»Bill«, flüsterte sie, als sie die Tür hinter ihm schloß, und küßte ihn auf beide fleckige Wangen, wie hübsche Mädchen einen netten Onkel küssen mögen nur daß Phoebe nicht hübsch war. Craw gab ihr die Orchideen. Sein Benehmen war liebenswürdig und besorgt.
»Meine Liebe«, sagte er. »Meine Liebe.«
Sie zitterte. Das Apartment bestand aus einem Wohnschlafzimmer mit Kocher und Ausguß, dazu einem Waschraum mit Dusche. Das war alles. Er ging an ihr vorbei zum Ausguß, wickelte die Leber aus und gab sie der Katze.
»Oh, Sie verwöhnen sie, Bill«, sagte Phoebe und lächelte die Blumen an. Er hatte einen braunen Umschlag auf das Bett gelegt, aber keiner von beiden erwähnte ihn.
»Wie geht's William?«, fragte sie und flirtete mit dem Klang seines Namens.
Craw hatte Hut und Stock an die Tür gehängt und goß jetzt Whisky ein: pur für Phoebe, mit Soda für ihn. »Wie geht's Pheeb? Das ist viel wichtiger. Wie ging's hier draußen, die ganze kalte Woche lang? He, Pheeb?« Sie hatte das Bett zerwühlt und ein frivoles Nachthemd auf den Boden geworfen. Für den ganzen Wohnblock war Phoebe das Halbblut, das mit dem fetten fremden Teufel schlief. Über den zerdrückten Kissen hing ein Bild der Schweizer Alpen, ein Bild, das anscheinend jedes Chinesenmädchen besaß, und auf der Truhe neben dem Bett thronte die Fotografie ihres englischen Vaters, das einzige Bild, das sie jemals von ihm gesehen hatte: ein Handlungsgehilfe aus Dorking in Surrey, kurz nach seiner Ankunft auf der Inseclass="underline" runder Kragen, Schnurrbart und starre, fast irre Augen. Craw fragte sich zuweilen, ob das Foto entstand, nachdem sie ihn erschossen hatten.
»Jetzt ist alles in Ordnung«, sagte Phoebe. »jetzt geht es mir gut, Bill.«
Sie stand neben ihm, goß Wasser in die Vase, wobei ihre Hände stark zitterten, wie gewöhnlich an Sonntagen. Sie trug Peking zu Ehren eine graue Tunika und das goldene Halskettchen, das sie zum Andenken an ihr erstes Dienstjahrzehnt yom Circus bekommen hatte. In einer lächerlichen Anwandlung von Ritterlichkeit hatte das Head Office beschlossen, es bei Asprey anfertigen und im Diplomatengepäck befördern zu lassen, zusammen mit einem persönlichen Brief an sie, unterzeichnet von Percy Alleline, George Smileys glücklosem Vorgänger. Den Brief hatte sie lesen, aber nicht behalten dürfen.
Nachdem sie die Vase gefüllt hatte, wollte sie sie mm Tisch balancieren, aber das Wasser schwappte über, und Craw nahm sie ihr ab:
»Hoppla. Immer mit der Ruhe.«
Eine Weile blieb sie stehen und lächelte ihn an, dann sank sie mit einem gedehnten, erlösenden Schluchzen auf einen Stuhl. Manchmal weinte sie, manchmal nieste sie oder benahm sich zu laut oder redete zu viel, aber immer hob sie ihre Gefühlsausbrüche für Craw auf.
»Bill, manchmal bekomme ich solche Angst.«
»Ich weiß, Liebes, ich weiß.« Er setzte sich neben sie und hielt ihre Hand.
»Dieser neue Junge im Feuilleton. Er starrt mich an, Bill, er beobachtet alles, was ich tue. Ich bin sicher, er arbeitet für jemanden. Bill, für wen arbeitet er?«
»Vielleicht ist er ein bißchen verliebt?« sagte Craw im sanftesten Ton, während er rhythmisch ihre Schulter tätschelte. »Sie sind eine attraktive Frau, Phoebe. Vergessen Sie das nicht, meine Liebe. Sie können faszinieren, ohne es selbst zu wissen.« Er heuchelte väterliche Strenge: »Haben Sie vielleicht mit ihm geflirtet? Auch so eine Sache. Eine Frau wie Sie kann flirten, ohne sich dessen bewußt zu sein. Ein Weltmann erkennt das. Er hat es schnell herausgefunden.«
Vergangene Woche war es der Pförtner im Erdgeschoß gewesen. Sie sagte, er notiere sich alles, wann sie komme und gehe. Letzte Woche fiel ihr ein Auto immer wieder auf, ein grüner Opel. Er mußte darauf bedacht sein, ihre Ängste auszuräumen, ohne daß ihre Wachsamkeit dadurch nachließe; denn - das durfte Craw nie vergessen - irgendwann würde sie recht haben. Sie förderte ein Bündel handgeschriebener Notizen vom Bett her zutage und begann mit ihrer Berichterstattung so übergangslos, daß Craw sich überrannt fühlte. Sie hatte ein blasses längliches Gesicht, das bei keiner Rasse als schön gegolten hätte. Ihr Oberkörper war lang, die Beine waren zu kurz und die Hände angelsächsisch-häßlich und kräftig. Als sie so auf der Bettkante saß, wirkte sie plötzlich matronenhaft. Zum Lesen hatte sie eine dicke Brille aufgesetzt. Kanton schicke am Dienstag einen Studentensprecher zum Führungskader, sagte sie, daher sei die Donnerstagsversammlung ausgefallen, und Ellen Tuo habe wieder einmal ihre Chance verpaßt, für einen Abend Schriftführerin zu sein. »Nun mal langsam«, rief Craw lachend. »Es brennt doch nicht, um Himmels willen!«
Er öffnete ein Notizbuch, legte es auf seine Knie und versuchte ihr zu folgen. Aber Phoebe war nicht zu bremsen, auch nicht von Bill Craw, von dem man ihr gesagt hatte, er sei in Wirklichkeit Oberst oder sogar ein noch höheres Tier. Sie wollte die ganze Beichte hinter sich bringen. Zu ihren Routineobjekten gehörte eine linksintellektuelle Gruppe von Universitätsstudenten und kommunistischen Journalisten, die Phoebe ein wenig am Rande geduldet hatten. Sie erstattete allwöchentlich Bericht, allerdings ohne nennenswerten Fortschritt. Jetzt war die Gruppe aus irgendeinem Grund jäh aktiv geworden. Billy Chan sei zu einer Sondersitzung nach Kuala Lumpur berufen worden, sagte sie, Johnny und Belinda Fong hätten Order erhalten, einen gut getarnten Unterschlupf ausfindig zu machen, in dem sich eine Druckpresse aufstellen läßt. Schnell rückte der Abend näher. Während Phoebe weiterlas, stand Craw leise auf und knipste die Lampen an, damit das grelle Licht sie nicht erschrecke, wenn der Tag vollends verdämmert sein würde.
Es sei die Rede von einem Zusammengehen mit den Fukienesen in North Point gewesen, sagte sie, aber die akademischen Genossen hätten wie üblich dagegen opponiert: »Sie opponieren gegen alles«, sagte Phoebe erbittert, »diese Snobs. Und überhaupt ist dieses dumme Stück Belinda mit ihren Beiträgen Monate im Rückstand; und wir sollten sie aus der Partei ausschließen, wenn sie nicht mit dem Glücksspiel aufhört.«
»Wäre nur recht und billig, meine Liebe«, sagte Craw beschwichtigend.
»Johnny Fong sagt, Belinda sei schwanger, aber nicht von ihm. Also ich hoffe, es stimmt. Dann wird sie die Klappe halten«, sagte Phoebe, und Craw dachte: dieses Problem hatten wir ein paarmal auch mit dir, wenn ich mich recht erinnere, aber du hast deshalb nicht die Klappe gehalten, oder?
Craw schrieb brav mit, obwohl er wußte, daß weder London noch irgend jemand sonst je ein Wort davon lesen würde. In den Tagen seines Wohlstands hatte der Circus Dutzende solcher Gruppen infiltrieren lassen, in der Hoffnung, beizeiten in den Kreis der idiotischerweise so genannten Peking-Hongkong-Pendler einzubrechen, und auf diese Weise auf dem Festland Fuß zu fassen. Die Sache verlief im Sand, und der Circus hatte keinen Auftrag, für die Sicherheit der Kolonie den Wachhund zu spielen; eine Rolle, die Special Branch sich eifersüchtig vorbehielt. Aber kleine Schiffe können nicht so leicht ihren Kurs ändern wie die Winde, die sie treiben, das wußte Craw sehr gut. Er ließ sie also weitermachen, warf die entsprechenden Fragen auf, prüfte Haupt- und Nebenquellen. Haben Sie das vom Hörensagen, Pheeb? Und woher hatte Billy Lee die Geschichte? War es möglich, daß Billy Lee, um sich mehr Gesicht zu geben, die ganze Story ein bißchen aufgezappelt hatte? Er bediente sich des Journalistenausdrucks, denn wie Jerry und Craw selber, war Phoebe nebenberuflich Journalistin, freie Mitarbeiterin, die die englischsprachigen Lokalblätter mit kleinen Leckerbissen über die Lebensgewohnheiten der örtlichen chinesischen Aristokratie belieferte.
Während er zuhörte, während er aufs Stichwort wartete, erzählte sich Craw im Geiste nochmals Phoebes Geschichte, so, wie er sie bei der Reserveübung in Sarratt vor fünf Jahren erzählt hatte, als er dort in den schwarzen Künsten den letzten Schliff erhielt. Er war der Höhepunkt des vierzehntätigen Kurses, hatten sie ihm später gesagt. Man hatte in weiser Voraussicht eine Plenarsitzung anberaumt. Sogar der Führungsstab hatte die Arbeit ruhen lassen und war erschienen, um ihm zuzuhören. Die Dienstfreien hatten um einen Sonderbus gebeten, der sie rechtzeitig vom Anwesen in Watford herbringen könnte, und das alles nur, um Old Craw zu hören, den alten Fernostfachmann, der in der zweckentfremdeten Bibliothek unter den Hirschgeweihen saß und über sein langes Leben in der Branche resümierte. Titeclass="underline" Agenten, die sich selbst anwerben. Das Rednerpult auf dem Podium benutzte er nicht, statt dessen hockte er auf einem simplen Stuhl, ohne Jacke, mit hervorquellendem Bauch, gespreizten Knien und dunklen Schweißflecken auf dem Hemd, und er erzählte es ihnen, wie er es den Shanghai Bowlers an einem Taifun-Sonnabend in Hongkong erzählt hätte, wenn die Umstände danach gewesen wären. Agenten, die sich selbst anwerben, Ehrwürdens. Niemand kenne den Job besser, sagten sie zu ihm - und er glaubte es ihnen. Wenn der Ferne Osten Craws Heim war, dann waren die kleinen Schiffe seine Familie, und er verschwendete an sie alle Zärtlichkeit, für die ihm die offene Welt niemals ein Ventil geboten hatte. Er zog sie groß und unterwies sie mit einer Liebe, die einem Vater alle Ehre gemacht hätte; und es war der schlimmste Augenblick im Leben eines alten Mannes, als Tufty Thesinger bei Nacht und Nebel ohne Vorwarnung verschwand und Craws Leben zeitweise jeden Sinn verloren zu haben schien. »Manche Menschen sind geborene Agenten, Monsignores«, sagte er zu ihnen, »zu dieser Arbeit bestimmt vom Lauf der Geschichte, vom Standort, von ihren natürlichen Veranlagungen. In derlei Fällen besteht nur die Frage, wer zuerst an sie herankommt, Eminenzen: Ob wir's sind; ob's die Konkurrenz ist, oder ob's diese gottverdammten Missionare sind.«