»Was zum Teufel ist denn los? Warum blöken Sie denn so?«
»Sie haben ein Mädchen gefunden. Miss Sachs, Sir, sie schickt mich, damit ich es ihm eigens sage.« Seine Augen glänzten hell und ein bißchen irre. »>Sagen Sie dem Chef, das Mädchen ist gefunden<. Ihre eigenen Worte, persönlich an den Chef.«
»Wollen Sie sagen, daß Miß Sachs Sie hierhergeschickt hat?«
»Persönlich für den Chef, unverzüglich«, erwiderte Fawn ausweichend.
»Ich frage: >Hat sie Sie hierhergeschickt?<« Guillam kochte. »Antwort: >Nein, Sir, das hat sie nicht.< Sie verdammte Schmierentante, in Turnlatschen durch ganz London rennen! Total übergeschnappt.« Er entriß Fawn den zerknüllten Zettel und las ihn flüchtig. »Es ist nicht mal der gleiche Name. Verdammter hysterischer Blödsinn. Marsch zurück in Ihren Stall, verstanden? Der Chef wird sich um die Sache kümmern, sobald er zurück ist. Und Schluß mit dem Wirbelmachen, ein für allemal!«
»Wer war denn das?« erkundigte sich Martindale ganz atemlos vor Aufregung, als Guillam wieder bei ihm war. »Was für ein entzückendes Geschöpfchen! Sind alle Spione so niedlich? Nein, wie venezianisch. Ich werde mich sofort freiwillig melden.«
Noch am gleichen Abend wurde in der Rumpelkammer eine improvisierte Besprechung abgehalten, und die Euphorie - in Connies Fall alkoholischer Natur -, ausgelöst durch Smileys Triumph bei der Ausschußsitzung, trug noch zu ihrem ungewöhnlichen Charakter bei. Nach den Zwängen und Spannungen der letzten Monate war Connie nun außer Rand und Band. Das Mädchen! Das Mädchen war der Schlüssel! Connie hatte ihre sämtlichen intellektuellen Hemmungen abgeworfen. Schickt Toby Esterhase nach Hongkong, stellt sie, fotografiert sie, beschattet sie, durchsucht ihr Zimmer! Zieht sofort Sam Collins hinzu! di Salis zappelte, kicherte albern, suckelte an seiner Pfeife und schlenkerte mit den Füßen, war jedoch an diesem Abend völlig in Connies Bann. Einmal sprach er sogar von »einem natürlichen Zugang zum Herzen der Dinge« - womit er wiederum das geheimnisvolle Mädchen meinte. Kein Wunder, daß der kleine Fawn von ihrem Eifer angesteckt worden war. Guillam schämte sich fast wegen seines Ausbruchs im Park. Tatsächlich wäre an jenem Abend, wenn Smiley und Guillam nicht gebremst hätten, eine kollektive Wahnsinnstat möglich gewesen, und Gott weiß, wohin sie geführt hätte. In der Geheimwelt gibt es eine Fülle von Beispielen dafür, daß vernünftige Leute plötzlich aushaken. Guillam erlebte diese Krankheit hier zum erstenmal aus erster Hand.
Es wurde zehn Uhr oder noch später, bis eine kurze Instruktion für Craw verfaßt war, und halb elf, als Guillam völlig benommen auf dem Weg zum Lift mit Molly Meakin zusammenstieß. Als Folge dieses glücklichen Zufalls - oder hatte Molly das Zusammentreffen geplant?, er sollte es nie erfahren - erstrahlte in Guillams Leben ein Leuchtfeuer, das von Stund an nie mehr erlöschen sollte. Milde wie immer willigte Molly ein, von ihm nach Hause gefahren zu werden, obwohl sie in Highgate wohnte, ein meilenweiter Umweg, und als sie vor der Tür standen, lud sie ihn wie üblich noch rasch zu einem Täßchen Kaffee ein. In Voraussicht der vertrauten Abfuhr - »Nein-Peter-bitte-Peter-Lieber-tut-mir-leid« - war Guillam schon drauf und dran, dankend abzulehnen, als irgend etwas in ihrem Blick - eine gewisse ruhige Entschlossenheit, wie ihm schien - ihn zu einem Sinneswandel bewog. In der Wohnung schloß Molly hinter ihnen die Tür ab und legte die Kette vor. Dann führte sie Guillam mit niedergeschlagenen Augen in ihr Schlafzimmer, wo sie ihn mit einer fröhlichen und gepflegten Sinnlichkeit in Erstaunen versetzte.
Craws kleines Schiff
In Hongkong, achtundvierzig Stunden später. Sonntag abend. Craw schritt wachsam durch das schmale Gäßchen. Mit der frühen Dämmerung war der Nebel eingefallen, aber die Häuser standen zu nah aneinandergepfercht, um ihn einzulassen, und er hing vor den oberen Stockwerken mit der Wäsche und den Leitungskabeln und spuckte heiße verschmutzte Regentropfen, die Orangendüfte von den Obstständen aufsteigen ließen und auf der Krempe von Craws Strohhut tickten. Hier war er in China, auf Meereshöhe, in dem China, das er am meisten liebte, und China erwachte zum Festival der Nacht: singend, hupend, klagend, gongschlagend, feilschend, kochend, zwanzig verschiedenen Instrumenten ein Aufgebot blecherner Klänge entlockend: oder regungslos aus Türnischen beobachtend, wie vorsichtig sich der bizarr aufgeputzte fremde Teufel seinen Weg durch dieses China bahnte. Craw liebte das alles, aber seine zärtlichste Liebe galt seinen kleinen Schiffen, wie die Chinesen ihre geheimen Zwischenträger nennen, und von diesen wiederum war Miss Phoebe Wayfarer, zu der er nun unterwegs war, ein klassisches, wenn auch bescheidenes Exemplar.
Er atmete tief ein, genoß die vertrauten Wonnen. Der Ferne Osten hatte ihn nie enttäuscht: »Wir kolonisieren sie, Ehrwürdens, wir korrumpieren sie, wie beuten sie aus, wir bombardieren sie, plündern ihre Städte, verachten ihre Kultur und verwirren sie mit der unendlichen Vielfalt unserer religiösen Sekten. Wir sind scheußlich, nicht nur für ihre Augen, Monsignores, sondern auch für ihre Nasen - der Gestank des Rundauges ist ihnen ein Greuel, und wir sind zu dickfellig, um es zu bemerken. Und doch, wenn wir unser Schlimmstes getan haben, und mehr als unser Schlimmstes, geliebte Söhne, so haben wir das asiatische Lächeln kaum ein kleines bißchen angekratzt.«
Andere Rundaugen wären vielleicht nicht so ohne weiteres allein hierhergekommen. Die Peak-Mafia hätte nicht einmal gewußt, daß es diese Gegend gab. Die britischen Ehefrauen, die in ihren regierungseigenen Gettos in Happy Valley verschanzt lebten, hätten hier all das gefunden, was ihnen ihre Stationierung so verhaßt machte. Es war kein schlechter Stadtteil, aber er war auch nicht europäisch: das Europa der Central und Peddar Street, der elektrischen Türen, die den Seufzer mitliefern, wenn sie den Zugang zur klimatisierten Zone freigeben, war eine halbe Meile entfernt. Andere Rundaugen hätten in ihrer Ängstlichkeit vielleicht unwillkürlich deutliche Blicke um sich geworfen, und das war gefährlich. In Schanghai hatte Craw mehr als einen Mann gekannt, der an einem zufälligen falschen Blick starb. Während Craws Blick allezeit freundlich war. Er gab sich gefällig, trat bescheiden auf, und wenn er halt machte, um etwas einzukaufen, entbot er dem Händler respektvolle Grüße in schlechtem, derbem Kantonesisch. Und er bezahlte, ohne über den Aufschlag zu nörgeln, wie es seiner inferioren Rasse zukam. Er kaufte wie jeden Sonntag Orchideen und Lammleber, verteilte seine Käufergunst gerecht unter den rivalisierenden Händlern und verfiel - wenn ihm das Kantonesische ausging - in sein verschnörkeltes Privatenglisch.
Er drückte auf die Klingel. Phoebe hatte, wie Craw auch, eine Sprechanlage. Laut Anweisung des Head Office gehörte das zur Standardausrüstung. Sie hatte einen Strauß glückbringendes Heidekraut in ihren Briefkasten gestopft, als Signal, daß die Luft rein war.
»Hei«, quäkte eine Mädchenstimme aus dem Lautsprecher. Es konnte Amerikanisch oder Kantonesisch sein, dann folgte ein fragendes »Ja?«
»Larry nennt mich Pete«, sagte Craw. »Kommen Sie rauf, Larry ist gerade hier.« Das Treppenhaus war stockdunkel und stank nach Erbrochenem, und Craws Absätze klapperten auf den Steinstufen wie auf Blech. Er drückte auf den Knopf der Treppenhausbeleuchtung, aber es blieb dunkel, und er mußte sich drei Stockwerke hinauftasten. Es waren Bestrebungen im Gang gewesen, sie besser unterzubringen, aber mit Thesingers Verschwinden waren sie gestorben, und jetzt gab es keine Hoffnung mehr, und, in gewisser Hinsicht, auch keine Phoebe.