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Was hatte einen solchen Exodus ausgelöst? Craw bot mehrere geistreiche Theorien an. Waren wir Zeugen einer weiteren Beschneidung der Staatsausgaben? Der Autor hatte da seine Zweifel. In ihren schweren Stunden neigte Britannia eher dazu, mehr, nicht weniger Wert, auf ihre Spione zu legen. Die ganze Geschichte des Empire bewies das. Je schmaler die Handelswege, desto raffinierter die geheimen Bemühungen, sie zu schützen. Je mehr sich der Zugriff auf die Kolonien lockerte, desto verzweifelter der Kampf gegen jene, die ihn vollends lösen wollten. Nein: Großbritannien mochte bei Wasser und Brot schmachten, seine Spione würden der letzte Luxus sein, den es aufgäbe. Craw zeigte noch weitere Möglichkeiten auf und tat sie sogleich wieder ab. Eine Geste der Entspannung gegenüber China? fragte er, wie vor ihm schon der Cowboy. Gewiß würde England alles Menschenmögliche tun, um Hongkong vor Maos antikolonialistischem Eifer zu bewahren - alles, nur nicht seine Spione opfern. Und so kam Old Craw schließlich zu seiner Lieblingstheorie: »Quer über das ganze Fernöstliche Schachbrett«, schrieb er, »ging der Circus, wie man im Fachjargon sagt, auf Tauchstation.« Aber warum?

Der Schreiber zitierte nun seine »verehrten amerikanischen Amtsbrüder von der streitenden Geheimkirche in Asien«. Amerikanische Geheimdienstler seien allerorts, so sagte er, nicht nur in Asien, »fuchsteufelswild über die laxe Sicherheitshandhabung bei den britischen Dienststellen«. Am verbittertsten seien sie über die kürzliche Entdeckung eines hohen russischen Spions - er warf hier das Fachwort »Maulwurf« ein - innerhalb des Londoner Hauptquartiers, eben des Circus: eines britischen Verräters, dessen Namen sie nicht nennen wollten, der jedoch mit den Worten der verehrten Amtsbrüder »jede auch nur einigermaßen nennenswerte anglo-amerikanische Geheimoperation während der letzten zwanzig Jahre zunichte gemacht« habe. Wo war der Maulwurf jetzt?, habe der Schreiber seine Quellen gefragt. Worauf sie mit unverhohlener Erbitterung geantwortet hätten: »Tot. In Rußland. Und hoffentlich beides.«

Craw war nie um einen effektvollen Schluß verlegen gewesen, aber dieser hatte für Lukes liebendes Auge etwas geradezu Erhabenes. Er war beinah eine Aussage über das Leben selbst, und sei es nur über das geheime Leben.

»Ist Kim, der junge Spion, für immer aus den Legenden des Fernen Ostens verschwunden?« fragte er. »Soll der englische Pundit nie wieder seine Haut färben und seinen Platz am Dorffeuer einnehmen? Fürchtet euch nicht«, donnerte er. »Die Briten werden zurückkommen! Der altehrwürdige Sport der Spionenjagd wird Urständ feiern! Der Spion ist nicht tot: er tut nur einen tiefen Schlaf.«

Der Artikel erschien. Im Club wurde er flüchtig bewundert, beneidet, vergessen. Eine örtliche englischsprachige Zeitung mit starken amerikanischen Verbindungen druckte ihn ungekürzt nach, mit dem Erfolg, daß die Eintagsfliege noch weitere vierundzwanzig Stunden leben durfte. Die Benefiz-Vorstellung des alten Knaben, sagten sie: eine letzte Reverenz, ehe er von der Bühne abtrat. Dann brachten ihn die überseeischen Sender von BBC, und schließlich strahlte der müde Sender der Kolonie eine Version der Version von BBC aus, und einen vollen Tag lang wurde die Frage erörtert, ob Big Moo beschlossen habe, den örtlichen Medien den Maulkorb abzunehmen. Doch obwohl inzwischen Wochen vergangen waren, sah weder Luke noch der Zwerg sich zu der Frage veranlaßt, wieso zum Teufel der Alte den Hintereingang zu High Haven gekannt hatte. Was nur bewies, wenn ein Beweis jemals nötig war, daß Journalisten genauso lange brauchen wie gewöhnliche Sterbliche, bis sie spitzkriegen, was sich vor ihrer eigenen Nase tut. Schließlich tobte an jenem Sonnabend der Taifun.

Im Circus selbst, wie Old Craw den Sitz des britischen Geheimdienstes zutreffend benannt hatte, löste der Artikel unterschiedliche Reaktionen aus, je nachdem, wieviel die Betroffenen wußten. Bei den Housekeepers zum Beispiel, die für das bißchen Tarnung verantwortlich waren, mit dem sich der Circus zur Zeit umgeben konnte, löste der alte Knabe eine Woge aufgestauten Zorns aus, wie sie nur ein Mensch verstehen kann, der die Atmosphäre in einer Geheimdienststelle im Belagerungszustand kennt. Sogar sonst duldsame Geister wurden von wilder Rachsucht erfaßt. Verrat! Vertragsbruch! Sperrt seine Pension! Setzt ihn auf die Observierungsliste! Strafverfolgung, sobald er nach England zurückkehrt! Ein Stückchen weiter unten sahen die weniger fanatisch um ihre Sicherheit Besorgten die Sache mit milderem Auge, obgleich auch sie von falschen Voraussetzungen ausgingen. Na ja, so sagten sie ein bißchen kleinlaut, so geht es eben: zeigt uns einen, der nicht schon dann und wann mal durchgedreht hätte, und ganz besonders einen, der so lange in Unkenntnis gelassen wurde wie Old Craw. Und schließlich hatte er nichts veröffentlicht, was nicht allgemein zugänglich gewesen wäre, nicht wahr? Wirklich, diese Housekeepers da sollten sich ein bißchen mäßigen. Wie sie zum Beispiel neulich abends die arme Molly Meakin, die schließlich Mikes Schwester ist, fertiggemacht haben, nur weil sie ein Blatt leeres Briefpapier in ihrem Papierkorb ließ! Nur die Leute vom innersten Kreis sahen die Sache anders. Für sie war Old Craws Artikel ein Meisterstück an Desinformation: George Smiley in seinen besten Tagen, sagten sie. Klar, daß die Sache herauskommen mußte, und alle stimmten darin überein, daß Zensur zu jeder Zeit ein fragwürdiges Mittel sei. Viel besser also, wenn sie nach unserer eigenen Fasson herauskam. Der rechte Zeitpunkt, das rechte Maß, der rechte Ton: in jedem Federstrich die Erfahrung eines ganzen Lebens, so sagten sie einmütig. Aber diese Ansicht drang nicht über ihren Kreis hinaus.

Drüben in Hongkong erwies sich Craws High-Haven-Story - völlig klar, sagten die Shanghai Bowlers, wie die Sterbenden hatte der alte Knabe hier einen prophetischen Instinkt entwickelt - als sein Schwanengesang. Einen Monat nach dem Erscheinen hatte Craw sich zurückgezogen, nicht aus der Kolonie, aber aus seinem Schreiberjob und von der Insel. Er mietete ein Cottage in den New Territories und verkündete, daß er unter einem gelben Himmel aus der Welt zu scheiden gedenke. Für die Bowlers hätte er ebensogut Alaska wählen können. Es war einfach zu verdammt weit, sagten sie, um zurückzufahren, wenn man blau war. Es ging das Gerücht - barer Unsinn, denn Craws Neigungen zielten nicht in diese Richtung -, er habe sich einen hübschen Chinesenjungen als Gefährten zugelegt. Es war das Werk des Zwergs: er konnte es nicht verwinden, daß ein alter Mann ihm die Story weggeschnappt hatte. Nur Luke wollte ihn nicht vergessen. Luke fuhr eines Morgens von der Nachtschicht direkt zu ihm hinaus. Nur so, und weil er den alten Bussard schrecklich gern hatte. Craw sei glücklich wie der Mops im Paletot berichtete er: ganz der alte Widerling, nur ein bißchen verwirrt, Lukes unangemeldetes Erscheinen habe ihn aus dem Tritt gebracht. Er hatte einen Freund bei sich, keinen Chinesenjungen, sondern einen Überraschungsbesuch, den er als George vorstellte: ein gedrungenes, kurzsichtiges Kerlchen mit runden Brillengläsern, der ihm offenbar ins Haus geschneit war. Craw hatte Luke beiseite genommen und ihm erklärt, dieser George schreibe gelehrte Fachartikel für englische Zeitungen, für die er selber in finsterer Vorzeit gearbeitet habe. »Zuständig für die Sparte Lebensabend, Ehrwürden. Rutscht mal schnell quer durch Asien.«