Er wanderte zurück durch den Speisesaal zur Haupthalle, gelangte zu einer breiten Hintertreppe, stieg zwei Etagen hinunter und durchquerte einen Vorplatz zur Zuschauergalerie, die mit einer beträchtlichen und nachdenklichen Chinesenschar gefüllt war, alles Männer. Sie starrten in ehrfürchtigem Schweigen hinunter auf eine überdachte Sandgrube, in der sich lärmende Spatzen und drei Pferde befanden, jedes von seinem ständigen Reitknecht, dem Mafu, geführt. Die Mafus hielten ihre Schützlinge miserabel, als wären sie krank vor Angst. Der elegante Captain Grant sah zu, desgleichen ein alter weißrussischer Trainer namens Sacha, den Jerry gern mochte. Sacha saß auf einem winzigen Klappstuhl, leicht vorgebeugt, wie beim Angeln. Sacha hatte während der Vertragszeit in Schanghai mongolische Ponies trainiert, und Jerry konnte ihm nächtelang zuhören: wie Schanghai damals drei Rennplätze hatte, einen britischen, einen internationalen, einen chinesischen; wie die britischen Handelsfürsten jeder seine sechzig, ja hundert Pferde hielten und sie an der Küste auf und ab transportierten, von einem Hafen zum anderen wie die Irren miteinander in Konkurrenz lagen. Sacha war ein sanfter philosophischer Bursche mit träumerischen blauen Augen und einem eingedrückten Kiefer wie ein Ringer. Er war auch der Trainer von Lucky Nelson. Er saß allein und beobachtete, wie Jerry vermutete, eine Tür, die er selbst von seinem Standort aus nicht sehen konnte. Ein jähes Getümmel von den Tribünen her veranlaßte Jerry, mit einem Ruck gegen die Sonne zu blicken. Gebrüll erscholl, dann ein schriller, erstickter Aufschrei, als die Menge auf einem Rang ins Schwanken geriet und ein Stoßtrupp grauer und schwarzer Uniformen sich rücksichtslos Bahn brach. Eine Sekunde später, und ein Schwarm von Polizisten zerrte irgendeinen armseligen Taschendieb, blutend und hustend, in den Tunneldurchgang zwecks Ablegung eines freiwilligen Geständnisses. Geblendet wandte Jerry den Blick wieder dem dunklen Inneren des Sattelplatzes zu, und es dauerte ein wenig, ehe er die verschwommene Gestalt von Mr. Drake Ko unterscheiden konnte. Die Identifizierung war keineswegs direkt. Der erste Mensch, den Jerry sehen konnte, war nicht etwa Ko, sondern der junge chinesische Jockey, der neben dem alten Sacha stand, ein hochgewachsener Junge, spindeldürr, wo die seidene Jacke in die Breeches gestopft war. Er schlug mit der Reitgerte gegen seine Stiefel, als hätte er das einem englischen Reiterbild abgeguckt, und er trug Kos Farben (»himmelblau und meergrau geviertelt« besagte der Artikel im Goldenen Orient), und der kleine Sacha starrte auf etwas, das Jerry nicht sehen konnte. Als nächstes kam, unterhalb der Galerie, auf der Jerry stand, ein brauner Junghengst, den ein kichernder fetter Mafu im dreckigen grauen Overall führte. Die Startnummer war unter einer Decke verborgen, aber Jerry kannte das Pferd bereits vom Foto, und jetzt kannte er es noch weit besser: er kannte es sogar sehr gut. Es gibt Pferde, die einfach besser sind als ihre Klasse, und in Jerrys Augen war Lucky Nelson ein solches Pferd. Nicht ohne, dachte er, gute Kopfhaltung, ein feuriges Auge. Keiner von diesen halbgaren Braunen mit heller Mähne und hellem Schweif, denen bei jedem Rennen die Stimmen der Damen gehören: wenn man die hier übliche Form bedenkt, die durch das Klima schwer reduziert ist, war Lucky Nelson ebenso in Ordnung wie jedes andere Pferd am Platz. Davon war Jerry überzeugt. Einen mißlichen Augenblick lang hatte er für die Kondition des Pferdes gefürchtet: es schwitzte, zu glänzend an Flanken und Kruppe. Dann sah er sich nochmals das feurige Auge an und die ein wenig unnatürlich verlaufenden Schweißstreifen, und seine gute Laune kehrte zurück: dieser schlaue Teufel hat es mit dem Schlauch abspritzen lassen, damit es mies aussieht, dachte er in heiterem Angedenken an Old Sambo.
So kam es, daß Jerry erst zu diesem späten Zeitpunkt den Blick von dem Pferd zu seinem Besitzer wandte.
Mr. Drake Ko, O. B. E., Empfänger bis dato einer schlanken halben Million russischer US-Dollar, eingestandenermaßen Anhänger von Tschiang Maoschek, stand von allen anderen abseits, im Schatten einer weißen Betonsäule von zehn Fuß Durchmesser: eine häßliche, aber harmlose Erscheinung auf den ersten Blick, groß, leicht gebeugt, was berufsbedingt sein konnte: Zahnarzt oder Flickschuster. Er war nach englischer Art gekleidet, formlose graue Flanellhose und schwarzer doppelreihiger Blazer, der in der Taille zu lang war, wodurch die unproportionierten Beine noch betont wurden und der magere Körper verschrumpfelt wirkte. Gesicht und Nacken waren glänzend wie altes Leder und ebenso haarlos, und die vielen Falten sahen aus wie scharf plissiert. Sein Teint war dunkler, als Jerry erwartet hatte: sah fast nach einem Schuß Araber- oder Inderblut aus. Er trug die gleiche unpassende Kopfbedeckung wie auf dem Foto, eine dunkelblaue Baskenmütze, und die Ohren standen darunter hervor wie Marzipanrosen. Seine sehr schmalen Augen wurden durch den Druck der Mütze noch mehr in die Länge gezogen. Braune italienische Schuhe, weißes Hemd, am Kragen offen. Keine Requisiten, nicht einmal einen Feldstecher: aber ein wundervolles Halb-Millionen-Dollar-Lächeln, von einem Ohr zum anderen, zum Teil in Gold, offensichtlich erfreut über jedermanns Glück und Wohlstand, einschließlich seines eigenen.
Nur: da war ein gewisses Etwas - manche Menschen haben es, es ist wie eine elektrische Spannung: Oberkellner, Portiers, Journalisten erkennen es auf den ersten Blick; Old Sambo hatte es beinah gehabt -, ein Etwas, das sofort verfügbare Mittel verriet. Sollte irgend etwas benötigt werden, so würden unsichtbare Geister es im Handumdrehen herbeischaffen.
Das Gemälde erwachte zum Leben. Über den Lautsprecher erhielten die Jockeys den Befehl zum Aufsitzen. Der kichernde Mafu zog die Decke weg, und Jerry stellte mit Vergnügen fest, daß Ko das Fell des Braunen gegen den Strich hatte striegeln lassen, um seine vorgeblich schlechte Verfassung zu unterstreichen. Der dürre Jockey machte die lange und linkische Reise in den Sattel und rief mit nervöser Freundlichkeit etwas zu Ko, der auf der anderen Seite stand, hinunter. Ko, der schon am Weggehen war, fuhr herum und bellte etwas zurück, nur eine einzige hörbare Silbe, ohne sich darum zu kümmern, wohin er sprach und wer das Wort auffing. Ein Tadel? Eine Ermutigung? Ein Befehl an einen Bediensteten? Das Lächeln hatte nichts von seinem Strahlen eingebüßt, aber die Stimme war hart wie ein Peitschenschlag. Pferd und Reiter entfernten sich, Ko desgleichen, und Jerry raste wieder treppauf durch den Speisesaal zum Balkon, arbeitete sich bis zur Ecke vor und sah hinab.
Inzwischen war Ko nicht mehr allein, er war jetzt verheiratet. Ob beide gemeinsam zur Tribüne gekommen waren, ob sie ihm in Sekundenabstand gefolgt war, das erfuhr Jerry nie. Sie war so klein. Er sah einen glänzenden Fleck schwarzer Seide und eine Bewegung ringsherum, als Männer ihr Platz machten - die Tribüne füllte sich -, aber zuerst setzte er den Blick zu hoch an und verfehlte sie. Ihr Kopf war in Brusthöhe der Männer. Dann sah er sie wieder an Kos Seite, eine winzige, untadelige chinesische Ehefrau, souverän, ältlich, blaß, so gepflegt, daß man sich nicht vorstellen konnte, sie hätte je ein anderes Alter gehabt oder andere Kleidung getragen als dieses schwarzseidene Pariser Modell, verschnürt und brokatbetreßt wie eine Husarenuniform. Frau ist bloß eine Handvoll, hatte Craw gesagt, und, während sie verwirrt vor dem winzigen Projektor gesessen hatten, weiter extemporiert: Klaut in den großen Geschäften. Kos Leute müssen vor ihr hineingehen und versprechen, daß alles bezahlt wird, was sie mitgehen läßt.