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VI

Twain ist modern. Und auf eine verwirrende Weise modern tritt uns, der verspäteten Öffentlichkeit von Eine Bluttat, ein Betrug und ein Bund fürs Leben auch die allerletzte Wendung der Geschichte entgegen. Eigentlich ist das Wesentliche bereits geschehen. Der unschuldige Jüngling Hugh, der schon den Kopf in der Schlinge hatte, ist vom Galgen gerettet, die amerikanische Jungfrau ist der Schändung durch den ruchlosen Franzosen entgangen, den bösen Buben hat die lokale Obrigkeit in ihre Obhut genommen, und die Triebe jugendlicher Liebe sind in das Beet einer christlichen Ehe gepflanzt worden. In einem zuletzt fast grotesken Galopp scheint Twain seinen Plot erledigt zu haben, als er mit «Die Beichte des Grafen» ein abschließendes Kapitel aus dem Hut zaubert.

Vordergründig dient dieser Epilog noch dazu, einige fehlende Erklärungen nachzutragen. Wenn man die kausale Folge der Ereignisse in einer realistischen Erzählung mit einem menschlichen Gebiß vergleichen darf, dann geht es darum, letzte Zahnlücken in diesen Kiefern, in ihrem RealismusKonzept, zu schließen. Aber effektvoller und wichtiger ist eine bizarre Enthüllung, die im bisherigen Verlauf der Geschichte durch nichts angedeutet war und die auch nicht als Pointe nötig wäre. Als einen seltsamen Überschuß, als Pointe der Pointe, erfährt man: Der böse Franzose war vormals der Assistent des berühmten Schriftstellers Jules Verne.

«Wo bin ich?» möchte da, gleich dem abgestürzten Luftschiffer, der heutige Leser fragen. Denn wenn der flotte Durchmarsch durch die vorangegangene Handlung unser Ballonflug mit Mark Twain war, dann sind wir jetzt mit ihm aus dem sicheren Rund des Korbs gefallen. Und vielleicht würde Twain, könnte er unsere Frage hören, gleich seinem griesgrämigen Farmer erst einmal mit einem Fluch antworten. Zumindest ist der Ingrimm, mit dem dieses letzte Kapitel geschrieben wurde, nur notdürftig mit Ironie kaschiert. Wie immer, wenn ihm etwas wirklich wichtig ist, kann das Feigenblatt des satirischen Witzes die Blöße von Twains Wut nicht decken.

VII

Einen französischen Idioten, unter dem die Welt schon viel gelitten habe, hat Twain seinen Zeitgenossen Jules Verne in einem Brief einmal genannt. Aber das ist nur ein Urteil im Schutzraum der privaten Korrespondenz. Mit unserer Erzählung holt Twain nun auf dem Feld der Literatur zum Schlag gegen den Kollegen aus, und nur das seltsame Schicksal des Textes hat verhindert, daß seine Attacke zu Lebzeiten öffentliche Resonanz fand. Im selben Jahr, in dem Twain den französischen Bestsellerautor zu einer literarischen Figur macht, hatte sich dieser eine Jacht gekauft und begonnen, durch südliche Gefilde zu segeln. Der sieben Jahre ältere Jules Verne ist genau das geworden, was Twain anstrebt: ein weltberühmter Autor, der die Massen erreicht und dauerhaft vom Ertrag seiner Bücher lebt.

In seiner Geschichte wirft Twain dem Bestsellerautor vor, Romane über Erfahrungen zu schreiben, die nicht die seinen seien. Jener Fremde, der so viel Unheil in Deer Lick angerichtet hat, ist in der nun noch enthüllten Vorgeschichte selbst ein armes Opfer. Der skrupelloser Erfolgsschriftsteller Jules Verne hat ihn auf gefährliche Fahrten geschickt, um dann die Erlebnisse seines Stellvertreters nicht nur nachzuerzählen, sondern auch noch zu verfälschen und maßlos zu übertreiben.

Twain weiß, wovon er hier spricht. Denn das, was er dem verhaßten Kollegen unterstellt, hat er fünf Jahre zuvor selbst geplant. Ein amerikanischer Journalist sollte an seiner Statt nach Südafrika reisen, um Material über das dortige Diamantenfieber zu sammeln. Wie der Jules Verne seiner Geschichte wollte Mark Twain dann die Erfahrungen eines anderen unter seinem gut eingeführten Namen publizistisch vermarkten.

Im Epilog von Twains Geschichte geht es also um das Eigene: Tiefer, als dem Verfasser wohl bewußt war, sind seine Leser im Herzen eines amerikanischen Autors angekommen. Finster sieht es dort aus. Und vieles, was uns durch Twains Erzähl- und Dialogkunst an den Bewohnern von Deer Lick deutlich wird, scheint auch für ihn zu gelten. Ihre Sehnsucht nach dem schnellen Reichtum war auch lebenslang die seine. Und ähnlich wie die Hinterwäldler von Missouri kann er das Geld der modernen Kapitalwirtschaft, diese wichtigste Abstraktion männlichen Denkens, nicht als das erste umfassende Medium der Wertumwandlung verstehen und gelten lassen. In einem fast sektiererisch strengen Sinne bleibt es für ihn mit der Todsünde der Gier verbunden. Sein heißer Wunsch nach Teilhabe an der Dynamik der großen Geschäfte gerät schnell in Konflikt mit jener Moral, die religiös Verfolgte aus Europa nach Amerika mitgebracht haben und die jeden leidenschaftlichen Umgang mit Besitz verurteilt. Man hat Geld, man erwirbt und mehrt es, aber man schämt sich klammheimlich für die Gefühle, die mit diesem Verkehr verbunden sind.

VIII

Den schamlosen Genuß ihrer Unmoral aber hat Twain den Franzosen, deren ethische Defizite er immer wieder geschmäht hat, vielleicht am meisten vorgeworfen. Und so ist es naheliegend, daß er den französischen Bösewicht, der schon eine schwülstig verlogene Ansprache an Mary halten durfte, nun auch noch ein keckes Geständnis, frei von Schuldbewußtsein und Reue, verfassen läßt. Aber diese freche Beichte verrät durch ihre Sprache, durch die Kraft ihrer Bilder und ihre rhetorischen Zuspitzungen, wer hier vor den Lesern den zynisch lästernden Franzosen gibt.

Aus dem Schluß der Erzählung hören wir den Mark Twain der Notizbücher und der Briefe, jenen Twain, der kein Blatt vor den Mund nehmen muß. Durch die Larve des Franzosen spricht der Autor, der ansonsten die Werke, die er für seine radikalsten hielt und die seine bittersten sind, wohlweislich nur anonym ins Licht der amerikanischen Aufmerksamkeit treten ließ. Die Charaktere der Provinz, denen der Erzähler anfangs noch Rudimente von Mitgefühl, zumindest die Empathie der Beschreibung und des Hinhörens gönnte, diese Durchschnittsamerikaner werden im Epilog des Textes nur mit verächtlicher Ignoranz an den Rand der Betrachtung geschoben.

Schlimmer noch als die Verachtung, mit der die Dörfler bedacht werden, ist jedoch die Empfindung, die am Schluß der Erzählung um die Figur des Autors aufsteigt. Autorschaft scheint überhaupt der nur notdürftig verborgene Anlaß und der emotionale Brennpunkt dieser merkwürdigen Beichte zu sein. Gleich drei Autoren werden kenntlich. Zwei davon sind Europäer. Jules Verne wird als fahrlässiger Serienschreiber und skrupelloser Textunternehmer gezeichnet. Und einen

Autor der ärmsten Art gibt der Erzähler. Er ist der von Verne ausgebeutete Geschichtenlieferant, der mit seiner «Beichte» zum ersten Mal einen Bericht mit eigenem Namen zeichnen darf. Beide sind des Todes: Der Gehilfe Vernes schreibt vor seiner Hinrichtung, und der Jules Verne des Textes ist zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Gondel des Ballons in die Tiefe gestürzt worden.

Die Mordlust aber, eine böse Freude am Untergang der Kollegen, muß dem Konto des dritten Autors gutgeschrieben werden. Mark Twain ist es, der die beiden europäischen Textfabrikanten sterben läßt. Und wer das letzte Kapitel unter der Perspektive moderner Autorschaft liest, sieht, wie geschickt Twain auf die beiden Franzosen die qualvollen Nöte und die sehnsüchtigen Wünsche des modernen Autors verteilt hat. Der Gehilfe Vernes erleidet nichts anderes als das, was Twain seit seinen ersten Anfängen als Schriftsteller betreiben mußte: die gnadenlose Ausbeutung der eigenen Erfahrung im Dienst nahezu pausenloser Produktion.

IX

Als Journalist, als Reiseschriftsteller, als Vortragsredner und sogar als Romancier zehrt Twain in einem Ausmaß vom Fleisch des Erlebten, wie es erst die modernen Verhältnisse der Textverwertung erzwungen haben. Was er in den wilden Jahrzehnten der werdenden USA und auf Reisen mitgemacht hat, mußte in rascher Folge zu einem verwertbaren Produkt werden. Twain konnte meist keine Rücksicht darauf nehmen, daß Erlebtes Zeit braucht, um zu Erfahrung zu gerinnen. Ja, manchmal waren die Erfahrungen schon verkauft, bevor sie gemacht werden konnten. Und wer nur ein Dutzend von Twains Gelegenheitsarbeiten gelesen hat, weiß, wie tief dieser