»Stimmt«, sagte Smiley.
Stimmt zu verdammt genau, dachte Guillam und fing an, sich ernsthaft zu beunruhigen.
»Mr. Smiley, wenn das betreffende Aufklärungsmaterial für die Russen entsprechend wertvoll wäre, glauben Sie, daß sie sich bereit finden würden, ihre Vorbehalte über Bord zu werfen und einen solchen Preis zu zahlen? Schließlich ist, absolut gesprochen, das Geld an und für sich unerheblich, verglichen mit dem Wert eines großen Informationsvorsprungs.«
Smiley hatte einfach aufgehört zu sprechen. Er drückte sich auch nicht durch bestimmte Gebärden aus. Er blieb höflich, rang sich sogar ein kleines Lächeln ab, aber er hatte eindeutig genug von Mutmaßungen. Enderby mußte mit seinem blasierten Näseln einspringen, um die Frage wegzuwischen. »Kinder, wenn wir nicht aufpassen, vertun wir den ganzen Tag mit Theoretisieren«, rief er mit einem Blick auf die Uhr. »Chris, wie ist das, lassen wir die Amerikaner mitspielen? Wenn wir dem Gouverneur nicht Mitteilung machen, wie steht's dann mit einer Mitteilung an unsere tapferen Alliierten?« Der Gong hat George gerettet, dachte Guillam. Bei der Erwähnung der Vettern legte Colo Wilbraham los wie ein gereizter Stier. Guillam vermutete, daß er diese Frage hatte kommen sehen und entschlossen war, sie abzuschießen, sobald sie nur den Kopf herausstreckte.
»Veto, bedaure«, schnappte er ohne eine Spur seiner sonstigen Anlauffrist. »Absolut. Jede Menge Gründe. Erstens Abgrenzung. Hongkong ist unser Revier. Die Amerikaner haben dort keine Fangrechte. Gar nichts. Zweitens ist Ko britischer Untertan und hat einigen Anspruch auf unseren Schutz. Ist vermutlich altmodisch von mir. Mir aber egal, offen gesagt. Die Amerikaner würden sofort loslegen. War schon mal da. Gott weiß, wo es enden würde. Drittens: kleiner Protokollpunkt.« Er meinte es ironisch. Er appellierte an den Instinkt eines Ex-Botschafters und versuchte, dessen Sympathie zu gewinnen. »Nur ein kleiner Punkt, Enderby. Die Amerikaner in Kenntnis setzen und den Gouverneur nicht - also, wenn ich der Gouverneur wäre und in diese Lage käme, ich würde meinen Hut nehmen. Mehr kann ich nicht sagen. Das würden Sie auch tun. Ich weiß es. Sie würden es tun. Ich auch.«
»Vorausgesetzt, daß Sie dahinterkämen«, korrigierte ihn Enderby.
»Keine Sorge. Ich würde dahinterkommen. Erstens würden sie, zehn Mann hoch, im ganzen Haus mit Mikrophonen herumkrauchen. Haben es schon ein paarmal in Afrika getan, wo wir sie reinließen. Katastrophe. Komplett.« Er warf die, gekreuzten Unterarme auf den Tisch und starrte wütend auf sie nieder. Ein heftiges Tuckern wie von einem Außenbordmotor meldete eine Panne in einem der elektronischen Abschirmgeräte, stockte, erholte sich wieder und surrte im Senkrechtstart außer Hörbereich.
»Müßte ein mutiger Mann sein, der's hinter Ihrem Rücken wagen würde«, murmelte Enderby mit breitem bewunderndem Grinsen in das gespannte Schweigen. »Richtig«, bellte Lacon aus heiterem Himmel. Sie wissen es, dachte Guillam nur. George hat sie geködert. Sie wissen, daß er mit Martello einen Handel geschlossen hat, und sie wissen, daß er es nicht sagen wird, weil er entschlossen ist, sich tot zu stellen. Aber Guillam sah an jenem Tag nichts klar. Während Schatzamt und Verteidigung vorsichtig in dem offenbar logischen Argument übereinstimmten - »Haltet die Amerikaner hier raus« -, schien Smiley seltsamerweise gar keine Neigung zu verspüren, diese Frage anzutippen.
»Aber es bleibt nach wie vor das Problem, was mit dem Rohmaterial geschehen soll«, sagte er. »Ich meine, falls Sie beschließen sollten, daß meine Dienststelle die Sache nicht weiter verfolgen darf«, fügte er, zur allgemeinen Verwirrung, nachdenklich hinzu.
Guillam war erleichtert, auch Enderby völlig verblüfft zu sehen. »Soll 'n das heißen?« fragte Enderby und schloß sich damit kürz der übrigen Meute an.
»Ko hat finanzielle Interessen in ganz Südostasien«, erinnerte Smiley sie. »Seite eins meiner Eingabe.« Geschäftigkeit, Geblätter. »Wie uns zum Beispiel bekannt ist, besitzt er auf dem Umweg über Mittelsleute und Strohmänner alles mögliche, zum Beispiel eine Nachtclubkette in Saigon, eine Fluggesellschaft mit Sitz in Vientiane, eine Tankerflotte in Thailand. Es wäre durchaus vorstellbar, daß einige dieser Unternehmen politische Obertöne hätten, die tief in die amerikanische Einflußsphäre hineinreichen. Ich würde natürlich Ihre schriftliche Anweisung in Händen haben müssen, wenn ich unsere Seite der bestehenden bilateralen Abkommen außer acht lassen sollte.«
»Sprechen Sie weiter«, befahl Enderby und fischte aus der vor ihm liegenden Schachtel ein frisches Zündholz. »Oh, ich glaube, ich habe alles gesagt, vielen Dank«, sagte Smiley höflich. »Die Sache ist in der Tat höchst einfach. Angenommen, wir machen nicht weiter, was, wie Lacon mir sagte, das Resultat der heutigen Sitzung sein dürfte, was habe ich dann zu tun? Das Material auf den Müll werfen? Oder es im Rahmen der bestehenden Austauschabmachung an unsere Alliierten weitergeben?«
»Alliierte«, rief Wilbraham erbittert. »Alliierte? Sie setzen uns die Pistole auf die Brust, Mann!«
Smileys eiserne Erwiderung war nach seiner bisherigen Lethargie um so bestürzender.
»Ich habe von diesem Ausschuß strikte Anweisung erhalten, unsere Verbindung mit den Amerikanern zu reparieren. In dem Vertrag, der mir von Ihnen ausgestellt wurde, heißt es wörtlich, daß ich alles nur Mögliche zu tun hätte, um diese besondere Beziehung zu pflegen und den Geist gegenseitigen Vertrauens wiederzuerwecken, der vor - vor Haydon existierte. >Um uns wieder an den Führungstisch zurückzubringen<, sagten Sie . . . « Er blickte Enderby direkt an.
»Führungstisch«, echote jemand - eine ganz neue Stimme. »Opferaltar, wenn Sie mich fragen. Wir haben bereits den Nahen Osten und halb Afrika darauf verbrannt. Alles der besonderen Beziehung zuliebe.«
Aber Smiley schien nicht zu hören. Er war erneut in die Haltung bekümmerter Widerborstigkeit zurückgefallen. Manchmal, so sagte seine traurige Miene, waren die Bürden seines Amts einfach zu schwer für ihn.
Ein neuerlicher Anfall von Nachtisch-Grämlichkeit setzte ein. Jemand beklagte sich über den Tabaksqualm. Ein Bote wurde herbeizitiert.
»Was - zum Teufel ist mit der Entlüftung los?« fragte Enderby mürrisch. »Wir ersticken.«
»Die Ersatzteile«, sagte der Bote. »Wir haben sie schon vor Monaten bestellt, Sir. Vor Weihnachten war das, Sir, also fast ein Jahr her. Trotzdem, gegen solche Verzögerungen kann man nichts machen, stimmt doch, Sir?«
»Herrje«, sagte Enderby.
Es wurde Tee bestellt. Er kam in Pappbechern an, die auf den Tischbelag leckten. Guillam ließ seine Gedanken zu Molly Meakins unvergleichlicher Figur schweifen. Es war fast vier Uhr, als Lacon sich herbeiließ, die Spitze der Armeen zu übernehmen, und Smiley aufforderte, er möge jetzt »genau sagen, was Sie, praktisch gesehen, von uns haben wollen, George, raus damit auf den Tisch des Hauses, und dann wollen wir versuchen, eine Antwort auszuhecken«.
Freudenbezeigung wäre tödlich gewesen. Smiley schien das zu begreifen.
»Erstens, wir benötigen Rechte und Genehmigung, um auf dem Südostasien-Schauplatz zu operieren - inoffiziell, so daß der Gouverneur seine Hände in Unschuld waschen kann« - ein Blick hinüber zum Unterstaatssekretär - »und unsere Herren hier ebenfalls; zweitens, um gewisse Recherchen im Inland durchzuführen.«
Köpfe fuhren in die Höhe. Das Innenministerium wurde plötzlich unruhig. Warum? Wer? Wie? Welche Recherchen? Wenn es sich um das Inland handle, müsse die Konkurrenz damit befaßt werden. Pretorius vom Staatssicherheitsdienst befand sich bereits in Gärung.