»Hymnen singen?« soufflierte Connie strahlend und warf einen Blick auf das polierte Klavier mit den leeren Kerzenhaltern. »Drake, der sang drauf los, solange nur deine Mutter am Klavier saß. Kirchenlieder. There's a Green Hill. Hätte sich die Kehle durchgeschnitten für deine Mutter, dieser Drake. Aber der kleine Nelson, den habe ich nie eine einzige Note singen hören.«
»Später hast du ihn zur Genüge gehört«, erinnerte Doris ihn rücksichtslos, aber er geruhte nicht, davon Kenntnis zu nehmen. »Man konnte ihm den Lunch wegnehmen, sogar das Abendessen, aber sein Tischgebet sagte er trotzdem nicht auf. Er haderte mit Gott von Anbeginn.« Mit plötzlicher Munterkeit lachte der Alte auf. »Aber das sind die wirklich Gläubigen, sage ich immer. Die anderen sind nur höflich. Es gibt keine wahre Bekehrung ohne diesen Hader.«
»Verdammte Werkstatt«, brummte Doris, noch immer erbittert über den Telefonanruf, während sie auf den Gewürzkuchen einhackte.
»Hören Sie! Was ist mit Ihrem Fahrer?« rief Mr. Hibbert. »Soll Doris zu ihm rausgehen? Er erfriert ja da draußen! Hol ihn rein, los!« Doch noch ehe einer von ihnen antworten konnte, hatte Mr. Hibbert angefangen, von seinem Krieg zu erzählen. Nicht von Drakes oder Nelsons Krieg, sondern von seinem eigenen, in losen Bruchstücken einer bildhaften Erinnerung. »Das Komische war, eine Menge Leute glaubten, die Japse seien genau das Richtige. Würden diesen frechen chinesischen Nationalisten zeigen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat. Ganz zu schweigen von den Kommunisten, versteht sich. Ja, es hat eine ganze Weile gedauert, bis ihnen die Schuppen von den Augen fielen, das kann ich Ihnen sagen. Sogar noch, nachdem die Bombardierungen anfingen. Die europäischen Läden wurden geschlossen. Die Taipans evakuierten ihre Familien, der Country Club wurde Lazaretr. Aber immer noch konnte man hören >keine Sorge<. Dann, eines schönen Tages, peng, wurden wir eingesperrt, wie, Doris? Und deine Mutter brachten sie obendrein noch um. Hatte nicht genug Widerstandskraft, nach ihrer Tuberkulose. Trotzdem kamen die Brüder Ko immer noch besser weg als die meisten.«
»Oh. Und warum?« erkundigte Connie sich höchlichst interessiert.
»Sie hatten Jesus als Trost und Führer, nicht wahr?«
»Gewiß«, sagte Connie.
»Natürlich«, pflichtete di Salis bei, flocht die Finger ineinander und zerrte an ihnen. »In der Tat«, sagte er salbungsvoll. Die Japse, wie er sie nannte, schlossen also die Mission, und Daisy Fong mit ihrer Handglocke geleitete die Kinder in den Treck der Flüchtlinge, die per Karren, Bus oder Eisenbahn, meist jedoch per pedes unterwegs nach Schanghai waren und schließlich nach Tschungking, wo Tschiangs Nationalisten ihre vorläufige Hauptstadt aufgeschlagen hatten.
»Er darf nicht zu lang weitermachen«, flüsterte Doris einmal Connie zu. »Er wird plemplem.«
»O doch, ich darf und ich kann, mein Kind«, korrigierte Mr. Hibbert sie mit liebevollem Lächeln. »Ich habe mein Leben hinter mich gebracht. Ich kann tun, was ich will.«
Sie tranken den Tee und redeten über den Garten, der ihnen immer wieder zu schaffen machte, seit sie hier lebten. »Man hat uns geraten: Nehmen Sie die mit den silbernen Blättern, die vertragen das Salz. Ich weiß nicht, wie, Doris? Sie scheinen nicht anzuwachsen, oder?«
Mit dem Tod seiner Frau, so brachte Mr. Hibbert zum Ausdruck, endete auch sein eigenes Leben: er trat nur noch auf der Stelle, bis er zu ihr könnte. Eine Weile hatte er eine Anstellung in Nordengland innegehabt, danach in London ein bißchen Bibelarbeit geleistet.
»Dann sind wir nach Süden gezogen, wie, Doris? Ich weiß nicht, weswegen.«
»Wegen der Luft«, sagte sie.
»Es wird bestimmt eine Party stattfinden, wie, im Palast?« fragte Mr. Hibbert. »Ich könnte mir vorstellen, daß Drake uns sogar auf die Gästeliste setzt. Stell dir das vor, Doris. Das würde dir Spaß machen. Eine königliche Gartenparty. Hüte.«
»Aber Sie sind doch wieder nach Schanghai gegangen«, erinnerte Connie ihn beiläufig und raschelte mit ihren Notizen, um ihn zurückzurufen. »Die Japaner waren geschlagen, Schanghai war wieder offen, und schon sind Sie auch wieder da. Ohne Ihre Frau natürlich, aber trotzdem, Sie sind wieder da.«
»O ja, wir gingen hin.«
»Dann sahen Sie die Kos wieder. Sie trafen sie, und ich bin sicher, daß die schönste Kabbelei losging. War's nicht so, Mr. Hibbert?« Es schien schon beinah, als hätte er die Frage nicht mitbekommen, aber plötzlich fing er mit einigem Verzug herzhaft an zu lachen: »Beim Himmel, und waren sie nicht inzwischen richtige kleine Männer geworden, die beiden! Pfiffige Kerle! Und hinter den Mädchen her, mit Verlaub gesagt, Doris. Ich behaupte immer noch, Drake hätte dich geheiratet, wenn du ihm nur ein bißchen Hoffnung gemacht hättest.«
»Also bitte, Dad«, murmelte Doris und starrte finster zu Boden. »Und Nelson? Du meine Güte, ein ausgewachsener Rebell!« Er schlürfte den Tee vom Löffel und so vorsichtig, als fütterte er einen Vogel. »Wo 's Missie?« Das wollte Drake als erstes wissen. Er hatte sein ganzes Englisch vergessen, Nelson ebenfalls. Ich mußte ihnen später Stunden geben. Also sagte ich es ihm. Er hatte inzwischen einiges vom Tod gesehen, das stand fest. War nicht, als ob er es mir nicht glaubte. >Missie tot<, sagte ich. Mehr gab's nicht zu sagen. >Sie ist tot, Drake, und sie ist bei Gott.< Ich habe ihn weder vorher noch später wieder jemals weinen sehen, aber damals weinte er, und ich liebte ihn dafür. >Ich verliere zwei Mutter<, sagt er zu mir. >Mutter tot, jetzt Missie tot.< Wir beteten für sie, was kann man sonst machen? Aber unser kleiner Nelson, der weinte nicht und betete nicht. Der nicht. Hat nie so an ihr gehangen wie Drake. Nichts Persönliches. Sie war ein Feind. Wir alle waren Feinde.«
»Wir, wer ist das genau gesagt, Mr. Hibbert?« fragte di Salis gewinnend.
»Europäer, Kapitalisten, Missionare: wir Ausbeuter allesamt, die es auf ihre Seelen abgesehen hatten oder auf ihre Arbeitskraft oder auf ihr Silber. Wir alle«, wiederholte Mr. Hibbert ohne die geringste Spur von nachträglichem Groll. »Sah in uns allen bloß Ausbeuter. Hat schon was für sich.« Eine Weile stockte das Gespräch, bis Connie es behutsam wieder in Gang brachte: »Na, sei's drum, Sie eröffneten also die Mission wieder und Sie blieben bis zum Sieg der Kommunisten neunundvierzig, ja, und während dieser vier Jahre wenigstens konnten Sie ein väterliches Auge auf Drake und Nelson haben. Stimmt das so, Mr. Hibbert?« fragte sie mit gezückter Feder.