Es verging nochmals eine halbe Stunde, ehe sich der alte Australier müde aufrappelte und dem Rocker ein langes Leben und zehntausendfaches Glück wünschte.
»Und halten Sie Ihren Arsch fleißig gen Sonnenuntergang«, knurrte der Rocker.
Craw ging in dieser Nacht nicht nach Hause. Er hatte Freunde, einen Anwalt aus Yale und dessen Frau, denen eines der zweihundert alten Privathäuser Hongkongs gehörte, ein älteres unregelmäßig angelegtes Bauwerk am Pollock's Path hoch droben auf dem Peak, und sie hatten ihm einen Schlüssel gegeben. Ein Konsulatswagen stand in der Auffahrt, aber Craws Freunde waren bekannt dafür, daß sie sich gern in Diplomatenkreisen bewegten. Als Craw sein Zimmer betrat, schien er keineswegs überrascht, dort einen höflichen jungen Amerikaner vorzufinden, der im Korbsessel saß und einen dickleibigen Roman las: ein blonder adretter Junge mit einem korrekten Anzug im Diplomatenstil. Craw begrüßte ihn nicht, nahm auch sonst keinerlei Notiz von der Anwesenheit seines Besuchers, sondern setzte sich an den Schreibtisch mit Glasplatte und fing an, nach bester Tradition seines päpstlichen Mentors Smiley, eine Botschaft in Blockschrift zu verfassen, an Seine Heiligkeit persönlich, Ketzer Hände weg. Danach schrieb er auf ein zweites Blatt den dazugehörigen Schlüssel. Als er fertig war, übergab er beides dem Jungen, der die Blätter ehrfürchtig in die Tasche steckte und rasch und wortlos verschwand. Als er wieder allein war, wartete Craw, bis er die Limousine wegschnurren hörte, dann erst öffnete und las er die Mitteilung, die der Junge ihm hinterlassen hatte. Anschließend verbrannte er den Zettel und spülte die Asche ins Waschbecken, ehe er sich dankbar auf dem Bett ausstreckte. Der Tag war hart, aber ich kann sie doch noch überraschen, dachte er. Er war müde. Mein Gott, war er müde. Er sah die dicht gedrängten Gesichter der Sarratt-Kinder vor sich. Aber wir kommen weiter, Ehrwürdens. Wir kommen unaufhaltsam weiter. Wenn auch im Blindenschritt, tapp-tapp im Dunkeln. Zeit, daß ich ein bißchen Opium rauche, dachte er. Zeit, daß ich ein nettes kleines Mädel zum Aufheitern hätte. Mein Gott, war er müde.
Smiley war vielleicht genauso müde, aber Craws Botschaft, die er eine Stunde später in Händen hielt, machte ihn bemerkenswert munter: um so mehr, als die Akte über Miss Cale, Sally, letzte bekannte Adresse Hongkong, Kunstfälscherin, Goldschieberin und gelegentlich Heroinhändlerin, sich ausnahmsweise lebendig und gesund und wohlbehalten in den Archiven des Circus fand. Nicht nur das. Der Deckname, den Sam Collins in seiner Eigenschaft als unterirdischer Resident des Circus in Vientiane getragen hatte, flammte ihm daraus entgegen, wie das Fanal eines lang ersehnten Sieges.
Tee und Sympathie
Seitdem der Vorhang über dem Unternehmen Delphin gefallen war, hatte Smiley mehr als einmal den Vorwurf hören müssen, dies wäre für George der Augenblick gewesen, auf Sam Collins zurückzugreifen und ihm einen harten und direkten Schlag zu verpassen, genau dorthin, wo es am wehesten tat. George hätte damit das Verfahren beträchtlich abkürzen können, sagen die Wissenden; er hätte lebenswichtige Zeit einsparen können. Sie schwatzten einfach Unsinn.
Erstens spielte Zeit keine Rolle. Die russische Goldader und die Operation, die damit finanziert wurde, was immer es sein mochte, waren seit Jahren im Fluß und wären es vermutlich, hätte es keine Störung gegeben, noch lange geblieben. Die einzigen, die nach Taten lechzten, waren die Whitehall-Barone, der Circus selber und, indirekt, Jerry Westerby, der sich noch ein paar Wochen länger fast zu Tode langweilen mußte, während Smiley pedantisch seinen nächsten Schachzug vorbereitete. Zudem rückte Weihnachten näher, was alle Welt ungeduldig macht. Ko und die große Sache, deren Fäden er möglicherweise in der Hand hielt, zeigten keinerlei Anzeichen irgendeiner Entwicklung. »Ko und sein russisches Geld standen wie ein Gebirge vor uns«, schrieb Smiley später über das Unternehmen Delphin in seinem Abschlußbericht. »Wir konnten in den Fall hineinleuchten, wann immer wir das wünschten, aber wir konnten ihn nicht von der Stelle bewegen. Es ging nicht darum, daß wir selbst tätig wurden, sondern wie wir Ko dazu bewegen konnten, dort tätig zu werden, wo wir an ihn herankonnten.«
Woraus klar hervorgeht: lang vor allen anderen, ausgenommen vielleicht Connie Sachs, hatte Smiley das Mädchen als potentiellen Hebel und somit als die wichtigste Einzelfigur im ganzen Ensemble erkannt - weit wichtiger zum Beispiel als Jerry Westerby, der jederzeit zu ersetzen war. Dies war nur einer von vielen triftigen Gründen, die Smiley bewogen, so nah an sie heranzukommen, wie es die Wahrung der Sicherheit irgend zuließ.
Ein weiterer Grund war, daß die ganze Art der Beziehung zwischen Sam Collins und dem Mädchen noch immer im ungewissen schwebte. Es ist so einfach, sich heute hinzustellen und zu sagen »sonnenklar«, aber damals war die Frage alles andere als erledigt und abgetan. Die Akte Cale lieferte einen Hinweis. Smileys intuitives Erfühlen von Sams Schrittmuster half, ein paar Lücken auszufüllen; hastige Rückpeilungen seitens der Registratur lieferten Anhaltspunkte und den üblichen Stoß analoger Fälle; die Sammlung von Sams Einsatzberichten war erhellend. Bleibt noch zu erwähnen, daß Smiley, je länger er Sam fernhielt, desto näher einem objektiven Verständnis der Beziehungen zwischen dem Mädchen und Ko, zwischen dem Mädchen und Sam kam: daß er eine entsprechend stärkere Verhandlungsposition hatte, als er und Sam einander wieder gegenübersaßen. Und wer konnte wirklich wissen, wie Sam unter Druck reagiert hätte? Die Inquisitoren konnten viele Erfolge verbuchen, gewiß, aber auch Fehlschläge. Sam war eine sehr harte Nuß. Für Smiley zählte noch eine weitere Überlegung, auch wenn er zu zurückhaltend ist, um sie in seinem Schreiben zu erwähnen. In jenen Tagen nach dem Sündenfall gingen eine Menge Gespenster um, und eines davon war die Angst, es könne irgendwo im Circus Bill Haydons erwählter Nachfolger vergraben liegen: Bill hätte ihn ausgesucht, angeworben und auf den Tag hin getrimmt, an dem er selber, auf die eine oder andere Art, von der Bühne abtreten würde. Sam war ursprünglich einer von Haydons Kandidaten gewesen. Seine spätere Preisgabe durch Haydon konnte leicht ein abgekartetes Spiel gewesen sein. Wervermochte in dieser Periode allgemeiner Nervosität sicher zu sein, daß nicht Sam Collins, der alle Hebel für seine Reaktivierung in Bewegung setzte, der Kronprinz des Verräters Haydon war? Diese Gedanken spukten in George Smiley herum, als er seinen Regenmantel überzog und sich auf den Weg machte. Nicht einmal ungern, denn im Herzen war er noch immer ein Frontkämpfer. Sogar seine Widersacher geben das zu.
In der Gegend des alten Barnsbury, im Londoner Stadtteil Islington, machte der Regen an jenem Tag, als Smiley dort endlich einen diskreten Besuch abstattete, eine Vormittagspause. Auf den Schieferdächern viktorianischer Cottages hockten die triefenden Schornsteine wie durchnäßte Vögel zwischen den Fernsehantennen. Dahinter ragte, von einem Gerüst zusammengehalten, das Gerippe eines Wohnblocks, dessen Bau wegen fehlender Mittel eingestellt wurde. »Mister-?«
»Standfast«, erwiderte Smiley höflich unter seinem Regenschirm hervor.
Ehrenmänner erkennen einander instinktiv. Mr. Peter Worthington brauchte nur seine Wohnungstür zu öffnen, einen Blick auf die rundliche, regentriefende Gestalt auf seiner Schwelle zu werfen - die schwarze Aktentasche, auf deren ausgebeultem Deckel die Buchstaben EHR eingeprägt waren, die schüchterne und ein wenig schäbige Erscheinung -, und schon erhellte ein Ausdruck gastlichen Willkommens sein freundliches Gesicht. »Ja, stimmt. Riesig nett, daß Sie kommen. Das Foreign Office ist doch zur Zeit in der Downing Street, wie? Was haben Sie gemacht? U-Bahn ab Charing Cross genommen, vermutlich. Kommen Sie rein, trinken sie ein Täßchen.« Er kam von einer Public School, unterrichtete aber jetzt an einer staatlichen Schule, weil es mehr einbrachte. Seine Stimme war milde, tröstend und loyal. Sogar seine Kleidung sprach von Treue, wie Smiley feststellte, als er ihm durch den engen Korridor folgte. Mochte Peter Worthington auch erst vierunddreißig sein, der schwere Tweedanzug würde so lange modern - oder unmodern - bleiben, wie sein Besitzer es für richtig hielt. Es gab keinen Garten. Das nach hinten gelegene Arbeitszimmer ging direkt auf einen betonierten Spielplatz. Ein derbes Gitter schützte das Fenster, und der Spielplatz wurde durch einen hohen Drahtzaun abgeteilt. Dahinter stand das Schulhaus, ein verschnörkelter edwardianischer Bau, nicht unähnlich dem Circus, nur daß man hineinsehen konnte. Im Erdgeschoß sah Smiley Kindermalereien an den Wänden hängen. Weiter oben standen Reagenzgläser in Gestellen. Es war Spielstunde, und auf ihrer Hälfte des Platzes rannten Mädchen in Turnanzügen hinter einem Handball her. Auf der anderen Seite des Drahtzaunes dagegen standen die Buben in schweigenden Gruppen, wie Streikposten vor einem Fabriktor, Schwarze und Weiße getrennt. Auf dem Boden des Arbeitszimmers lagen Schulhefte bis in Kniehöhe. Eine illustrierte Übersichtstafel über die englischen Könige und Königinnen baumelte am Kaminvorsprung. Dunkle Wolken hingen am Himmel und verliehen der Schule ein rostiges Aussehen. »Hoffentlich stört Sie der Lärm nicht«, rief Peter Worthington aus der Küche. »Ich höre ihn nämlich schon nicht mehr. Zucker?«