Da höre ich laute russische Stimmen. Es wird hell. Die Tür ist geöffnet worden. Von außen kommen zwei, drei Russen herein, die dritte Gestalt ist eine Frau in Uniform. Und sie lachen. Der zweite Kerl, gestört, ist aufgesprungen. Beide gehen nun mit den drei anderen hinaus, lassen mich liegen.
Ich kroch an der Treppe hoch, raffte mein Zeug zusammen, schob mich an der Wand entlang zur Kellertür hin. Die war derweil von innen verriegelt worden. Ich: »Aufmachen, ich bin allein, keiner mehr da!«
Endlich tun sich beide eiserne Hebel auf. Drinnen starrt mich das Kellervolk an. Jetzt erst merke ich, wie ich aussehe. Die Strümpfe hängen mir auf die Schuhe herunter, das Haar ist zerzaust, die Fetzen des Strumpfhalters habe ich noch in der Hand.
Ich schreie los: »Schweine ihr! Zweimal geschändet, und ihr macht die Tür zu und laßt mich liegen wie ein Stück Dreck!« Und drehe mich um und will fort. Hinter mir erst Stille, dann bricht es los. Alle reden, schreien durcheinander, streiten sich, fuchteln herum. Endlich ein Entschluß: »Wir gehen alle zusam-men zum Kommandanten und bitten um Schutz für die Nacht.«
So zieht schließlich ein Häuflein Frauen, auch ein paar Männer dabei, in den dämmrigen Abend hinaus, in die laue Luft, die nach Brand riecht, zum Block gegenüber, wo der Kommandant hausen soll.
Stille draußen, die Geschütze schweigen. Im Torweg drüben lagern Gestalten am Boden, Russen. Einer richtet sich auf, als unsere Gruppe naht. Ein anderer murmelt: »Ach, bloß Deutsche«, und dreht sich wieder um. Drinnen im Hof frage ich nach dem Kommandanten. Aus einer Männergruppe, die in der Tür zum Hinterhaus beisammensteht, löst sich eine Gestalt: »Ja, was wünschen Sie?« Ein großer Kerl mit weißen Zähnen, kaukasischer Typ.
Er lacht aber bloß über mein Gestammel und über das armselige Häuflein, das sich hier beschweren will. »Ach was, es hat Ihnen bestimmt nichts geschadet. Unsere Männer sind alle gesund.« Er schlendert zu den anderen Offizieren zurück, wir hören sie halblaut lachen. Ich, zu unserem grauen Haufen: »Es hat keinen Sinn.« Ab - der Haufen zieht in den Keller zurück. Ich mag nicht, mag die Kellerfratzen nicht mehr sehen, steige in den ersten Stock hinauf, zusammen mit der Witwe, die um mich herum ist wie um eine Kranke, leise spricht, mich streichelt, mich beobachtet, daß es mir schon lästig ist. Ich will vergessen.
Ich zog mich im Badezimmer aus, zum ersten Mal seit Tagen, wusch mich, so gut es sich mit dem bißchen Wasser machen ließ, putzte mir die Zähne vor dem Spiegel. Da taucht, lautlos wie ein Geist, plötzlich ein Russe im Türrahmen auf, bleich und zierlich. Er fragt, und zwar auf deutsch, mit leiser Stimme: »Wo - bitte - Tür?« Er hat sich offenbar in die Wohnung verirrt. Ich, starr vor Staunen und im Nachthemd, weise ihm stumm den Weg zur Vordertür, die ins Treppenhaus geht. Darauf er, höflich: »Danke.«
Ich hetze in die Küche. Ja, er ist durch die Hintertür eingedrungen. Der Besenschrank, mit dem die Witwe sie verstellt hatte, ist abgerückt. Eben kommt die Witwe die Hinter-treppe herauf aus dem Keller. Gemeinsam verrammeln wir aufs neue die Hintertür, aber diesmal gründlich. Wir bauen einen Stuhlturm davor und schieben zum Schluß noch das schwere Küchenbüffet heran. Das wird halten, so meint die Witwe. An der Vordertür legt sie wie immer den Riegel vor, schließt doppelt ab. Wir fühlen uns halbwegs gesichert.
Ein winziges Flämmchen flackert auf dem Talg des Hinden-burglichts. Es wirft unsere Schatten groß an die Decke. Die Witwe hat mir das Lager im Wohnzimmer auf ihrem Liegebett gerichtet. Zum ersten Mal seit langer Zeit haben wir die Verdunklungsrollos nicht herabgelassen. Wozu auch? Es wird keine Luftangriffe mehr geben in dieser Nacht vom Freitag zum Samstag, nicht für uns, die wir schon russisch sind. Die Witwe hockt bei mir auf der Bettkante, sie zieht sich eben die Schuhe aus, da - Gepolter, Getöse.
Arme Hintertür, kümmerlich errichtetes Bollwerk. Schon kracht es, die Stühle poltern auf die Fließen. Man hört Gescharr und Geschiebe und viele grobe Stimmen. Wir starren uns an. Durch einen Wandriß zwischen Küche und Wohnzimmer flackert Licht. Nun Schritte im Flur. Jemand stößt die Tür zu unserem Zimmer auf.
Einer, zwei, drei, vier Kerle. Alle schwer bewaffnet, das Automatengewehr an der Hüfte. Sie blicken uns zwei Frauen bloß kurz an, sagen kein Wort. Einer geht sogleich durchs Zimmer zum Schrank, reißt die beiden Schubladen auf, stöbert darin herum, schmeißt die Laden wieder zu, sagt wegwerfend irgendwas und stapft hinaus. Wir hören ihn im Zimmer nebenan stöbern, das früher der Untermieter der Witwe bewohnte, bis er zum Volkssturm mußte. Die drei anderen stehen so herum, tuscheln miteinander, mustern mich verstohlen. Die Witwe ist wieder in ihre Schuhe geschlüpft, sie flüstert mir zu, daß sie hinauflaufen wolle, bei den anderen Hilfe aus den Wohnungen holen... Weg ist sie. Keiner der Männer hindert sie.
Was soll ich tun? Mit einem Mal komme ich mir irrsinnig komisch vor, wie ich da in meinem bonbonrosa Nachthemd mit den Schleifen dran vor drei fremden Kerlen im Bett sitze. Ich halte das nicht mehr aus, muß etwas sagen, etwas tun. Und wieder frage ich auf russisch mein »Schto wij shelaitje?«
Da fahren sie herum. Drei verblüffte Gesichter, gleich geht das Fragen los: »Woher kannst du Russisch?«
Ich sage mein Sprüchlein, erkläre, wie ich quer durch Rußland gereist bin, zeichnend und photographierend, dann und dann. Nun setzen sich die drei Krieger in die Sessel, schieben ihre Gewehre zur Seite und strecken die Beine aus. Wir schwatzen hin und her, immer wieder horche ich zum Flur hin, warte darauf, daß die Witwe mit dem angekündigten Hilfstrupp von Nachbarn zurückkehrt. Man hört aber nichts.
Inzwischen schaut der vierte Bursche wieder herein und verzieht sich dann mit Soldat Nummer drei in unsere Küche. Ich höre sie dort mit Geschirr hantieren. Die beiden anderen schwatzen leise, ich soll offenbar nichts davon verstehen. Eigentümlich verhaltene Stimmung. Es liegt etwas in der Luft, ein Funke fliegt herum, fragt sich, wohin.
Die Witwe bleibt aus. Ich versuche wieder, mit den beiden in den Sesseln unter meiner Steppdecke her Konversation zu machen, doch es kommt nichts an. Schiefe Blicke. Sie rutschen so herum. Nun müßte es eigentlich losgehen, ich weiß es ja aus den Zeitungen, als es noch welche gab: zehnmal, zwanzigmal, was weiß ich. Ich habe Fieber. Mein Gesicht brennt.
Nun rufen die beiden nebenan in der Küche etwas herüber. Die in den Sesseln stehen umständlich auf, schlendern küchen-wärts, dem Rufe folgend. Leise krieche ich aus dem Bett, horche in der Tür eine Weile zur Küche hin, wo anscheinend getrunken wird. Husche dann durch den stockdunklen Flur, schleiche auf nackten Füßen, greife mir im vorbei meinen Mantel vom Haken und ziehe ihn übers Nachthemd.
Vorsichtig öffne ich die Vordertür. Sie ist nun, da die Witwe hinausgegangen ist, bloß eingeklinkt. Ich horche in das schweigsame, schwarze Treppenhaus. Nichts. Nirgends ein Laut oder ein Lichtschimmer. Wo mag die Witwe bloß hingegangen sein? Eben will ich treppauf steigen, da umfaßt mich von hinten im Dunkeln einer, der lautlos hinterdreinschlich.
Riesenpratzen, Schnapsdunst. Mein Herz hüpft wie verrückt. Ich flüstere, ich flehe: »Nur einer, bitte, bitte, nur einer. Meinetwegen Sie. Aber schmeißen Sie die anderen raus.«
Er verspricht es flüsternd und trägt mich wie ein Bündel auf beiden Armen durch den Korridor. Ich ahne nicht, welcher von den vieren es ist, wie er aussieht. Im dunklen, fast gänzlich scheibenlosen Vorderzimmer lädt er mich auf der kahlen, abgedeckten Bettstatt des früheren Untermieters ab. Ruft dann ein paar grobe Stummelsätze in Richtung Küche durch den Gang, klinkt die Tür hinter sich zu und legt sich im Dunkeln zu mir. Ich friere erbärmlich und bitte und bettle, mich doch nebenan ins aufgeschlagene Bett zurückzulassen. Er will nicht, scheint die Rückkehr der Witwe zu befürchten. Erst nach einer halben Stunde, als alles ruhig geblieben, ist er zum Umzug zu bewegen.