»Die Mutter war tatsächlich ihr Unglück, ja«, fuhr er im gleichen völlig sachlichen Ton fort: »Das ganze Getue, daß sie zur Bühne sollte, dann zum Ballett, dann ein Versuch, sie ins Fernsehen zu lancieren. Die Mutter wollte, daß Elizabeth bewundert würde. Als Ersatz für sich selber natürlich. Psychologisch völlig klar. Lesen Sie Berne. Lesen Sie, wen Sie wollen. Das ist eben ihre Art, ihr Selbstverständnis zu definieren. Durch ihre Tochter. Man muß hinnehmen, daß es solche Dinge gibt. Ich verstehe das jetzt. Sie ist okay, ich bin okay, die Welt ist okay, Ian ist okay, und dann ist sie plötzlich weg.«
»Wissen Sie zufällig, ob sie sich gelegentlich mit ihrer Mutter in Verbindung setzt?«
Peter Worthington schüttelte den Kopf.
»Bestimmt nicht. Als Elizabeth fortging, war sie mit ihrer Mutter fertig. Hatte völlig mit ihr gebrochen. Über diese Hürde habe ich ihr hinweggeholfen, das darf ich mit Sicherheit behaupten. Mein einziger Beitrag zu ihrem Glück -«
»Ich glaube nicht, daß wir die Adresse der Mutter hier haben«, sagte Smiley und blätterte verbissen in der Akte. »Sie haben nicht -«
Peter Worthington gab ihm die Adresse mit lauter Stimme im Diktiertempo zum Mitschreiben an.
»Und jetzt die Daten und Ortsangaben«, wiederholte Smiley. »Bitte.«
Sie hatte ihn vor zwei Jahren verlassen. Peter Worthington gab nicht nur den Tag an, sondern die Stunde. Es war keine Szene vorausgegangen - Peter Worthington hielt nichts von Szenen, Elizabeth hatte zu viele mit ihrer Mutter gehabt, - sie hatten einen glücklichen Abend verbracht, einen besonders glücklichen sogar. Er hatte sie zur Abwechslung in das Kebab-Restaurant geführt. »Haben Sie vielleicht gesehen, als Sie herkamen? - Heißt das Knossos, gleich neben dem Express-Dairy.« Sie hatten Wein getrunken und tüchtig geschmaust, und Andrew Wiltshire, der neue Englischlehrer, war als Dritter im Bunde mitgekommen. Elizabeth hatte diesen Andrew erst vor ein paar Wochen in die Yoga-Lehre eingeführt. Sie waren gemeinsam zum Unterricht ins Sobell Centre gegangen und dicke Freunde geworden.
»Sie ist vom Yoga tief durchdrungen«, sagte er und nickte billigend mit dem graugesprenkelten Kopf. »Hätte echtes Interesse. Andrew war genau die Sorte Mann, um sie anzuregen. Extrovertiert, unreflektiert, körperbetont . . . genau das Richtige für sie«, sagte er entschieden. Sie waren alle drei um zehn Uhr heimgegangen, wegen des Babysitters, sagte er: er selber, Andrew und Elizabeth. Er hatte Kaffee gekocht, sie hörten Musik, und so um elf herum gab Elizabeth jedem einen Kuß und sagte, sie wolle noch hinübergehen und nach ihrer Mutter sehen.
»Ich dachte, sie hätte mit ihrer Mutter gebrochen«, wandte Smiley milde ein, aber Peter Worthington tat, als hörte er nicht. »Natürlich bedeuten Küsse nichts bei ihr«, erläuterte Peter Worthington rein informativ. »Sie küßt jeden, die Schüler, ihre Freundinnen - sie würde den Müllmann küssen, irgendwen. Sie ist sehr spontan. Sie kann eben keinen in Ruhe lassen. Ich meine, jede Beziehung muß eine Eroberung sein. Ob es ihr Kind ist oder der Kellner im Restaurant . . . und wenn sie sie erobert hat, langweilen sie sie. Natürlich. Sie ging nach oben, sah nach lan und hat sicherlich diesen Augenblick genutzt, um ihren Paß und das Haushaltsgeld aus dem Schlafzimmer zu holen. Sie hinterließ einen Zettel, auf dem >Tut mir leid<, draufstand, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Und Ian auch nicht«, sagte Peter Worthington.
»Ähem, hat Andrew von ihr gehört?« erkundigte sich Smiley und kippte wiederum seine Brille herunter. »Warum sollte er?«
»Sie sagten, die beiden seien Freunde gewesen, Mr. Worthington. Manchmal werden Dritte zu Mittlern bei solchen Affären.« Bei dem Wort Affären sah er auf und fand sich direkt in Peter Worthingtons ehrliche, verzweifelte Augen blicken: und eine Sekunde lang glitten beide Masken gleichzeitig ab. War Smiley der Beobachter? Oder wurde er beobachtet? Vielleicht war es nur seine angeschlagene Phantasie - oder spürte er in sich und in diesem schwachen Jungen, der ihm gegenübersaß, die Regung einer verlegenen Verwandtschaft? >Es sollte einen Verein für betrogene Ehemänner geben, die sich selber bemitleiden. Ihr habt alle die gleiche, nervtötende, gräßliche Vergebermasche !<, hatte Ann ihm einmal ins Gesicht geschleudert. Du hast deine Elizabeth nie gekannt, dachte Smiley, während er noch immer Peter Worthington anstarrte: und ich nicht meine Ann.
»Das ist wirklich alles, woran ich mich erinnere«, sagte Peter Worthington. »Danach nur noch ein blinder Fleck.«
»Ja«, sagte Smiley. »Ja«, - und er übernahm unwillkürlich Worthingtons Lieblingswendung -, »ich verstehe.«
Er stand auf und wollte gehen. Unter der Tür stand ein kleiner Junge. Er hatte einen ausweichenden, feindselig-starren Blick.
Eine mütterliche, schwere Frau stand hinter ihm und hielt seine beiden Handgelenke über seinem Kopf fest, so daß er an ihr zu hängen schien, obwohl er auf seinen eigenen Füßen stand.
»Schau, da ist Daddy «, sagte die Frau und blickte Worthington aus braunen, besitzergreifenden Augen an.
»Jenny, hei. Das ist Mr. Standfast vom Foreign Office.«
»Sehr angenehm«, sagte Smiley höflich, und nach ein paar Minuten unverbindlichen Geplauders und dem Versprechen, baldmöglichst Weiteres hören zu lassen, falls es noch Weiteres gäbe, verabschiedete er sich.
»Oh, und fröhliche Weihnachten«, rief Worthington von der Treppe.
»Ach ja. Ja, natürlich. Wünsche ich Ihnen auch. Ihnen allen recht fröhliche Weihnachten.«
In der Raststätte taten sie einem gleich Zucker hinein, wenn man nicht ausdrücklich abwinkte, und sooft die Inderin eine Tasse zubereitete, füllte sich die winzige Küche mit Dampf. Zu zweien oder dreien aßen schweigende Männer ihr Frühstück, Abendbrot oder ihren Lunch, je nachdem, wie weit sie in ihrem jeweiligen Tagesprogramm gekommen waren. Auch hier rückte Weihnachten heran. Sechs schmierige bunte Glaskugeln baumelten stimmungsvoll über der Theke, daneben ein Netzstrumpf, der um Hilfe für spastisch gelähmte Kinder bat. Smiley starrte in eine Abendzeitung, ohne sie zu lesen. In einer Ecke, keine zwölf Fuß von ihm entfernt, hatte der kleine Fawn die typische Position des Babysitters bezogen. Seine dunklen Augen lächelten freundlich die Gäste und die Tür an. Er hob die Tasse mit der linken Hand, während die rechte sich auf Brusthöhe hielt. Ob Karla wohl so dasaß, überlegte Smiley. Flüchtete Karla sich zu den Arglosen? Control hatte es getan. Control hatte sich ein komplettes zweites, drittes oder viertes Leben in einer Zweizimmer-Etagenwohnung gleich am Westlichen Ring eingerichtet, unter dem schlichten Namen Matthews, der nicht als Alias in den Akten der Housekeepers erschien. Nun, »komplettes« Leben war übertrieben. Aber er hatte Kleidung dort gehabt und eine Frau, gleichfalls namens Matthews, sogar eine Katze. Und jeden Donnerstag frühmorgens in einem Handwerkerclub Golfunterricht genommen, während er von seinem Schreibtisch im Circus aus seine Verachtung für die Großen Ungewaschenen, für Golf und für die Liebe kundtat, und für jedes andere nichtsnutzige menschliche Streben, das ihn insgeheim gelockt haben mochte. Er hatte sogar einen Schrebergarten gepachtet, erinnerte sich Smiley, drunten an einem Rangiergleis. Mrs. Matthews hatte es sich nicht nehmen lassen, Smiley in ihrem blitzenden Morris dorthinzufahren, an dem Tag, an dem er ihr die Trauerbotschaft überbrachte. Es war der gleiche Verhau, wie alle anderen Schrebergärten: Einheitsrosen, Wintergemüse, das sie nicht verwendet hatten, ein Geräteschuppen mit Gartenschlauch und einer Unmenge Samentüten. Mrs. Matthews war Witwe, fügsam, aber tüchtig. »Ich möchte nur eins wissen«, hatte sie gesagt, nachdem sie die Zahl auf dem Scheck gelesen hatte. »Ich möchte nur eins mit Bestimmtheit wissen, Mr. Standfast: ist er wirklich tot oder ist er wieder zurück zu seiner Frau?«