Mrs. Pelling stieß einen bühnenreifen Wehlaut aus. »Oh, ihr Männer. Wann? Wer? Warum? Wie? Im Gebüsch, lieber Herr. In einer Telefonzelle, lieber Herr. Sie hat Ricardos Leben erkauft, darling, mit der einzigen Währung, die sie hat. Hat alles für ihn getan und ihn dann verlassen. Hol's der Teufel, war ein Nichtsnutz.« Sie nahm eine andere Postkarte zur Hand und studierte die Ansicht eines leeren Strands mit Palmen. »Meine kleine Lizzi ist mit halb Asien hinter die Hecke gegangen, eh sie ihren Drake fand. Aber sie fand ihn.« Als hätte sie ein Geräusch gehört, richtete sie sich jäh auf und starrte Smiley durchdringend an, während sie ihr Haar glättete. »Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen, mein Lieber«, sagte sie so leise wie bisher und wandte sich zum Spiegel um. »Solange Sie da sind, krieg ich die Gänsehaut nicht los, Ehrenwort. Mit vertrauenerweckenden Gesichtern kann ich nichts anfangen. Tut mir leid, darling, wissen Sie, wie ich's meine?«
Im Circus verwendete Smiley ein paar Minuten auf die Nachprüfung dessen, was er bereits wußte: nämlich daß Mellon einer der in den Akten eingetragenen Decknamen von Sam Collins gewesen war.
Schanghai-Express
Der Sachverhalt, wie er sich jetzt im bequemen Rückblick darstellt, weist zum damaligen Zeitpunkt eine trügerische Ballung von Ereignissen auf. Für Jerry kam und verging das Weihnachtsfest in einer Abfolge zielloser Saufereien im Korrespondenten-Club und mit dem Abschicken verspäteter, unbeholfen in Weihnachtspapier gewickelter Päckchen an Cat, zu den unmöglichsten Nachtstunden. Ein überarbeiteter Suchantrag über Ricardo wurde den Vettern in aller Form vorgelegt, und Smiley brachte ihn persönlich zum Annex, um Martello noch weitere Erklärungen zu liefern. Aber der Antrag geriet mitten in den Weihnachtsrummel - ganz zu schweigen vom unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch Vietnams und Kambodschas - und schloß seine Rundreise bei den amerikanischen Dienststellen erst eine ganze Weile nach Neujahr ab, wie die Daten in der Akte Delphin zeigen. Und das entscheidende Treffen mit Martello und seinen Freunden vom Rauschgiftdezernat fand sogar erst Anfang Februar statt. Was diese weitere Verzögerung für Jerrys Nerven bedeutete, wurde im Circus durchaus richtig eingeschätzt, löste jedoch während dieser anhaltenden Krisenstimmung weder Mitgefühl noch irgendwelches Handeln aus. Auch hierfür könnte man Smiley tadeln, je nachdem, wo man steht, aber es ist schwer zu sehen, was er hätte unternehmen können, außer vielleicht Jerry zurückzubeordern: besonders da Craw sich nach wie vor enthusiastisch über Jerrys Moral äußerte. Die fünfte Etage arbeitete rund um die Uhr, Weihnachten wurde kaum zur Kenntnis genommen, nur daß am Mittag des fünfundzwanzigsten eine recht dürftige Sherry-Party stattfand und später nochmals eine Pause eingelegt wurde, während der Connie und die Mütter die Ansprache der Queen auf voller Lautstärke laufen ließen, um Ketzer wie Guillam und Molly Meakin zu beschämen, die das Ganze vergnüglich fanden und in den Korridoren schlechte Imitationen der königlichen Festrede zum besten gaben.
Die offizielle Eingliederung Sam Collins' in die gelichteten Reihen des Circus fand an einem wirklich eiskalten Januartag statt, und sie hatte eine lustige und eine traurige Seite. Die lustige Seite war Sams Einkerkerung. Er kam an einem Montagvormittag Punkt zehn Uhr an, nicht im Smoking, sondern in einem flotten grauen Überzieher mit einer Rose im Knopfloch, und sah in der Kälte wundersam jugendlich aus. Aber Smiley und Guillam waren außer Haus, in Klausur mit den Vettern, und weder die Portiers noch die Housekeepers hatten irgendeine Anweisung, ihn einzulassen, also sperrten sie ihn drei Stunden lang in ein Kellerloch, wo Sam bibberte und kochte, bis Smiley kam und die Einstellung bestätigte. Wegen Sams Büro gab es nochmals ein Theater. Smiley hatte ihn auf der vierten Etage neben Connie und di Salis untergebracht, aber Sam paßte das nicht, er wollte in die fünfte. Er fand das seinem Rang als amtierendem Koordinator angemessener. Die armen Portiers wuchteten Möbelstücke treppauf, treppab, wie Kulis.
Die traurige Seite war schwieriger zu beschreiben, obwohl mehrere Leute dies versuchten. Connie sagte, Sam sei frigide, eine verwirrende Wahl des Adjektivs. Für Guillam war er hungrig, für die Mütter fragwürdig und für die Wühlmäuse viel zu glatt. Eigentümlich erschien allen, die nicht über die Hintergründe orientiert waren, seine Passivität: er forderte keine Akten an, er suchte nicht um diese oder jene Genehmigung nach, er benutzte kaum das Telefon, außer um Rennpferde zu plazieren und zu überwachen, was in seinem Club vorging. Aber sein Lächeln begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Die Tippmädchen erklärten, er schlafe darin und wasche es am Wochenende von Hand durch. Smileys Gespräche mit ihm fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die Ergebnisse wurde dem Team nur nach und nach mitgeteilt.
Ja, das Mädchen war mit einigen Hippies in Vientiane gelandet, die den Katmandu-Treck überholt hatten. Ja, als sie von den anderen kaltgestellt wurde, hatte sie Mackelvore gebeten, ihr einen Job zu verschaffen. Und ja, Mackelvore hatte sie an Sam weitergereicht, weil er dachte, allein schon ihr Aussehen mache sie brauchbar: alles, wenn man zwischen den Zeilen lesen konnte, ziemlich genau so, wie das Mädchen es in dem Brief an den Vater beschrieben hatte. Sam hatte ein paar müde Drogengeschichten laufen und im übrigen herrschte, dank Haydon, absolute Windstille, also dachte er, er könnte sie ja mal den Jungs vom fliegenden Personal unterjubeln und zusehen, was dabei herauskäme. Er sagte London nichts davon, denn London würgte damals alles ab. Er nahm sie einfach auf Probe und bezahlte sie aus seiner Spesenkasse. Was dabei herauskam, war Ricardo. Er ließ sie außerdem eine alte Spur verfolgen, die zu den Goldschiebern nach Hongkong führte, aber das alles noch zu einer Zeit, bevor ihm klar wurde, daß sie ein komplettes Stück Malheur war. Er sei ausgesprochen erleichtert gewesen, sagte Sam, als Ricardo sie ihm abgenommen und ihr einen Job bei Indocharter verschafft habe. »Und was weiß er sonst noch?« fragte Guillam entrüstet. »Für diesen Spottpreis darf er die Hackordnung durcheinanderbringen und unsere Sitzungen stören?«
»Er kennt sie«, sagte Smiley geduldig und widmete sich wieder dem Studium von Jerry Westerbys Akte, die in letzter Zeit seine Lieblingslektüre bildete. »Wir sind selber dann und wann nicht über eine kleine Erpressung erhaben«, fügte er mit aufreizender Duldsamkeit hinzu, »und es ist nur recht und billig, daß wir's uns auch einmal gefallen lassen müssen.« Während Connie jeden durch ungewohnte Ruppigkeit erschreckte, indem sie Präsident Johnsons - angeblichen - Ausspruch über J. Edgar Hoover zitierte: »George ist es eben lieber, daß Sam Collins in unserem Zelt ist und rauspinkelt, als daß er draußen steht und reinpinkelt«, erklärte sie und kicherte über ihre Keckheit wie ein Schulmädchen.
Und vor allem dauerte es bis Mitte Januar, ehe Doc di Salis im Zuge seiner weiteren Ausflüge in die Einzelheiten von Kos Background seine phantastische Entdeckung kundtat: ein gewisser Mr. Hibbert, China-Missionar in Diensten der Baptisten, den Ko in seinem Antrag auf Zulassung zum Jura-Studium in London als Bürgen angegeben hatte, war noch am Leben. Alles war also viel verzweigter, als es die heutige Erinnerung wohlweislich wahrhaben wilclass="underline" und der Druck, unter dem Jerry stand, war dementsprechend stärker.
»Es besteht die Möglichkeit, daß er geadelt wird«, sagte Connie Sachs. Sie hatten es schon am Telefon gesagt. Es war eine sehr nüchterne Szene. Connie hatte sich die Haare schneiden lassen. Sie trug einen dunkelbraunen Hut und ein dunkelbraunes Kostüm, dazu eine dunkelbraune Handtasche, die das Mikrophon barg. Draußen auf dem kleinen Fahrweg tat Toby Esterhase - der ungarische Pflasterkünstler, der mit einer Schirmmütze auf dem Kopf in einem blauen Taxi saß und Motor und Heizung laufen ließ -, als döste er, während er die Unterhaltung mit Hilfe der Geräte unter dem Sitz empfing und aufnahm. Connies ausgefallene Erscheinung hatte sich zu steifer Korrektheit gewandelt. Sie hielt ein Notizheft aus der Königlichen Kanzlei bereit, einen Bleistift gleicher Herkunft zwischen den Gichtfingern. Den absonderlichen di Salis ein wenig zu modernisieren, hatte einiger Kunst bedurft. Unter Protest trug er eines von Guillams gestreiften Hemden und eine dazu passende dunkle Krawatte. Das Ergebnis war überraschenderweise einigermaßen überzeugend.