nelson«, Kos berühmte Hochseejacht, nicht entdecken - die Allgegenwart des Namens Nelson wurde nachgerade drückend. Als er schon aufgeben wollte, hörte er einen Ruf von drunten, ging einen wackeligen Fußsteig hinab und sah eine alte Frau in einem Sampan, die zu ihm hinaufgrinste und mit einem gelben Hühnerbein, an dem sie mit ihrem zahnlosen Gaumen genuckelt hatte, auf sich selbst wies. Er kletterte an Bord und wies auf die Boote, und sie fuhr ihn einmal rundum, lachte und sang, während sie skullte, und behielt das Hühnerbein im Mund. Die »Admiral Nelson« war elegant und schnittig. Drei Boys in weißen Segeltuchanzügen schrubbten emsig die Verdecke. Jerry versuchte zu berechnen, wie hoch sich Kos monatliche Haushaltsausgaben, allein für Personalkosten, belaufen mochten. Auf der Rückfahrt legte er einen Halt ein, um sich das Drake-Ko-Kinderspital anzusehen, und stellte fest, was immer diese Information wert sein mochte, daß auch hier alles in erstklassigem baulichen Zustand war. Am folgenden frühen Vormittag nahm Jerry in der Halle eines vielstöckigen Büropalasts in der Central Street Aufstellung und studierte die Messingschilder der hier residierenden Firmen. »China Airsea« nebst Tochtergesellschaften hatten die drei obersten Stockwerke inne, aber, wie beinah vorauszusehen, fand sich keine Erwähnung von »Indocharter, Vientiane S. A.«, jenem Unternehmen, das einst jeden letzten Freitag des Monats fünfundzwanzigtausend US-Dollar in Empfang nahm.
In der Mappe mit den Zeitungsausschnitten in Lukes Büro war auch ein Verweis auf die Archive des US-Konsulats aufgetaucht. Jerry sprach anderntags dort vor, angeblich um seine Reportage über die amerikanischen Truppen in Wanchai noch genau nachzuprüfen. Unter der Aufsicht eines extrem hübschen Mädchens suchte Jerry eine Weile herum, fischte einiges heraus und entschloß sich dann zu einigen der ältesten Stücke, Material aus den frühen fünfziger Jahren, als Truman ein Handelsembargo über China und Nordkorea verhängt hatte. Das Konsulat in Hongkong hatte Anweisung erhalten, Übertretungen zu melden, und dies war der Bericht über die Resultate. Die bevorzugte Handelsware war, neben Medikamenten und Elektroartikeln, Öl gewesen, und die »United States Agencies«, wie sie hier genannt wurden, waren im großen Stil dahinter hergewesen, hatten Fallen gestellt, Kanonenboote ausgeschickt, Überläufer und Gefangene verhört und schließlich den Unterausschüssen von Kongreß und Senat gewaltige Dossiers vorgelegt.
Das bewußte Jahr war 1951, zwei Jahre nach der kommunistischen Machtergreifung in China und ein Jahr nachdem Ko, ohne einen Cent sein eigen zu nennen, von Schanghai nach Hongkong gesegelt war. Die Operation, auf die der Vermerk des Archivs ihn hinwies, war von Schanghai ausgegangen, und dies war zunächst das einzige, was sie mit Ko gemeinsam hatte. Damals lebten viele schanghainesische Einwanderer in einem überfüllten unhygienischen Hotel an der Des Voeux Road. Die Einleitung besagte, daß sie wie eine einzige riesige Familie gewesen seien, durch geteilte Leiden und geteiltes Elend zusammengeschweißt. Einige waren schon gemeinsam vor den Japanern geflüchtet, ehe sie vor den Kommunisten flüchteten.
»Nachdem wir von den Kommunisten so viel zu erdulden hatten«, eröffnete ein Angeklagter seinen Befragern, »wollten wir doch wenigstens ein bißchen Geld an ihnen verdienen.« Ein anderer war aggressiver. »Die fetten Fische von Hongkong verdienen Millionen an diesem Krieg. Wer verkauft den Roten ihr elektronisches Gerät, ihr Penicillin, ihren Reis?« Anno 51 hatten sie zwei Methoden zur Verfügung, sagte der Bericht. Sie konnten die Grenzposten bestechen und das Öl in Lastwagen durch die New Territories und über die Grenze befördern; oder sie konnten es auf dem Seeweg transportieren, was bedeutete, daß sie die Hafenbehörden bestechen müßten. Wiederum ein Informant: »Uns Hakka kennen Meer. Wir finden Schiff, dreihundert Tonnen, wir mieten. Wir füllen mit Fässer voll Öl, machen falsche Erklärung und falsches Ziel. Wir kommen in internationale Gewässer, rasen wie Teufel nach Amoy. Rote nennen uns Bruder, Profit hundert Prozent. Nach ein paar Fahrten wir kaufen Schiff.«
»Woher stammte das erste Geld?« wollten die Befrager wissen. »Ritz Ballroom«, lautete die verwirrende Antwort. Das Ritz war ein hochnobler Nuttenbunker Ecke Kings Road und Hafen, erklärte eine Fußnote. Die meisten Mädchen waren Schanghainesirinen. Die gleiche Fußnote zählte Mitglieder der Bande auf. Drake gehörte dazu.
»Drake Ko war sehr harter Junge«, lautete eine kleingedruckte Zeugenaussage im Anhang. »Drake Ko erzählt man kein Märchengeschichte nicht. Er mag keine Politischen überhaupt nicht. Tschiang Kaischek. Mao. Er sagt, sind alles eine Person. Er sagt, er ist für Tschiang Maoschek. Einmal führt Mr. Ko unsere Bande.«
Über das organisierte Verbrechen erzielten die Recherchen keine Informationen. Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß Schanghai, als es 1949 an Mao fiel, bereits drei Viertel seiner Unterwelt nach Hongkong verlagert hatte; daß die Rote Bande und die Grüne Bande sich wegen der Schutz-Racketts für Hongkong so viele Schlachten geliefert hatten, daß daneben das Chicago der zwanziger Jahre wie ein Kinderspielplatz wirkte. Aber es konnte kein einziger Zeuge gefunden werden, der zugegeben hätte, irgend etwas über Banden, Triaden oder andere kriminelle Organisationen zu wissen.