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Wer immer er auch sein mochte, eins wurde deutlich, nämlich daß Craw einen Heidenrespekt vor dem kleinen Dicken hatte, denn er betitelte ihn sogar »Seine Heiligkeit«. - Luke war sich als Eindringling vorgekommen und hatte den Rückweg angetreten, ohne sich zu betrinken.

So standen also die Dinge. Thesingers heimliche Flucht, Old Craws naher Tod und Wiederauferstehung sein Schwanengesang trotz aller heimlicher Zensur; Lukes rastloses Interesse für die Geheimwelt; die schlaue Nutzbarmachung eines unvermeidlichen Übels durch den Circus. Nichts Geplantes, doch, wie das Leben so spielt, ein Eröffnungsstück zu vielem, das später geschah. Ein Taifun-Sonnabend; ein Kräuseln auf dem tückischen, stinkenden, öden, sterilen, wimmelnden Tümpel Hongkong, ein gelangweilter Chor, noch immer ohne einen Hauptdarsteller. Und seltsamerweise fiel es ein paar Monate später wiederum Luke in seiner Rolle als Shakespearescher Bote zu, die Ankunft des Helden zu verkünden. Die Nachricht kam über den Fernschreiber, als Luke gerade Bereitschaftsdienst hatte, und er machte sie mit seinem üblichen Eifer einem gelangweilten Publikum zugänglich: »Leute! Herhören! Eine Neuigkeit! Jerry Westerby ist wieder auf dem Kriegspfad, Männer! Nimmt Kurs gen Osten, hört ihr, arbeitet immer noch für das gleiche Revolverblatt!«

»Seine Lordschaft!« schrie der Zwerg mit gespielter Begeisterung.

»Endlich ein Schuß blaues Blut, damit hier ein anderer Ton einkehrt! Es lebe der Adel! Mit einem gemeinen Fluch schleuderte er eine Serviette nach dem Flaschenregal. »Herrgott«, sagte er und trank Lukes Glas aus.

 

Der große Ruf

Am Nachmittag traf das Telegramm ein. Jerry Westerby saß auf der Schattenseite des Balkons vor seinem heruntergekommenen Bauernhaus und hackte auf der Schreibmaschine, der Sack mit alten Büchern lag zu seinen Füßen. Den Umschlag brachte die schwarzgewandete Gestalt der Postmeisterin höchstpersönlich, eine finstere und ungehobelte Bäuerin, die durch den Rückzug der einstigen Führungsschicht zur ersten Macht in diesem toskanischen Drecknest geworden war. Sie war schon eine alte Hexe, aber eine so dramatische Gelegenheit wie heute konnte sie sich einfach nicht entgehen lassen, und so stapfte sie trotz der Hitze zügig den staubigen Pfad hinan. In ihrem Postbuch wurde der historische Augenblick später um fünf Uhr sechs festgehalten, was glatter Schwindel war, der Sache jedoch Nachdruck verlieh. Die wahre Zeit war punkt fünf Uhr. Im Haus hämmerte Westerbys zaundürres Mädchen, im Dorf die Waise genannt, auf ein zähes Stück Ziegenfleisch ein, voll Erbitterung, wie sie alles betrieb. Das gierige Auge der Postmeisterin machte sie schon aus beträchtlicher Entfernung hinter dem offenen Fenster aus: Ellbogen nach allen Seiten gespreizt und die oberen Zähne in die Unterlippe gepreßt: und bestimmt, wie üblich, mürrischen Blicks. »Hure«, dachte die Postmeisterin aufgebracht, »jetzt hast du's doch noch erwarten können.«

Das Radio schmetterte Verdi: die Waise mochte nur klassische Musik, wie das ganze Dorf seit jenem Abend in der Taverne wußte, als sie eine Szene gemacht hatte, nur weil der Dorfschmied Rockmusik aus der Jukebox spielen ließ. Sie hatte einen Krug nach ihm geworfen. Und der Verdi und die Schreibmaschine und die Ziege?, sagte sich die Postmeisterin. Der Krach war so ohrenbetäubend, daß ihn sogar ein Italiener gehört hätte. Jerry saß, so erinnerte sie sich, wie eine Heuschrecke auf dem Holzboden - vielleicht auch auf einem Kissen - und benutzte den Büchersack als Fußschemel. Er hockte mit auswärts gerichteten Füßen da und tippte zwischen den Knien. Manuskriptblätter voller Fliegendreck waren rings um ihn ausgebreitet, mit Steinen beschwert wegen der glühenden Winde, die den ausgebrannten Hügel heimsuchten, und neben seinem Ellbogen stand eine Korbflasche mit dem roten Landwein, gewiß für die selbst dem größten Meister bekannten Augenblicke, in denen die Inspiration ihn im Stich ließe. Er tippte nach Adlerart, berichtete sie später den bewundernden Lachern: kreiste immer lang herum, ehe er zustieß. Und er trug, was er immer trug, ob er sich nun sinnlos auf seinem Stück Land zu schaffen machte und das Dutzend unnützer Olivenbäume bestellte, die dieser Spitzbube Franco ihm angedreht hatte, oder mit der Waise ins Dorf hinunter zum Einkaufen zockelte oder in der Taverne bei einem Schnaps saß, ehe er sich wieder an den langen Aufstieg machte: Wildlederstiefel, denen die Waise noch nie einen Bürstenstrich hatte zukommen lassen und die folglich an den Zehen glänzten, Knöchelsocken, die sie niemals wusch, ein schmuddeliges Hemd, das vor langer Zeit weiß gewesen war, und graue Shorts, die aussahen wie von feindseligen Hunden zerkrallt und die eine anständige Frau längst geflickt hätte. Und er begrüßte sie mit dem gewohnten schnarrenden Wortschwall, der zugleich schüchtern und überschwenglich klang und den sie nicht im einzelnen verstand, aber doch im allgemeinen, wie eine Rundfunkmeldung, und den sie durch die schwarzen Lücken ihrer schadhaften Zähne erstaunlich getreu wiederzugeben vermochte.

»Mamma Stefano, sowas, super, müssen kochen. Hier, altes Haus, was zum Gurgeln«, rief er, während er die Ziegelstufen heruntergeschlurft kam und ihr ein Glas Wein anbot. Dabei grinste er wie ein Schuljunge, wie sein Spitzname im Dorf lautete: der Schuljunge, ein Telegramm für den Schuljungen, dringend, aus London! In neun Monaten nichts weiter als ein Packen broschürter Bücher und jede Woche ein gekritzelter Brief seiner Tochter, und jetzt aus heiterem Himmel dieses Denkmal von einem Telegramm, kurz wie ein Befehl, aber für die Antwort fünfzig Wörter im voraus bezahlt! Man stelle sich vor, fünfzig, was das bloß kostet! Nur natürlich, daß das halbe Dorf den Versuch gemacht hatte, es zu enträtseln.

Schon bei der Adresse waren sie steckengeblieben: »The honourable Gerald Westerby«. Warum? Der Bäcker, der als Kriegsgefangener in Birmingham gewesen war, förderte ein zerfleddertes Wörterbuch zutage: Höflichkeitstitel für den Sohn eines Adeligen. Natürlich. Signora Sanders, die auf der anderen Seite des Tals wohnte, hatte ja gleich gesagt, der Schuljunge habe blaues Blut. Zweiter Sohn eines Zeitungsbarons, hat sie gesagt, Lord Westerby, Zeitungsbesitzer, verstorben. Zuerst war die Zeitung gestorben, dann ihr Besitzer - laut Signora Sanders, ein Witz, er hatte die Runde gemacht. Dann folgte regret, kein Problem, das hieß Bedauern. Auch advise war nicht schwierig. Die Postmeisterin stellte erfreut und wider alles Erwarten fest, wieviel gutes Latein die Engländer trotz ihrer Dekadenz übernommen hatten. Das Wort guardian war heikel, denn es führte zu Protektor und von da zu plumpen Männerspäßen, die von der Postmeisterin erzürnt vom Tisch gefegt wurden. Bis schließlich Schritt für Schritt der Text entschlüsselt und die Geschichte klar war. Der Schuljunge hatte einen guardian, also eine Art Vormund. Dieser guardian lag lebensgefährlich krank im Spital und wollte den Schuljungen vor seinem Tod noch einmal sehen. Niemanden sonst wollte er sehen: Es mußte der Honourable Westerby sein. Rasch ergänzten sie das Bild: die schluchzende Familie umstand das Lager, die Ehefrau dem Sterbenden zunächst und untröstlich, elegante Priester zelebrierten die Letzte Ölung, Wertsachen wurden weggeschlossen und durch das ganze Haus, in Korridoren und Küchen, zog ein geflüstertes Wort: Westerby - wo ist der Honourable Westerby? Zuletzt waren noch die Unterzeichner des Telegramms zu identifizieren. Es waren drei, und sie bezeichneten sich als solicitors, ein Wort, das eine weitere Flut schmutziger Vermutungen auslöste, bis sie auf Notar kamen und die Gesichter schlagartig hart wurden. Heilige Jungfrau Maria. Wenn sie drei Notare brauchten, dann war eine Menge Geld vorhanden. Und wenn sie alle drei unterzeichnen wollten und noch dazu diese fünfzig Wörter Rückantwort zahlten, dann nicht nur eine Menge, sondern eine Unmenge! Haufen! Wagenladungen! Kein Wunder, daß sich die Waise so an ihn gekrallt hatte, diese Hure! Plötzlich riß sich jeder darum, zum Hügel hinaufzusteigen. Guido konnte mit seiner Lambretta bis zum Wassertank fahren, Mario konnte rennen wie ein Fuchs, Manuela, die Tochter des Krämers, hatte so sanfte Augen, die Trauerbotschaft würde ihr gut anstehen. Doch die Postmeisterin wies alle Freiwilligen ab - Mario mit einem tüchtigen Knuff ob seiner Anmaßung -, verschloß die Geldschublade und ließ ihren schwachsinnigen Sohn als Hüter der Poststelle zurück. Auch wenn es zwanzig Minuten Wüstenmarsch bedeutete und - falls dort droben dieser Glutwind blasen sollte - einen Mundvoll roten Staub für ihre Mühe.