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Sie hatte Jerry anfangs nicht richtig eingeschätzt. Das bedauerte sie jetzt, während sie sich durch die Olivenhaine hügelan mühte, aber der Irrtum hatte seine Gründe. Erstens war er im Winter angekommen, wenn die billigen Kunden eintreffen. Er kam allein, aber er hatte den gejagten Blick eines Mannes, der vor kurzem eine Menge menschlichen Ballast abgeworfen hat, Kinder, Ehefrauen, Mütter: die Postmeisterin hatte zu ihrer Zeit manchen Mann gekannt und dieses weidwunde Lächeln allzuoft gesehen, um es bei Jerry zu mißdeuten: »Ich bin verheiratet, aber zu haben«, besagte es, und keine von beiden Behauptungen war wahr. Zweitens hatte ihn der parfümierte englische Major angeschleppt, ein allbekanntes Schwein, das ein Immobilienbüro betrieb und die Bauern übers Ohr haute: ein weiterer Grund, den Schuljungen links liegen zu lassen. Der parfümierte Major zeigte ihm mehrere schmucke Anwesen, darunter eines, an dem die Postmeisterin finanziell beteiligt war - übrigens zufällig das schönste von allen -, doch der Schuljunge entschied sich statt dessen für die Bruchbude dieser Tunte Franco droben auf dem gottverlassenen Hügel, den sie nunmehr erklomm: den Teufelshügel nannten sie ihn; der Teufel kam dorthin, wenn es ihm in der Hölle zu kalt wurde. Ausgerechnet Franco, der seine Milch und seinen Wein panschte und sonntags mit einer Bande von Zierbengeln auf der Piazza in der Stadt herumstolzierte. Der Wucherpreis betrug eine halbe Million Lire, wovon der parfümierte Major sich ein Drittel unter den Nagel reißen wollte, bloß weil ein Vertrag bestand. »Und jeder weiß, warum der Major den Franco begünstigt hat«, zischte sie sabbernd durch die Zahnlücken und die Meute ihrer Anhänger sahen einander wissend an und machten »Ts, ts«, bis sie ihnen unwirsch befahl, damit aufzuhören. Außerdem mißtraute sie als erfahrene Frau irgend etwas an Jerrys Äußerem: Härte unter der Liederlichkeit. Sie hatte das schon früher an Engländern beobachtet, aber der Schuljunge bildete eine Klasse für sich, und sie mißtraute ihm: sie hielt ihn für gefährlich, trotz seines beharrlichen Charms. Heute ließen sich diese früheren Mängel auf die Spleenigkeit eines adeligen englischen Schriftstellers zurückführen, aber seinerzeit hatte die Postmeisterin ihm keine mildernden Umstände zugebilligt. »Wartet bis zum Sommer«, hatte sie ihre Kunden brummig gewarnt, schon bald nachdem er zum erstenmal in ihren Laden gelatscht war - pasta, Brot, Fliegentöter. »Im Sommer wird ihm aufgehen, was er da gekauft hat, der Schwachkopf.« Im Sommer würden Francos Mäuse das Schlafzimmer stürmen, Francos Flöhe würden ihn bei lebendigem Leib auffressen und Francos schwule Hornissen würden ihn im Garten herumjagen, und der Höllenwind würde ihm den Schwanz zu Klumpen schmoren. Es würde kein Wasser mehr geben, er würde seine Notdurft auf den Feldern verrichten müssen wie ein Tier. Und wenn es dann wieder Winter würde, könnte der parfümierte Schweinekerl von einem Major das Haus dem nächsten Narren andrehen, ein Verlustgeschäft für jeden, außer ihm selbst.

Von hoher Abkunft verriet der Schuljunge in den ersten Wochen nicht die Bohne. Er feilschte nie, hatte nie etwas von Preisnachlässen gehört, es machte nicht einmal Spaß, ihn auszunehmen. Und wenn sie im Laden dafür sorgte, daß ihm sein armseliges bißchen Küchenitalienisch ausging, dann fing er nicht an, auf sie einzubrüllen, wie es bei richtigen Engländern Usus ist, sondern zuckte nur vergnügt die Achseln und bediente sich selbst. Er schreibe, hieß es. Na und?, wer tat das heutzutage nicht? Schön, er kaufte ihr Stöße von Kanzleipapier ab. Sie bestellte mehr, er kaufte es. Bravo. Er besaß Bücher: stockfleckige Schmöker allem Anschein nach, die er in einem grauen Jutesack - wie ein Wilderer - herumschleppte, und ehe die Waise ankam, konnte man ihn häufig querfeldein marschieren sehen, den Büchersack über der Schulter, um sich irgendwo zum Lesen niederzulassen. Guido war im Wald der Contessa auf ihn gestoßen, wo er wie eine Kröte auf einem Holzstoß hockte und die Bücher eines nach dem anderen durchblätterte, als wären sie ein einziger Band und als wüßte er nicht mehr, wo er stehengeblieben war. Außerdem besaß er eine Schreibmaschine, deren schäbige Hülle ein Flickwerk aus abgeschabten Kofferetiketten war: Bravo auch hierfür. So wie jeder Langmähnige, der einen Topf Farbe gekauft hat, sich Künstler schilt: das war seine Schreiberei. Im Frühling kam die Waise an, und die Postmeisterin haßte sie gleichfalls. Eine Rothaarige, was sie schon von Anfang an als halbe Hure kennzeichnete. Nicht genug Busen, um ein Kaninchen zu stillen, und, schlimmer noch, eine flinke Kopfrechnerin. Es hieß, er habe sie in der Stadt aufgegabelt: klar, eine Hure. Vom ersten Tag an hatte sie ihn nicht mehr aus den Augen gelassen. Klebte an ihm wie ein Kind. Aß mit ihm und schmollte; trank mit ihm und schmollte; ging mit ihm einkaufen, stahl sich die Sprache zusammen wie ein Dieb, bis die beiden zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend gehörten: der englische Riese und seine schmollende sauertöpfische Hure, wie sie mit ihrem Binsenkorb den Hügel hinabzogen, der alles und jedes angrinsende Schuljunge in seinen zerrissenen Shorts, die verbiesterte Waise in ihrer Hurenkutte mit nichts darunter, so daß die Männer ihr, obwohl sie spindeldürr war, nachstarrten, um ihre harten Hüften unter dem Stoff schaukeln zu sehen. Im Gehen hatte sie alle Finger um seinen Arm gekrallt und die Wange an seiner Schulter, und sie ließ nur locker, während er knickerig aus der Börse bezahlte, für die jetzt sie zuständig war. Wenn sie einem bekannten Gesicht begegneten, grüßte er es für beide, indem er wie ein Faschist den langen freien Arm hochwarf. Und Gott sei dem Manne gnädig, der, wenn sie ausnahmsweise allein ging, ein anzügliches Wort oder einen bewundernden Pfiff riskierte: sie fuhr, herum und fauchte wie eine Wildkatze, und in ihren Augen brannte ein höllisches Feuer.

»Und jetzt wissen wir, warum!« rief die Postmeisterin laut, als sie bei ihrem Aufstieg einen Kamm erklettert hatte. »Die Waise ist hinter seiner Erbschaft her. Warum sollte eine Hure sonst treu sein?«

Der Besuch Signora Sanders' veranlaßte Mamma Stefano zu einer dramatischen Kehrtwendung in der Einschätzung des Schuljungen und zur Aufdeckung der Motive der Waise. Die Sanders war reich und züchtete Pferde weiter draußen im Tal, wo sie mit einer Freundin hauste, genannt die Knäbin, weil sie kurzgeschorenes Haar und Kettengürtel trug. Ihre Pferde gewannen überall Preise. Die Sanders war gerieben und gescheit und genügsam auf eine Art, die den Italienern zusagte, und sie kannte jeden der wenigen über die Hügel verstreuten bemoosten Engländer, die des Kennens wert waren. Sie war vor etwa einem Monat in den Laden gekommen, vorgeblich um Schinken zu kaufen, aber ihr wirkliches Anliegen war der Schuljunge. Stimme es, fragte sie, »Signor Gerald Westerby, und er wohnt im Dorf? Ein großer, sportlich gebauter Mann, graumeliert, voll Energie, Aristokrat, schüchtern?« Ihr Vater, der General, habe die Familie in England gekannt, sagte sie; eine Zeitlang waren sie auf dem Land Nachbarn gewesen, der Vater des Schuljungen und der ihre. Die Sanders überlegte, ob sie ihm einen Besuch machen solle: sie erkundigte sich nach den genaueren Umständen. Die Postmeisterin murmelte etwas über die Waise, aber die Sanders war nicht zu erschüttern: »Ach, die Westerbys haben schon immer ihre Frauen gewechselt«, sagte sie lachend und wandte sich zur Tür. Verblüfft hielt die Postmeisterin sie zurück und überschüttete sie mit Fragen.