Eines Tages saß der Graf ein Stündchen bei David Gray im Büro und plauderte über dies und das. Er brachte das Gespräch allmählich auf das Thema Heirat und wollte gerade dazu kommen, daß er sich einige Hoffnungen auf Mary Gray machte, als David plötzlich nach draußen gerufen wurde. Der Graf vertrieb sich die Zeit damit, alle möglichen Blätter und Dokumente zu betrachten, die herumlagen oder aus halb offenen Schubladen schauten. Ein Papier las er mit besonderem Interesse und sagte dann: «Nur gut, daß ich’s noch mal überprüft habe; jetzt bin ich beruhigt. War also doch nur ein Gerücht.»
Er machte sich auf zu John Grays Haus. Als er nach Mary fragte, erfuhr er, sie sei im Obstgarten. Dort schlenderte er über die Wege, bis er in einer abgelegenen Ecke den Zipfel eines Kleides bemerkte, der hinter einem Baum hervorlugte; an dieser Stelle stand eine rustikale Gartenbank, groß genug für zwei Personen, die sich in den letzten zwölf Monaten gelegentlich als sehr nützlich erwiesen hatte. Er näherte sich und stand plötzlich vor Mary. Hastig versteckte sie Hugh Gregorys Bild in ihrem Ausschnitt und sprang auf, sich die Augen tupfend - denn sie weinte.
«Mary, meine verehrte, meine angebetete Freundin», sagte der Graf und nahm ihre Hand, formvollendet wie immer. «Es bricht Ihnen das Herz, und ich bin schuld daran. Welch Unglück, daß ich Sie sah, bevor ich sah, daß Sie - ihn lieben. Sie zu sehen und Sie zu lieben war eins. Dagegen ließ sich nichts ausrichten. Später, als ich erfuhr, daß Ihr Vater diese Heirat verboten hatte, erschien mir meine Liebe nicht mehr unrecht Ihnen oder dem armen Hugh gegenüber und ich gab mich der Wahnvorstellung hin, Sie könnten mir vielleicht nach und nach einen Platz in Ihrem Herzen gewähren. Doch ich fürchte, es kann nicht sein. Ihre Tränen, Ihr Kummer gelten Hugh, und er ist es weiß Gott auch wert. Ich muß versuchen, Sie aufzugeben. Um Ihretwillen, die ich mehr liebe als Leben, Vermögen und Ruf - mehr als meine Seele! -, muß ich das Unmögliche versuchen! Sagen Sie nichts, ich beschwöre Sie! -Ich kann den süßen Klang Ihrer Stimme nicht hören, ohne meinem Entschluß untreu zu werden. Mein Wesen gehorcht dem Impuls. Der Anblick Ihres Jammers, dessen Zeuge ich soeben wurde, hat blitzartig die Kraft in mir geweckt, dieses Opfer darzubringen, und ebenso blitzartig muß ich meinem Entschluß folgen und mich dem Anblick Ihres Gesichts und dem Klang Ihrer Stimme entziehen, sonst muß ich scheitern. Ich gehe ich gebe mein Bestes - möge Gott mir einen schnellen Tod gönnen - mehr will ich nicht! Und kein Wort! Nicht ein Wort, ich flehe Sie an! Meine Geliebte, meine Geliebte, leben Sie wohl, und Gott schütze Sie!»
Sein Taschentuch vors Gesicht gepreßt, eilte er einen Augenblick später zum Haus zurück. Mary Gray stand da wie eine Salzsäule und starrte ihm nach, bis er verschwunden war. Dann schluchzte sie: «Oh, wie hab’ ich ihn verkannt! Er ist von tausendmal edlerem Wesen, als das vornehmste Blut und der älteste Stammbaum ihn machen könnten. Vor fünf Minuten noch hätte ich ihn fast gehaßt. Und jetzt - ja, jetzt könnte ich ihn fast - lieben! Oh, wie ich dich respektieren, ehren, verehren werde, solang ich lebe - du großes, reines, edles Herz!»
Kapitel 5
Drei Tage lang bekamen die Grays den Grafen nicht zu Gesicht. Vater und Mutter wunderten sich, sagten aber wenig, denn ihnen fiel auf, daß Mary in besserer Stimmung war als sonst, woraus sie schlossen, daß die Dinge zwischen ihr und dem Grafen vorangeschritten seien.
Bei Einbruch der Dunkelheit am dritten Tag stand der Graf an einer Ecke im Dorf und wechselte ein paar Worte mit David Gray, als Hugh Gregory vorbeiging; und innehielt; zögerte; umkehrte und den Grafen fragte, ob er vorhabe, demnächst nach Hause zu gehen. Bevor der Graf antworten konnte, sagte David Gray: «Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht mit mir, Graf, wo es doch bessere, anständigere und freundlichere Leute gibt, mit denen Sie sich umgeben können. Ich werde Sie nicht länger aufhalten.»
«Haben Sie mich damit gemeint, Sir?» fragte Hugh.
Mehrere Passanten blieben stehen, um zuzuhören.
«Jawohl, damit habe ich allerdings Sie gemeint, mein Herzchen. Sie sind hier nicht stehengeblieben, um dem Grafen etwas zu sagen. Sondern weil Sie dachten, es würde mich ärgern. Das wissen Sie ganz genau. - So machen Sie es immer. Sie denken vielleicht, ich kenne Sie nicht. Aber Ihresgleichen war doch hinter Mary Gray her, nicht wahr? Und alles aus Liebe. Na sicher - und natürlich ohne eine Ahnung davon, daß ich ihr meine bescheidenen Ersparnisse hinterlassen wollte. Nein, natürlich nicht! Aber Ihnen werd’ ich das eine oder andere zeigen, mein Bürschchen. Wenn ich die nächsten achtundvierzig Stunden überlebe, mache ich ein neues Testament, und in dem kommt Mary Gray nicht mehr vor. Sie brauchen mich gar nicht so grimmig anzuschauen, mein Freund, das lasse ich mir nicht bieten.»
«Es hat keinen Zweck, sich mit einem Wahnsinnigen zu streiten», sagte Hugh mit bemühter Ruhe. «Ich werde besser - »
Der Stock des zornentbrannten Alten krachte auf Hughs Kopf, als dieser sich gerade auf dem Absatz umdrehte, brachte ihn ins Wanken und unterbrach seinen letzten Satz. Im nächsten Augenblick schoß Hughs Faust auf Schulterhöhe nach vorn und streckte David Gray der Länge nach hin. Voller Wut wollte sich Hugh auf ihn stürzen, wurde jedoch von mehreren Umstehenden ergriffen und davongezerrt, während er sich loszumachen versuchte und ausrief: «Laßt mich los! Laßt mich! Er hat mich hundertmal aufs schlimmste beleidigt, jetzt kann mich nichts mehr davon abhalten, die Rechnung zu begleichen!»
Kapitel 6
Gegen zehn Uhr am nächsten Morgen betrat der Graf John Grays Haus, und John Grays Herz lachte wieder. Seine Lordschaft schaute matt, mutlos und melancholisch drein und sagte: «Fern von diesem Haus zu sein ist elend; es gibt kein Glück als hier! Mein Herz dürstet - laßt mich Mary sehen!»
Dem Wunsch wurde umgehend entsprochen; Mary kam, die anderen gingen. Der Graf sagte: «Oh, ich mußte kommen - ich konnte nicht leben, wo Sie nicht waren! Ich habe mich so bemüht, Sie zu vergessen - um Ihretwillen -, doch es überstieg meine Kräfte. Schauen Sie mich an - und betrachten Sie jedes Haar auf meinem Kopf, jeden Zug auf meinem Gesicht als einen Zeugen der Qualen, die ich erlitten habe. Ich konnte nicht rasten noch ruhen. Ich bin gekommen, mich Ihnen auf Gnade und Ungnade zu ergeben - Sie um Mitleid anzuflehen, um mein Leben zu betteln. Denn ohne Sie kann ich nicht leben. Ich habe es mir abverlangt, mit grausamer Härte abverlangt - und bin gescheitert. Haben Sie Erbarmen!»
Marys Mitgefühl loderte hoch auf, ihre Tränen fielen wie der Regen. Sie versuchte, etwas Tröstliches zu sagen; er antwortete mit leidenschaftlichen Beschwörungen. Und so ging das unglückliche Ringen weiter, bis John Gray ins Zimmer platzte und rief: «David ist ermordet worden! Und Hugh Gregory sitzt deshalb im Gefängnis!»
Mary fiel in Ohnmacht.
Den ganzen Tag war das Dorf in Aufruhr. Das Alltagsleben stand still. Eine Menschenmenge sammelte sich vor David Grays Büro und ereiferte sich stundenlang über den Mord, geduldig auf eine Gelegenheit wartend, hineinzukommen und das schaurige Spektakel drinnen anzustarren. Der Tote lag in einem Meer von Blut. Die umgestürzten Möbel zeigten, daß ein Kampf stattgefunden hatte. Auf dem Schreibtisch lag ein Blatt, vom Block abgerissen, auf dem David Gray einen Satz begonnen, dessen Ende jedoch nicht mehr erlebt hatte -nämlich: «Ich, David Gray, der ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und - »
Neben der Leiche war ein Stoffetzen gefunden worden, der genau zu einer abgerissenen Ecke von Hugh Gregorys Rockschoß paßte; und auf Hughs Beinkleidern entdeckte man mehrere winzig kleine Blutspritzer. Da lag der Eröffnungssatz eines Testamentes, und dieses Testament sollte das zukünftige Vermögen des Mädchens hinwegfegen, dessen Ehemann Hugh Gregory eines Tages zu werden hoffte. Man raunte, Hughs Vater sei in letzter Zeit gefährlich ins Wanken geraten, in finanzieller Hinsicht; der Zwischenfall des Vorabends wurde ausführlich erörtert. Dann kam jemand mit der Bemerkung, die Hugh einst gemacht hatte, daß David Gray ihn «irgendwann einmal zu oft» schmähen und beleidigen würde.