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»Lord Samuel«, sagte Grant ebenso energisch wie unrichtig. »Wer ist er?« wandte sich Jerry an Grant, nachdem der rundliche Tiu zu der lärmenden Chinesengruppe zurückgekehrt war. »Kos Majordomo, Manager, Obergepäckträger, Flaschenwäscher, Makler. War von Anfang an bei ihm. Im Krieg sind sie gemeinsam vor den Japanern getürmt.«

»Und sein Obergorilla ist er auch«, dachte Jerry, als er Tiu mit seinem Herrn wieder heranwatscheln sah. Grant fing erneut mit den Vorstellungen an. »Sir«, sagte er, »das ist Westerby, dessen berühmter Vater, der Lord, eine ganze Menge sehr langsamer Pferde, besaß. Er hat außerdem verschiedene Rennplätze für die Buchmacher aufgekauft.«

»Welche Zeitung?« fragte Ko. Seine Stimme war rauh und kräftig und tief, doch Jerry hätte geschworen, zu seiner Überraschung die Spur eines nordenglischen Akzents aufgeschnappt zu haben, der ihn an Old Pets Akzent erinnerte.

Jerry sagte ihm, welche Zeitung.

»Das ist das Blatt mit den Mädels«, krähte Ko vergnügt. »Ich hab das Blatt immer gelesen, wenn ich in London war, während meines Aufenthaltes zwecks Rechtswissenschaften am berühmten Gray's Inn of Court. Wissen Sie, warum ich Ihr Blatt las, Mr. Westerby? Weil nämlich, wenn mehr Zeitungen hübsche Mädels lieber drucken als Politik, haben wir jede Menge begründete Aussicht und erleben noch eine bessere Welt, Mr. Westerby«, erklärte Ko in einer kräftigen Mischung aus falscher Idiomatik und Behörden-Englisch. »Bitte sagen Sie das Ihrer Zeitung von mir, Mr. Westerby. Diesen Rat geb ich Ihnen gratis.« Lachend schlug Jerry sein Notizbuch auf. »Ich habe auf Ihr Pferd gesetzt, Mr. Ko. Wie fühlt man sich als Gewinner?«

»Besser, als wenn man verliert.«

»Nutzt sich das Gefühl nie ab?«

»Mir gefällt es von Mal zu Mal besser.«

»Gilt das auch für Geschäfte?«

»Natürlich.«

»Kann ich mit Mrs. Ko sprechen?«

»Sie ist beschäftigt.«

Während er kritzelte, stieg Jerry ein vertrauter Geruch in die Nase. Moschushaltige, sehr intensiv duftende französische Seife, eine Mischung aus Mandeln und Rosenwasser, Lieblingsseife einer früheren Ehefrau: aber offenbar auch des gelackten Mr. Tiu, um seinen Reiz zu erhöhen.

»Wie lautet Ihre Erfolgsformel, Mr. Ko?«

»Harte Arbeit. Keine Politik. Viel Schlaf.«

»Sind Sie jetzt sehr viel reicher als noch vor zehn Minuten?«

»Ich war vor zehn Minuten auch hübsch reich. Sie können Ihrer Zeitung noch sagen, daß ich den britischen Lebensstil sehr bewundere.«

»Obwohl wir nicht hart arbeiten? Und viel Politik betreiben?«

»Sagen Sie's ihnen«, sagte Ko stracks an ihn gewandt, und das war ein Befehl.

»Wieso haben Sie soviel Glück, Mr. Ko?« Ko schien diese Frage nicht gehört zu haben, doch sein Lächeln erlosch ganz allmählich. Er starrte Jerry geradewegs ins Gesicht, maß ihn mit seinen sehr schmalen Augen, und seine Züge hatten sich beträchtlich verhärtet.

»Wieso haben Sie soviel Glück, Sir?« wiederholte Jerry. Langes Schweigen.

»Kein Kommentar«, sagte Ko, wiederum direkt Jerry ins Gesicht. Die Versuchung, auf der Frage zu beharren, war unwiderstehlich geworden: »Fair play, Mr. Ko«, drängte Jerry und feixte kräftig. »Die Welt ist voll von Menschen, die davon träumen, so reich zu sein wie Sie. Geben Sie ihnen doch einen Tip, ja? Wieso haben Sie soviel Glück?«

»Das geht Sie verdammt gar nichts an«, erklärte Ko, und ohne viel Federlesens wandte er Jerry den Rücken und ging weg. Im gleichen Augenblick tat Tiu lässig einen halben Schritt vorwärts, so daß er Jerry den Weg abschnitt, und legte ihm eine weiche Hand auf den Oberarm.

»Werden Sie das nächstemal auch wieder gewinnen, Mr. Ko?« rief Jerry dem sich entfernenden Rücken über Tius Schulter hinweg nach.

»Das sollten Sie das Pferd fragen, Mr. Wessby«, meinte Tiu mit pausbäckigem Lächeln. Seine Hand lag noch immer auf Jerrys Arm.

Er hätte den Rat ebensogut annehmen können, denn Ko stand bereits wieder bei seinem Freund Mr. Arpego, und sie lachten und schwatzten wie zuvor. Drake Ko war sehr harter Junge, erinnerte sich Jerry. Drake Ko erzählt man kein Märchengeschichte. Tiu ist aber auch nicht ohne, dachte er.

Als sie zur Haupttribüne zurückgingen, lachte Grant lautlos in sich hinein.

»Als Ko das letztemal gewann, wollte er nach dem Rennen nicht einmal das Pferd zum Sattelplatz führen«, entsann er sich. »Hat abgewinkt. Wollte nicht.«

»Warum zum Teufel denn nicht?«

»War nicht darauf gefaßt, daß es gewinnen würde, darum nicht. Hatte es seinen Chiu-Chow-Freunden nicht vorhergesagt - schlecht fürs Gesicht. Vielleicht hat er das auch gefürchtet, als Sie ihn nach seinem Glück fragten.«

»Wieso wurde er zum Steward des Clubs gewählt?«

»Oh, hat durch Tiu die Stimmen kaufen lassen, nehme ich an. Das Übliche. Cheers. Vergessen Sie Ihren Gewinn nicht.«

Dann passierte es: As Westerby zieht eine Erstmeldung an Land.

Das letzte Rennen war vorüber, Jerry hatte viertausend Dollar auf der Habenseite, und Luke war verschwunden. Jerry probierte es im American Club, im Club Lusitano und einigen weiteren, aber man hatte ihn entweder nicht gesehen oder bereits hinausgeworfen. In der Umzäunung war nur ein einziges Tor, also schloß Jerry sich dem Exodus an. Der Verkehr war chaotisch. Rolls-Royces und Mercedes suchten Plätze zum Anhalten, und die Menge schob und drängte von hinten. Jerry beschloß, sich nicht in den Kampf um ein Taxi einzulassen, begann, den schmalen Gehsteig entlangzuwandern und sah zu seiner Überraschung Drake Ko ganz allein aus einem Tor auf der anderen Straßenseite treten, und zum erstenmal, seit Jerry seiner ansichtig geworden war, lächelte er nicht. Als er den Bordstein erreicht hatte, schien er unentschlossen, ob er hinübergehen solle, blieb dann, wo er war und blickte auf den heranbrausenden Verkehr. Er wartet auf den Rolls-Royce Phantom, dachte Jerry und erinnerte sich an den Wagenpark in der Headland Road. Oder auf den Mercedes oder auf den Chrysler. Plötzlich sah Jerry, wie Ko die Baskenmütze vom Kopf riß und wie zum Spaß in den Autostrom hielt, als wollte er das Gewehrfeuer auf sie ziehen. Um Augen und Mund sprangen die Fältchen auf, die Goldzähne funkelten grüßend, und anstatt eines Rolls-Royce oder eines Mercedes oder eines Chryslers hielt ein langer roter Jaguar E mit zurückgeklapptem Faltverdeck kreischend und ohne Rücksicht auf die übrigen Wagen vor ihm an. Jerry hätte ihn beim besten Willen nicht übersehen können. Allein das Geräusch der Reifen ließ alle Köpfe auf dem Gehsteig herumfahren. Seine Augen lasen die Nummer, sein Gedächtnis registrierte sie. Ko kletterte hinein, so aufgeregt wie jemand, der noch nie in seinem Leben in einem offenen Wagen' gefahren war, und er schwatzte und lachte bereits, ehe sie wieder anfuhren. Aber nicht, ehe Jerry gesehen hatte, wer am Steuer saß, ihr flatterndes blaues Kopftuch, die dunkle Brille, das lange blonde Haar und genügend von ihrer Figur, als sie sich über Ko beugte, um die Tür auf seiner Seite zu schließen, zeigten ihm, daß sie ein Prachtstück von Frau war. Drakes Hand ruhte auf ihrem nackten Rücken, die Finger waren gespreizt, die freie Hand fuchtelte herum, während er ihr zweifellos eine Zug-um-Zug-Schilderung seines Sieges gab, und als sie gemeinsam abfuhren, pflanzte er ihr einen sehr unchinesischen Kuß auf die Wange, und dann, als Zugabe, noch zwei, und zwar mit weit mehr Überzeugung, als er für das Küssen von Mr. Arpegos Begleiterin aufgebracht hatte.

Jenseits der Fahrbahn war der Eingang, aus dem Ko soeben herausgekommen war, und das Eisentor stand noch offen. In Jerrys Hirn rasten die Gedanken, er duckte sich und rannte durch den Verkehrsstrom. Er gelangte in den alten Friedhof der Kolonie, eine üppige Anlage, blumenduftend und von gewaltigen überhängenden Bäumen beschattet. Jerry war noch nie hier gewesen und betrat diese Abgeschlossenheit voll Scheu. Der Friedhof war an einem Hügelrund um eine alte Kapelle angelegt, die still und unbenutzt verfiel. Die sprüngigen Mauern schimmerten im fleckigen Abendlicht. Daneben lag ein umzäunter Zwinger, aus dem ihn ein abgemagerter Schäferhund wütend anheulte. Jerry blickte sich um, er wußte nicht recht, warum er hier war und was er hier suchte. Die Gräber gehörten verschiedenen Epochen, Rassen und Sekten an.. Es gab weißrussische Gräber, deren orthodoxe Grabsteine reich gemeißelt waren und von zaristischer Grandeur zeugten. Jerry stellte sich dicken Schnee darüber vor, der gerade noch ihre Form erkennen ließ. Ein anderer Stein beschrieb die ruhelose Pilgerschaft einer russischen Fürstin, und Jerry blieb stehen und las: von Tallin nach Peking, mit Daten, von Peking nach Schanghai, wieder die Daten, nach Hongkong neunundvierzig, um hierzu sterben. »Und Güter in Swerdlowsk«, schloß die Inschrift trotzig. War Schanghai die Verbindung? Er gesellte sich wieder zu den Lebenden: drei alte Männer in Pyjamas saßen schweigend auf einer Bank im Schatten. Sie hatten ihre Vogelkäfige über sich in die Zweige gehängt, nahe genug, daß sie einander über das Lärmen des Verkehrs und der Zikaden singen hören konnten. Zwei Totengräber mit Stahlhelmen schütteten ein frisches Grab zu. Keine Trauergäste standen dabei. Als er an den Stufen der Kapelle anlangte, wußte er noch immer nicht, was er eigentlich wollte. Er lugte durch die Tür. Drinnen war es nach der Sonnenhelle stockdunkel. Eine alte Frau starrte ihn an. Er zog sich zurück. Der Schäferhund heulte noch lauter. Er war sehr jung. Ein Hinweisschild besagte »Friedhofswärter«. Jerry folgte ihm. Das Schrillen der Zikaden war ohrenbetäubend, es übertönte sogar das Hundegebell. Der Blumenduft war feucht und ein bißchen modrig. Jerry war eine Idee gekommen., fast eine Ahnung. Er war entschlossen, ihr zu folgen. Der Friedhofswärter war ein freundlicher zurückhaltender Mann und sprach nicht englisch. Die Totenbücher waren sehr alt, die Eintragungen glichen denen in alten Kontobüchern. Jerry setzte sich an einen Holztisch und wandte langsam die schweren Seiten um, las die Namen und Geburtstage, die Daten des Todes und der Beerdigung; zuletzt die Lage der Gräber: die Sektion und die Nummer. Nachdem er gefunden hatte, was er suchte, trat er wieder hinaus ins Freie und schritt nun einen anderen Pfad entlang, durch eine Wolke von Schmetterlingen hügelan nach den Klippen zu. Von einem Steg aus beobachtete ihn eine Gruppe kichernder Schulmädchen. Er zog die Jacke aus und hängte sie über die Achsel. Er ging zwischen hohem Gestrüpp hindurch und betrat eine abschüssige Wildnis gelber Gräser, wo die Grabsteine sehr klein waren, die Hügel nur einen oder zwei Fuß lang. Während er sich zwischen ihnen durchschlängelte, las er die Nummern, bis er vor einem niedrigen Eisengitter stand, das die Nummer sieben zwei acht trug. Es umfriedete ein rechteckiges Areal, und als Jerry den Blick hob, sah er die Statue eines kleinen Jungen vor sich, in viktorianischen Kniehosen und einem Eton-Jackett, in Lebensgröße, mit zerzausten steinernen Locken und knospenden steinernen Lippen, aus einem aufgeschlagenen steinernen Buch lesend oder absingend, während lebendige Schmetterlinge wie trunken um seinen Kopf flatterten. Der Junge war ein durch und durch englisches Kind, und die Inschrift lautete Nelson Ko in liebendem Angedenken. Eine Menge Zahlen folgten, und Jerry brauchte eine Weile, ehe er ihre Bedeutung begriff: zehn aufeinanderfolgende Jahre, keines ausgelassen, und das letzte war 1968. Dann war ihm klar, daß dies die zehn Lebensjahre des Jungen waren, deren jedes einzeln gewürdigt werden sollte. Auf der untersten Stufe des Sockels lag ein großer Orchideenstrauß, noch im Papier.