Ich konnte lange nicht einschlafen, probierte in Gedanken mein Russisch aus, übte Redensarten, von denen ich annahm, daß ich sie nun verwenden könnte. Heute hab ich zum ersten Mal dem Kellervolk kurz gesagt, daß ich etwas Russisch kann; daß unter dem von mir in jungen Jahren abgegrasten Länderdutzend sich auch das europäische Rußland befand.
Mein Russisch ist simpel, ist reine Gebrauchssprache, unterwegs aufgepickt. Immerhin kann ich zählen, kann ein Datum benennen und die Buchstaben lesen. Es wird mir rasch wiederkehren, nun, da Übung winkt. Sprachen sind mir immer angeflogen. Russisch zählend schlief ich schließlich ein.
Ich schlief bis gegen 5 Uhr früh. Hörte dann im Vorraum jemand herumgeistern. Es war die Buchhändlerin, sie kam von draußen, faßte mich bei der Hand, flüsterte: »Sie sind da.«
»Wer? Die Russen?« Ich bekam kaum die Augen auf. »Ja. Soeben sind sie bei Meyer (dem Spirituosenladen) durchs Fenster eingestiegen.«
Ich zog mich fertig an, kämmte mich, während drinnen im Luftschutzraum die Frau ihre Neuigkeit kundtat. In ein paar Minuten war der ganze Keller auf den Beinen.
Ich tappte über die Hintertreppe aufwärts in den ersten Stock, wollte unsere paar Lebensmittel verstecken, soweit sie noch nicht versteckt waren. Ich horchte an der zersplitterten, nicht mehr verschließbaren Hintertür. Alles still, die Küche leer. In der Kniebeuge kroch ich zum Fenster hin. Die morgenhelle Straße lag unter Beschuß, man hörte das Klatschen und Pfeifen der Kugeln.
Um die Ecke biegt russische Vierlingsflak - vier eiserne Giraffen; drohende, turmhohe Hälse. Zwei Männer stapfen die Straße hinauf: breite Rücken, Lederjacken, hohe Lederstiefel. Autos rollen heran, halten am Bordstein. Geschütze rasseln im frühen Tagesschein durch die Straße. Das Pflaster dröhnt. Durch die zerbrochenen Scheiben weht Benzinduft in die Küche.
Ich ging wieder in den Keller zurück. Wir frühstückten wie unter einem Alpdruck. Trotzdem verzehrte ich zum Staunen der Witwe zahlreiche Brotschnitten. Mir kribbelte es im Magen. Es erinnerte mich an das Schulmädel-Gefühl vor einer Mathematik-Arbeit - Unbehagen und Unruhe, und der Wunsch, daß doch schon alles vorüber wäre.
Nachher stiegen wir zusammen aufwärts, die Witwe und ich. In ihrer Wohnung staubten wir ab, wischten, fegten und schrubbten mit unserem vorletzten Wasser. Der Teufel weiß, warum wir uns so plagten. Wahrscheinlich, um die Glieder zu rühren oder um wieder mal vor dem Künftigen ins handfeste Gegenwärtige zu fliehen.
Zwischendurch krochen wir immer wieder ans Fenster. Draußen fuhr ein endloser Troß auf. Pralle Stuten, Fohlen zwischen den Beinen. Eine Kuh, die dumpf nach dem Melker muhte. Schon schlagen sie in der Garage gegenüber ihre Feldküche auf. Zum ersten Mal erkennen wir Typen, Gesichter: pralle Breitschädel, kurzgeschoren, wohlgenährt, unbekümmert. Nirgendwo ein Zivilist. Noch sind die Russen auf den Straßen ganz unter sich. Doch unter allen Häusern flüstert es und bebt. Wer das jemals darstellen könnte, diese angstvoll verborgene Unterwelt der großen Stadt. Das verkrochene Leben in der Tiefe, aufgespalten in kleinste Zellen, die nichts mehr vonein-ander wissen.
Draußen Blauhimmel, wolkenloses Leuchten.
Über Mittag - die Hamburgerin und ich holten eben den zweiten Kessel voll Graupensuppe, die für das ganze Kellervolk in der Backstube beim Bäcker gekocht worden war - fand der erste Feind den Weg in unseren Keller. Ein Bauerntyp mit roten Backen, seine Augen zwinkerten, als er beim Schein der Petroleumlampe das Kellervolk musterte. Zögernd trat er ein, zwei Schritte auf uns zu.
Herzklopfen. Ängstliche halten ihm ihren gefüllten Suppen-teller hin. Er schüttelt den Kopf und lächelt, immer noch stumm.
Da sagte ich meine ersten russischen Worte, krächzte sie, da plötzlich heiser: »Schto wiy shelaitje?« (Was wünschen Sie?)
Der Mann fährt herum, starrt mich verblüfft an. Ich merke, daß ich ihm unheimlich bin. Es scheint ihm noch nicht passiert zu sein, daß eine »Stumme« ihn in seiner Sprache anredet. Denn »Njemze«, soviel wie »die Stummen«, nennt der Russe in seiner Alltagssprache die Deutschen. Vermutlich bereits seit den Zeiten der deutschen Hanse, vor 500 Jahren, als die stumm in Zeichensprache mit ihnen handelnden Kaufleute in Nowgorod und anderswo Tuche und Spitzen gegen Pelze und Wachs eintauschten.
Dieser Russe jedenfalls sagt nichts auf meine Frage; er schüttelt bloß den Kopf. Ich frage weiter, ob er vielleicht etwas zu essen haben will. Da grinst er ein wenig und sagt auf deutsch: »Schnaaps.«
Schnaps? Allgemeines bedauerndes Kopfschütteln. Hier unten gibt es keinen Alkohol. Wer noch etwas hat, der hat es gut versteckt. Der Iwan trollt sich wieder, sucht sich den Rück-weg durch das Labyrinth der Gänge und Höfe. Auf unserer Straße munterer Soldatenbetrieb. Zusammen mit zwei, drei anderen Frauen wage ich mich vor, schaue dem Trubel zu. In unserem Torweg putzt ein junger Kerl ein Motorrad, eine fast neue deutsche Zündappmaschine. Er hält mir den Lappen hin, fordert mich mit Gesten auf weiterzu-putzen. Als ich ihm auf russisch sage, daß ich dazu keine Lust habe, und sogar dazu lache, blickt er mich überrascht an und lacht dann zurück.
Auf dem Fahrweg radeln etliche Russen auf frisch geklauten Rädern. Sie bringen sich gegenseitig das Fahren bei, sitzen so steif auf dem Sattel wie die radfahrende Schimpansin Susi im Zoo, prallen gegen die Bäume und krähen vergnügt.
Ich spüre, wie einige Ängste von mir weichen. Denn schließlich sind ja auch Russen »bloß Männer«, denen man auf irgendeine weibliche Art, mit Listen und Kniffen, beikommen könnte; die man hinhalten, ablenken, abwimmeln kann.
Überall auf den Bürgersteigen Pferde, sie misten und strahlen. Kräftiger Stallduft. Zwei Soldaten wollen von mir wissen, wo die nächste Pumpe sei - die Pferde seien durstig. Zusammen stapfen wir die Viertelstunde weit durch die Gärten. Freundlicher Ton, gutmütige Gesichter. Zum ersten Mal hörte ich die Fragen, die später immer wiederkehrten: »Haben Sie einen Mann?« Wenn man ja sagt, wird weitergefragt, wo er sei. Wenn nein, folgt die Frage, ob man nicht einen Russen »heiraten« wolle. Woran sich plumpes Geschäker schließt.
Anfangs duzten mich die beiden. Ich wies das zurück, sagte, daß ich meinerseits sie ja auch nicht duze. Wir gingen den öden grünen Weg entlang. Über uns flogen im Bogen die Geschosse der Artillerie. Die deutsche Linie liegt zehn Minuten vor uns. Keine deutschen Flugzeuge mehr sichtbar, kaum hört man noch deutsche Flak. Kein Leitungswasser mehr, kein Strom, kein Gas, gar nichts. Bloß Iwans.
Zurück mit den Wassereimern. Die Pferde trinken. Froh sehen die beiden Troßmänner ihnen zu. Ich schlendere so herum, schwatze mit diesem und jenem Russen. Der Mittag geht vorüber, nun brennt die Sonne fast sommerlich heiß. Ich spüre ein fremdes, schwer faßliches Etwas in der Luft, bös und bedrohlich. Manche Kerls blicken so scheu an mir vorbei, tauschen Blicke. Einer, ein junger Mensch, klein und gelb, mit einer Alkoholfahne, verwickelt mich in ein Gespräch, will mich abseits in den Hof locken, weist auf zwei Uhren an seinem haarigen Unterarm, von denen er mir die eine schenken will, wenn ich mit ihm Ich weiche in den Kellergang zurück, drücke mich über den Innenhof, meine schon, ich hätte ihn abgeschüttelt, da steht er plötzlich neben mir und schlüpft mit in unseren Keller. Er taumelt von Balken zu Balken, leuchtet mit einer Stablampe die Kellergesichter ab, wohl vierzig an der Zahl, läßt den Lichtkegel zuckend auf Frauengesichtern verweilen.
Der Keller gefriert. All die Menschen sind wie erstarrt. Keiner rührt sich, keiner spricht. Man hört gepreßte Atemzüge. Nun macht der Lichtkegel bei der Achtzehnjährigen halt, bei Stinchen mit dem weißleuchtenden Kopfverband, die in einem Liegestuhl ruht. Drohend fragt der Russe auf deutsch, wobei er auf das Mädchen zeigt: »Wieviel Jahr?«
Keiner antwortet. Das Mädchen liegt wie aus Stein da. Nochmals brüllt der Russe, rauh und wütend: »Wieviel Jahr?«
Ich antworte hastig auf russisch: »Das ist eine Studentin, sie ist achtzehn.« Ich will noch sagen, daß sie am Kopf verletzt ist, finde die Vokabeln nicht und helfe mir mit dem internationalen Wort kaputt: »Kopf kaputt, von Bomben.«