Kapitel 1
Am Rande eines abgelegenen Dorfes im hintersten Südwesten Missouris lebte ein alter Farmer namens John Gray. Das Dorf hieß Deer Lick. Es war ein verschlafener Weiler mit verstreut liegenden Häusern. Die sechs- oder siebenhundert Einwohner wußten dunkel, daß es draußen in der großen weiten Welt solche Dinge wie Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraphen und Zeitungen gab, doch waren sie mit ihnen noch nicht persönlich bekannt geworden und fanden sie ungefähr so spannend wie die Belange des Mondes. Ihr Herz gehörte der Sau und dem Mais. Die Bücher an der primitiven Dorfschule waren über eine Generation alt; der in die Jahre gekommene presbyterianische Pfarrer, Reverend John Hurley, bot immer noch Feuer und Schwefel einer überlebten Theologie feil; selbst der Schnitt der Kleidung war hier seit Menschengedenken unverändert geblieben.
John Gray stand mit fünfundfünfzig noch haargenau so da wie vor dreißig Jahren, als er seine kleine Farm geerbt hatte. Mit harter Arbeit vermochte er aus dem Stück Land seinen Lebensunterhalt herauszuholen; mehr war nie drin gewesen, sosehr er sich auch anstrengte. Er hatte durchaus von größerem Wohlstand geträumt, doch die Hoffnung, ihn durch seiner Hände Arbeit zu erwerben, war ganz allmählich in ihm abgestorben, und schließlich war ein alter Griesgram aus ihm geworden. Er hatte nur noch eine einzige Chance: seine Tochter mit einem reichen Mann zu verheiraten. Daher zeigte er sich erfreut, als zwischen Mary Gray und dem jungen Hugh Gregory eine gewisse Vertrautheit aufkeimte; Hugh war nicht nur ein gutmütiger, anständiger und fleißiger Junge, er konnte auch mit einem ganz ordentlichen Erbe rechnen, wenn sein betagter Vater aus dem Leben schied. John Gray ermutigte den jungen Mann aus purem Eigennutz; Mary ermutigte ihn, weil er groß, aufrichtig, gutaussehend und naiv war, außerdem mochte sie kastanienbraune Locken lieber als jede andere Haartracht. Sarah Gray, die Mutter, ermutigte ihn, weil er Mary gefiel. Sie hätte alles getan, um Mary zu erfreuen, denn sie war ihr ein und alles.
Hugh Gregory war siebenundzwanzig, Mary zwanzig. Sie war ein sanftes Mädchen, reinen Herzens und schön, außerdem pflichtbewußt und gehorsam, so daß selbst ihr Vater sie liebte, soweit es ihm gegeben war, irgend etwas zu lieben. Mittlerweile machte Hugh Mary schon täglich seine Aufwartung; sie unternahmen lange Ausritte, wenn das Wetter es erlaubte, und saßen abends beim trauten Gespräch eng beieinander in einer Ecke des Wohnzimmers. Die Alten und Marys jüngerer Bruder Tom blieben am Kamin unter sich und beachteten sie nicht. John Gray wurde zusehends milder. Mit der Zeit ließ er das Brummen und Schmollen. Sein steinernes Gesicht nahm zufriedene Züge an. Er lächelte sogar ab und zu, versuchsweise.
Eines stürmischen Winterabends kam Mrs. Gray strahlend ins Bett, eine Stunde später als ihr Mann, und flüsterte: «John, endlich ist alles unter Dach und Fach. Hugh hat ihr die Frage gestellt!»
John Gray sagte: «Sag das noch mal, Sally, sag das noch mal!»
Sie sagte es noch mal.
«Ich möchte am liebsten aufspringen und hurra schreien, Sally. Das ist ja nicht auszuhalten, so gut ist das! Was wird Dave jetzt wohl sagen! Der kann mit seinem Geld bleiben, wo der Pfeffer wächst - interessiert doch keinen.»
«Tja, Vater, es interessiert wirklich keinen. Und was für ein Glück, denn falls dein Bruder uns jemals sein Geld vermachen wollte, wird er es jetzt bestimmt nicht mehr tun, er haßt Hugh wie die Pest - seit damals, als er versucht hat, Hughs Vater um die Hickory-Flat-Farm zu betrügen, und Hugh hat sich eingeschaltet und die Sache verhindert.»
«Mach dir mal keine Sorgen um irgendwelches verlorene Geld von Dave, Sally. Seit dem Tag vor zwölf Jahren, als wir uns zerstritten haben, hat er mich nur immer mehr gehaßt, und ich ihn auch. Bruderzwist heilt nicht leicht, Mutter. Er ist die ganze Zeit immer reicher und reicher und reicher geworden, und dafür hasse ich ihn. Ich bin arm, er ist der reichste Mann im County - und dafür hasse ich ihn. Was würde der uns schon groß vermachen!»
«Na ja, du weißt doch, daß er Mary früher ganz schön verzärtelt hat, vor eurem Streit, und da dachte ich, vielleicht - »
«Unsinn! Das war die Zärtlichkeit eines alten Junggesellen -da steckt für Mary kein Geld drin - darauf kannst du Gift nehmen. Und selbst wenn, dann wäre es jetzt damit vorbei, genau wie du sagst: Der würde ihr keinen Cent geben, an den Hugh Gregory jemals rankäme.»
«Dave ist ein altes Ekel, Vater, wie man’s auch dreht und wendet. Ich wünschte, Hugh könnte woanders schlafen, wenn er über Nacht im Dorf bleiben muß, statt im selben Haus wie David Gray. Hughs Vater hat schon versucht, Dave zu überreden, daß er mit seinem Büro umzieht, und zwar mehrfach, aber der beharrt auf seinem Mietvertrag. Es heißt, er steht jeden Morgen an der Eingangstür und wartet darauf, daß Hugh die Treppe herunterkommt, nur damit er ihn beschimpfen kann. Mrs. Sykes hat mir erzählt, sie hat gehört, wie Dave vor ungefähr sechs Wochen Hugh beleidigte, als drei oder vier Leute vorbeikamen. Sie hat darauf geachtet, ob Hugh aus der Haut fährt, aber von wegen. Er hat an sich gehalten und keinen Ton gesagt außer <Mr. Gray, irgendwann machen Sie das einmal zu oft>. Dave hat ihn ausgelacht und gesagt: <Ja, klar, das sagst du immer - tu lieber was, statt andauernd drüber zu reden!>»
«Na, wir gehen jetzt jedenfalls schlafen, Mutter. Ich schätze, bei uns ist jetzt alles auf dem richtigen Weg, endlich. Hugh und Mary - unsere Kinder - ich wünsche ihnen Glück und ein langes Leben - Gott segne sie!»
Kapitel 2
Gegen acht Uhr am nächsten Morgen kam Reverend John Hurley an John Grays Tor geritten, band sein Pferd fest und stieg die Eingangsstufen hoch. Die Familie hörte, wie er sich den Schnee von den Stiefeln stampfte, und Mr. Gray warf Mary einen schalkhaften Blick zu: «Mir scheint, Hugh kommt jeden Morgen ein bißchen früher, wie, mein Schatz?»
Mary errötete, und in ihren Augen blitzte freudiger Stolz auf, was sie nicht daran hinderte, zur Tür zu laufen, doch sie begrüßte - den falschen Mann. Als der alte Kirchenmann vor der ganzen Familie stand, sagte er: «Freunde, ich bringe euch großartige Neuigkeiten!»
«Ach ja?» sagte John Gray. «Immer raus damit, Hochwürden, und dann überbiete ich sie mit noch besseren Neuigkeiten, die ich für Sie habe.»
Mit einem Seitenblick neckte er Mary, die ihren Kopf senkte. Der alte Pfarrer sagte: «Gut - also erst meine Neuigkeiten, dann Ihre. Wie Sie wissen, ist David Gray schon seit einem Monat in South Fork, um dort nach seinem Besitz zu sehen. Ja, und neulich abends war er bei meinem Sohn zu Gast; das Gespräch kam darauf, daß er vor ungefähr einem Jahr sein Testament gemacht hat, und er hinterläßt jeden Cent seines Vermögens - na, wem wohl? - genau, unserer kleinen Mary hier - ihr und keiner anderen! Sie können’s mir glauben, ich hab’ keine Zeit verloren, seit ich den Brief meines Sohnes las, ich bin sofort hergekommen, um Ihnen davon zu erzählen -denn das, hab’ ich mir gesagt, das wird die beiden entzweiten Brüder wieder zusammenbringen, und mit Gottes Gnade werden meine alten Augen noch sehen, daß wieder Frieden und Eintracht zwischen ihnen herrscht und sie sich brüderlich lieben. Ich bringe Ihnen die verlorene Liebe Ihrer Jugend zurück, John Gray - das übertrumpfen Sie mal mit besseren Neuigkeiten! Na los, was haben Sie mir zu bieten?»
Alles Leben war aus John Grays Gesicht gewichen. Er schaute finster, verstört und bestürzt drein. Als hätte er soeben von einem niederschmetternden Unglück erfahren. Er nestelte an seiner Kleidung herum, wich dem neugierigen Blick aus, der auf ihn gerichtet war, stammelte einige Worte und gab es wieder auf. Die Situation wurde langsam peinlich. Um sie zu retten, kam ihm Mrs. Gray zu Hilfe, mit «Unsere großen Neuigkeiten sind, daß unsere Mary hier - »