Nun folgt ein Gespräch zwischen dem Mann und mir, ein hastiges Hin und Her von Frage und Antwort, das aufzu-schreiben sinnlos wäre, weil es sinnlos war. Es handelte von Liebe, von wahrer Liebe, von heißer Liebe, daß er mich liebt, ob ich ihn liebe, ob wir uns lieben wollen. »Vielleicht«, sage ich und bewege mich schrittweise auf die Tür zu. Der Kerl geht mir auf den Leim. Das Kellervolk ringsum, immer noch schreckens-starr, begreift nicht im entferntesten, was hier vorgeht.
Ich schäkere mit flatternden Händen, bringe vor Herzklopfen kaum die paar Vokabeln heraus. Schaue dem Mann in die schwarzen Augen und wundere mich über seine gelben, gelbsüchtigen Augäpfel. Schon sind wir draußen im halbdunk-len Gang, ich tripple rückwärts vor ihm her, er kennt sich in diesem Labyrinth nicht aus, folgt mir. Ich flüstere: »Dort hinüber. Dort sehr schön. Keine Leute.« Noch drei Schritte, zwei Stufen - und wir stehen auf der Straße, mitten in der grellen Mittagssonne.
Ich renne sogleich zu meinen beiden Pferdepflegern, die gerade ihre Gäule striegeln. Ich zeige auf meinen Verfolger: »Das ist aber ein Schlimmer, hahaha!« Der Bursche mißt mich mit einem Giftblick und verdrückt sich. Die Pferdestriegler lachen. Ich schwatze eine Weile mit ihnen und erhole mich dabei. Die Hände beruhigen sich wieder.
Während ich draußen palaverte, war unser Keller von etlichen Helden, die nicht weiter nach Frauen ausschauten, auf Uhren abgesammelt worden. Später sah ich manchen Iwan mit einer ganzen Uhrenkollektion an seinen beiden Unterarmen - mit fünf, sechs Stück, die er fortwährend verglich, aufzog, stellte - mit kindischer und diebischer Freude.
Unsere Ecke ist nun Biwak. Der Troß richtet sich in den Läden und Garagen ein. Die Pferde fressen Hafer und Heu, drollig nicken sie mit den Köpfen aus den zerschlagenen Schaufenstern. Es liegt eine Art Erleichterung in der Luft: Na schön, die Uhren sind futsch. »Woina kaputt«, wie die Russen sagen; für uns ist der Krieg kaputt, aus. Der Sturm rauschte über uns weg, wir sind im Windschatten.
So dachten wir.
Gegen 18 Uhr ging es los. Einer kam in den Keller, Bullenkerl, stockbesoffen, fuchtelte mit seinem Revolver herum und nahm Kurs auf die Likörfabrikantin. Die oder keine. Er jagte sie mit dem Revolver quer durch den Keller, stieß sie vor sich her zur Tür. Sie wehrte sich, schlug um sich, heulte - als plötzlich der Revolver losging. Der Schuß haute zwischen die Balken, in die Mauer, ohne Schaden anzurichten. Darob Kellerpanik, alle springen auf, schreien... Der Revolverheld, offenbar selbst erschrocken, schlug sich seitwärts in die Gänge. Gegen 19 Uhr saß ich mit der Witwe oben in der Wohnung friedlich beim Abendbrei, als Portiers Jüngste mit Geschrei hereingestürzt kam: »Kommen Sie schnell runter, Sie müssen russisch mit denen reden, es sind wieder welche hinter der Frau B. her.« Also wieder die Likörfabrikantin. Sie ist weitaus die Dickste von uns allen, mit gewaltig ausladendem Busen. Man hört schon allgemein, daß sie die Dicken suchen. Dick gleich schön, da mehr Weib, mehr unterschieden vom Mannskörper. Bei primitiven Völkern sollen die Dicken ja als Sinnbild von Fülle und Fruchtbarkeit in Ehren stehen. Da können sie in unserem Land jetzt lange suchen. Gerade die früher so fülligen älteren Frauen sind meistens schrecklich zusammengeschrumpft. Die Likörfabrikantin freilich hat keine Not gelitten. Sie hat den ganzen Krieg hindurch was zum Tauschen gehabt. Nun muß sie ihr ungerechtes Fett bezahlen.
Als ich hinunterkam, stand sie unten in der Haustür, wimmernd und zitternd. Sie ist aus dem Keller herausgerannt, konnte den Kerlen entwischen. Nun traut sie sich nicht in den Keller zurück, traut sich ebensowenig in ihre Wohnung vier Treppen hoch hinauf, da ab und zu von deutscher Seite Artilleriebeschuß. Sie hat auch Angst, daß die Kerle ihr nach oben folgen könnten. Sie krallt sich in meinen Unterarm, so fest, daß man ihre Nägelmale auf meiner Haut sieht, und fleht mich an, ich solle mit ihr zum »Kommandanten« gehen, um eine Eskorte bitten, irgendeine Art Schutz. Ich weiß nicht, was sie sich so vorstellt.
Ich spreche einen Vorüberkommenden mit Achselsternen an, versuche ihm die Angst der Frau zu erklären, wobei ich merke, daß mir die Vokabel »Angst« fehlt. Aber er winkt ungeduldig ab: »Ach was, niemand tut Ihnen was, gehen Sie nach Hause.« Die schluchzende Frau wankte schließlich treppauf. Hab sie seither nicht mehr gesehen, sie muß sich oben verkrochen haben. Ganz gut so. Sie wirkte zu stark als Lockvogel.
Kaum war ich wieder oben, kommt das Portiersmädel, das offenbar zur Botin abgerichtet ist, erneut heraufgerannt. Wieder Männer im Keller. Diesmal wollen sie die Bäckerin, die es ebenfalls fertiggebracht hat, etliches Körperfett über die Kriegs-jahre hinwegzuretten.
Der Meister kommt mir im Gang entgegengewankt, ist weiß wie sein Mehl, streckt mir die Hände entgegen, stammelt: »Die sind bei meiner Frau...« Seine Stimme bricht. Eine Sekunde lang hab ich das Gefühl, in einem Theaterstück mitzuspielen. Unmöglich kann ein bürgerlicher Bäckermeister sich so bewegen, solche Herztöne in seine Stimme legen, so nackt, so aufgerissen wirken, wie ich es bis jetzt nur an großen Schauspielern erlebte.
Im Keller. Die Petroleumlampe brennt nicht mehr, der Stoff ging wohl aus. Beim Flackerschein eines Kerzenflämmchens auf einem mit Talg gefüllten Pappdeckel, einem sogenannten Hindenburglicht, erkenne ich das Kalkgesicht der Bäckerin, den zuckenden Mund... Drei Russen stehen neben ihr. Mal zerrt der eine am Arm der im Liegestuhl daliegenden Frau, mal stößt der andere sie, die hoch will, wieder auf den Sitz zurück. Es ist, als sei sie eine Puppe, ein Ding.
Derweil unterhalten sich die drei Männer sehr schnell miteinander; offenbar streiten sie sich. Ich verstehe wenig, sie reden Slang. Was tun? »Kommissar«, stottert der Bäcker. Kommissar, das bedeutet: irgendeinen, der etwas zu sagen hat. Ich - auf die Straße, die nun entspannt und abendfriedlich daliegt. Beschuß und Brandröte sind fern. Ich treffe ausge-rechnet auf den Offizier, der soeben die Likörfabrikantin abge-fertigt hat, spreche ihn in meinem höflichsten Russisch an, bitte um Hilfe. Er begreift und zieht ein saures Gesicht. Zögernd, unwillig folgt er mir schließlich.
Im Keller noch Schweigen und Starre. Es ist, als seien all diese Menschen, die Männer, Frauen und Kinder, versteinert. Von den dreien bei der Bäckerin hat sich einer inzwischen verzogen. Die beiden anderen stehen immer noch an ihrer Seite und streiten sich.
Der Offizier mischt sich in das Gespräch, ohne Befehlston, von gleich zu gleich. Ich verstehe mehrmals den Ausdruck »Ukas Stalina« - Stalins Erlaß. Dieser Erlaß scheint davon zu handeln, daß »sowas« nicht vorkommen dürfte. Kommt aber natürlich doch vor, wie mir der Offizier nun achselzuckend zu verstehen gibt. Einer der beiden Ermahnten widerspricht. Sein Gesicht ist zornig verzerrt: »Was denn? Wie haben's denn die Deutschen mit unseren Frauen gemacht?« Er schreit: »Meine Schwester haben sie...«, und so fort, ich verstehe nicht alle Worte, jedoch den Sinn.
Wieder redet der Offizier eine Weile ganz ruhig auf den Mann ein. Dabei entfernt er sich langsam in Richtung der Kellertür, hat die beiden auch schon draußen. Die Bäckerin fragt heiser: »Sind sie weg?«
Ich nicke, gehe aber vorsichtshalber noch mal hinaus in den dunklen Gang. Da haben sie mich. Die beiden haben hier gelauert.
Ich schreie, schreie... Hinter mir klappt dumpf die Kellertür zu.
Der eine zerrt mich an den Handgelenken weiter, den Gang hinauf. Nun zerrt auch der andere, wobei er mir seine Hand so an die Kehle legt, daß ich nicht mehr schreien kann, nicht mehr schreien will, in der Angst, erwürgt zu werden. Beide reißen sie an mir, schon liege ich am Boden. Aus der Jackentasche klirrt mir etwas heraus. Es müssen die Hausschlüssel sein, mein Schlüsselbund. Ich komme mit dem Kopf auf der untersten Stufe der Kellertreppe zu liegen, spüre im Rücken naßkühl die Fließen. Oben am Türspalt, durch den etwas Licht fällt, hält der eine Mann Wache, während der andere an meinem Unterzeug reißt, sich gewaltsam den Weg sucht. Ich taste mit der Linken am Boden herum, bis ich endlich den Schlüsselbund wiederfinde. Fest umklammere ich ihn mit den Fingern der Linken. Mit der Rechten wehre ich mich, es hilft nichts, den Strumpfhalter hat er einfach durchgerissen. Als ich taumelnd hochzukommen versuche, wirft sich der zweite über mich, zwingt mich mit Fäusten und Knien an den Boden zurück. Nun steht der andere Schmiere, er flüstert: »Schnell, schnell...«