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»Es ist äußerst vertraulich«, sagte Connie zu Mr.  Hibbert mit lauter und deutlicher Stimme. Auch das hatte sie bereits am Telefon gesagt.

»Enorm«, brabbelte di Salis bekräftigend und schwang die Arme, bis ein Ellbogen in einer unmöglichen Stellung auf seinem knubbeligen Knie zur Ruhe kam; eine fahrige Hand umschloß sein Kinn und kratzte es.

Der Gouverneur habe einen Mann empfohlen, sagte sie, und jetzt sei es Sache des Amts, zu entscheiden, ob die Empfehlung an den Palast weiterzuleiten sei. Und bei dem Wort Palast warf sie einen verhaltenen Blick hinüber zu di Salis, der strahlend, aber bescheiden lächelte, wie eine Berühmtheit bei einer Talkshow. Seine grauen Haarsträhnen waren mit Pomade geglättet und sahen aus (so sagte Connie später), als wären sie für den Bratofen eingefettet.

»Sie werden also verstehen«, sagte Connie mit der präzisen Aussprache einer weiblichen Nachrichtensprecherin, »daß sehr eingehende Erkundigungen nötig sind, um unseren allerhöchsten Stellen Peinlichkeiten zu ersparen.«

»Der Palast«, echote Mr. Hibbert und blinzelte in di Salis' Richtung. »Das darf nicht wahr sein. Der Palast, hast du das gehört, Doris?« Er war sehr alt. In den Unterlagen stand einundachtzig, aber seine Züge hatten ein Alter erreicht, das sie wieder glättete. Er trug einen runden Ornatskragen, eine dunkle Strickweste mit aufgenähtem Leder an den Ellbogen, und einen Schal um die Schultern. Die graue See im Hintergrund bildete einen Hof um sein weißes Haar. »Sir Drake Ko«, sagte er. »Daran hätte ich nie gedacht, nie im Leben.« Sein Nordlandakzent war so rein, daß er, wie sein schneeiges Haar, hätte aufgesetzt sein können. »Sir Drake«, wiederholte er. »Das darf nicht wahr sein. Was, Doris?«

Eine Tochter saß bei ihnen, blond, zwischen dreißig und fünfundvierzig. Sie trug ein gelbes Kleid und hatte Puder aufgelegt, aber keinen Lippenstift. Ihr Gesicht schien seit den Mädchentagen nichts erlebt zu haben außer dem steten Schwinden aller Hoffnungen. Beim Sprechen errötete sie. Sie sprach selten. Sie hatte Plätzchen gebacken und papierdünne Sandwiches bereitet. Auf einem Spitzendeckchen lag ein Gewürzkuchen, und als Teesieb benutzte sie ein Musselintüchlein, um dessen Rand zur Versteifung Perlen genäht waren. Von der Decke hing ein gezackter Pergamentschirm in Form eines Sterns. An einer Wand stand ein Klavier, auf dem Notenhalter war die Partitur von »Lead Kindly Light« aufgeschlagen. Eine Stickerei mit Motiven aus Kiplings »If« hing über dem leeren Kamin, und die Samtvorhänge zu beiden Seiten des Fensters, das aufs Meer hinausging, waren so schwer, daß dahinter ein unbenutztes Stück Leben verborgen sein konnte. Es waren keine Bücher zu sehen, auch keine Bibel. Ein sehr großes Farbfernsehgerät stand da, und eine lange Girlande von Weihnachtskarten hing quer durchs Zimmer. Sie baumelten von der Schnur wie getroffene Vögel auf halbem Weg zum Boden. Nichts erinnerte an die chinesische Küste, höchstens der Schatten der winterlichen See. Es war ein Tag ohne Wetter und ohne Wind. Im Garten hockten Stauden und Kakteen trübsinnig in der Kälte herum. Spaziergänger hasteten über die Promenade. Sie würden sich gern ein paar Notizen machen, sagte Connie: denn es gehört zur Circus-Folkore, daß neben dem Abhören auch Notizen zu machen sind, für alle Fälle und zur Tarnung. »Ja, schreiben Sie nur«, sagte Mr.  Hibbert aufmunternd. »Wir sind schließlich nicht lauter Elefanten, wie, Doris? Doris hat nämlich, also sie hat ein fabelhaftes Gedächtnis, genau wie ihre Mutter.«

»Also, worauf es uns zunächst ankommt«, sagte Connie - sie achtete sorgfältig darauf, sich dem Tempo des alten Mannes anzupassen -,' »wir würden gern, wie wir das bei allen Leumundsbezeugern machen, wie wir sie nennen, genau feststellen, wie' lange Sie Mr. Ko kannten und welcher Art Ihre Verbindung zu ihm ist oder gewesen ist.«

Beschreiben Sie Ihren Zugang zu »Delphin«, sagte sie, nur mit anderen Worten.

Wenn alte Menschen von anderen Menschen sprechen, dann reden sie über sich selber und betrachten ihr eigenes Bild in unsichtbaren Spiegeln.

»Ich hatte die Berufung von Kindheit an«, sagte Mr. Hibbert. »Mein Großvater hatte sie. Mein Vater hatte eine große Pfarrei in Macclesfield. Mein Onkel starb mit zwölf Jahren, aber er hatte sich schon damals der Berufung versprochen, nicht wahr, Doris? Ich kam mit zwanzig in die Vorbereitungsschule für Missionare. Mit vierundzwanzig nahm ich im Auftrag der >Lord's Life Mission< Kurs auf Schanghai. Die >Empire Queen< hat sie geheißen. Wir hatten mehr Kellner als Passagiere an Bord, soviel ich mich noch erinnere. Ach ja.«

Er habe vorgehabt, ein paar Jahre in Schanghai zu bleiben, Unterricht zu geben und die Sprache zu erlernen, sagte er, und dann, wenn er Glück hätte, zur chinesischen Binnenmission zu kommen und weit ins Innere vorzustoßen. »Das hätte mir gefallen. Die Herausforderung hätte mir gefallen. Ich habe die Chinesen immer gemocht. Die >Lord's Life Mission< war nichts Großartiges, aber sie leistete etwas. Diese römischen Schulen, also, die waren mehr wie die Klöster und mit allem, was das so mit sich bringt«, sagte Mr. Hibbert. di Salis, der einstige Jesuit, lächelte dünn. »Wir holten uns die Kinder von der Straße«, fuhr Mr. Hibbert fort. »Schanghai war ein fürchterlicher Mischmasch, kann ich Ihnen sagen. Nichts, was es nicht gab. Banden, Korruption, Prostitution die Menge, Politik, Geld und Gier und Elend. Alles Menschliche war dort beisammen, was, Doris? Nein, sie kann sich nicht daran erinnern. Nach dem Krieg fuhren wir heim, aber sie schickten uns bald wieder raus. Damals war sie auch erst elf, wie? Es war nichts mehr von früher da, also, nichts mehr wie Schanghai, und wir kamen wieder hierher zurück. Aber es gefällt uns hier, nicht wahr, Doris?« sagte Mr. Hibbert, der sehr darauf achtete, immer für sie beide zu sprechen. »Die Luft gefällt uns.«

»Sehr«, sagte Doris und räusperte sich laut in ihre große Faust. »Wir behalfen uns also mit dem, was wir kriegen konnten, darauf lief's hinaus«, fuhr er fort. »Wir hatten die alte Miss Fong. Kannst du dich an Daisy Fong erinnern, Doris? Klar - Daisy und ihre Glocke. Nein, sie kann's natürlich nicht. Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Ein richtiger Rattenfänger war unsere Daisy, mit Ausnahme dieser Glocke statt einer Flöte und daß sie eben kein Mann war, und sie arbeitete im Dienste des Herrn, auch wenn sie später zu Fall kam. Beste Konvertitin, die ich je hatte, bis die Japsen kamen. Sie ging durch die Straßen, unsere Daisy, und schwang ihre Glocke was das Zeug hielt. Manchmal begleitete sie der alte Charlie Wan, manchmal ging ich mit ihr. Wir suchten die Docks auf und die Vergnügungsviertel hinter dem >Bund< zum Beispiel - Höllengasse nannten wir die Straße, kannst du dich noch erinnern, Doris? Nein, sie kann es natürlich nicht. Und die alte Daisy bimmelte ihre Glocke, kling, kling!« Bei der Erinnerung brach er in Lachen aus: er sah sie ganz deutlich vor sich, denn seine Hand vollzog unbewußt die energischen Bewegungen der Glocke nach, di Salis und Connie lachten höflich mit, aber Doris runzelte nur die Stirn. »Rue de Jaffe, das war die übelste Gegend. Kein Wunder, daß die Häuser der Sünde unter französischer Konzession standen. Nun ja, eigentlich waren sie überall, in Schanghai wimmelte es nur so davon. Sündenstadt nannten sie es. Und sie hatten recht. Dann sammelten sich ein paar Kinder an, und Daisy fragte sie: >Hat einer von euch seine Mutter verloren?< Und da kriegte man immer ein paar. Nicht alle auf einmal, hier eins, dort eins. Einige wollten es bloß probieren, aßen unsere Reismahlzeit und wurden dann mit einem Klaps heimgeschickt. Aber wir fanden immer ein paar richtige, wie, Doris?, und schön langsam hatten wir eine Schule beisammen, vierundvierzig waren es am Schluß, wie? Einige wohnten bei uns, nicht alle. Bibelunterricht, Lesen, Schreiben, Rechnen, ein bißchen Geographie und Geschichte. Das war wirklich alles, was wir schaffen konnten.« Der ruhelose di Salis, der nur mit Mühe seine Ungeduld bezähmte, richtete den Blick starr auf die graue See und ließ ihn dort ruhen. Aber Connie hatte ein eisernes Lächeln der Bewunderung aufgesetzt, und ihre Augen wichen keine Sekunde lang vom Gesicht des Alten.